Laudatio für Monika Dommann und Fernando Esposito aus Anlass der Verleihung des Zeitgeschichte digital-Preises am 11. November 2021.
Den zweiten Platz teilen sich zwei Beiträge, deren historische Gegenstände sich auf hervorragende Weise ergänzen und spiegeln, denn beide widmen sich der Beschäftigung mit alltäglichen Dingen, die gleichwohl in kulturhistorischem Licht ganz neue Dimensionen gewinnen. Fernando Esposito von der Universität Konstanz untersuchte für das Portal Visual History die Welt der Briefmarken, die trotz ihrer Omnipräsenz bislang unter dem analytischen Radar der Historiker*innen weitgehend durchgeflogen sind. Monika Dommann von der Universität Zürich stellte in der Rubrik „Neu Gelesen“ für die Zeithistorischen Forschungen das Werk M.T.C., das ist eine Abkürzung für „Mechanization takes Command“ von Siegfried Giedion, vor. Die Studie widmete sich den unterschiedlichsten Artefakten der Industrialisierung – und zwar bereits Jahrzehnte bevor die Beschäftigung mit Industriekultur zu einem gesellschaftlichen Modetrend wurde.
Bleiben wir zunächst bei Monika Dommanns Reflexion dieses wegweisenden Werkes eines gelernten Maschinenbauingenieurs, der in Kunstgeschichte promovierte, engen Kontakt zu Walter Gropius pflegte, architekturhistorische Studien betrieb und neben vielem anderen eine Poetik-Gastprofessur in Harvard erhielt. Es ist, als habe Siegfried Giedion viele Leben gleichzeitig führen wollen. Und so ordnete er auch den Inhalt seines Werkes an: Sein Buch M.T.C., so zeigt Monika Domman, löste sich von der Linearität eines Fließtextes; er dachte Text und Bild von Beginn an relational. Die fünfhundert Bilder, die ein Drittel des Buches ausmachen, wirken assoziativ und eigenständig als „picture book“ in Kombination mit der wissenschaftlichen Darlegung. Es war in der Tat eine visuelle Historiographie, die viele Fragen und Zugänge zur heutigen Visual History vorwegnahm.
Die Darstellung von Monika Dommann besticht nicht nur durch die Bildauswahl, die einen mitnimmt in den Prozess der eigenwilligen Buchgestaltung des von ihr untersuchten Autors. Hinzu tritt eine anschauliche Rahmenhandlung, eine Zugfahrt der Autorin durch die Landschaft eines wichtigen Schauplatzes des Buchs, den US-amerikanischen Rust-Belt, die ebenso assoziativ angelegt ist, wie das Werk M.T.C. von Siegfried Giedion selbst. Hierdurch wird den Leser*innen im Online-Format eine besondere Nähe zum Gegenstand vermittelt. Giedions Pionierleistung galt dem Erschließen neuer Quellengattungen, um die er sich vielerorts, bei amerikanischen Firmen oder sogar beim Patentamt in Washington, bemühte, darunter Patentzeichnungen, Warenkataloge und Werbebroschüren. Sein Credo lautete, dass die Schöpfungen der Alltagswelt und der Kunst denselben Prinzipien folgten, wie etwa der Abstraktion.
Das Interesse des US-Amerikareisenden und Trouvaillensammlers galt den vergessenen oder kaum beachteten Werkzeugen und Erfindungen, die den Alltag des modernen Lebens prägten: „Es sind äußerlich bescheidene Dinge, um die es hier geht“, schrieb er, „Dinge, die gewöhnlich nicht ernst genommen werden, jedenfalls nicht in historischer Beziehung. Aber so wenig wie in der Malerei kommt es in der Geschichte auf die Größe des Gegenstandes an. Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne." Diese ebenso schöne wie programmatische Sentenz leitet hervorragend über zu unserem nächsten zweitplatzierten Text, denn in den von Fernando Esposito untersuchten Briefmarken spiegelt sich zwar nicht die Sonne, doch offenbaren sie den aufmerksamen Betrachter*innen zuweilen ganze Weltanschauungen.
„Länder und Meere sind auf Marken nur die Provinzen, Könige nur die Söldner der Ziffern, die nach Gefallen ihre Farbe über sie ausgießen.“ Mit diesen Worten des Briefmarkensammlers Walter Benjamin leitet Fernando Esposito seine Analyse ein, der Satz verweist ebenso auf das ästhetische wie auch das hochpolitische Potential, das mit den winzigen Rechtecken und Quadraten um die Welt ging. Die ganze Ahnengalerie der Menschheit, so Benjamin, sei auf Briefen untergekommen, darunter Waldmenschen und Genies, dazu Griechengötter, Löwen und Giraffen. Der Kunstwissenschaftler Aby Warburg betonte ebenfalls die weltpolitische Funktion der Wertzeichen im Geistesverkehr der menschlichen Welt. Diese „Bilderfahrzeuge“ transportierten die Zeichen der Macht eines Staates als bunte Visitenkarten weit über die Grenzen des Landes hinaus. Zudem bilde ihr Bestand heute ein Archiv der Menschheit: Gingen alle Dokumente verloren, so Warburg, genüge ein vollständiges Markenalbum zur „Total-Reconstruction der Weltkultur im technischen Zeitalter.“
Fernando Esposito untersucht im Portal Visual History nun diese Bilderfahrzeuge hinsichtlich ihrer politischen Ikonografie im „Zeitalter der Extreme“. Er konzentriert sich hierbei auf die symbolische Indienstnahme der Aviatik durch das faschistische Italien. Das Fliegermotiv stand als Symbol für die Erneuerung der Nation, für den Aufbruch des Neuen Italiens. Es signalisierte Heroismus, Liebe zur Gefahr und Technikbeherrschung. Fernando Esposito verleiht mit seinen kunsthistorisch detaillierten Bildanalysen den winzigen Marken die Imposanz von Wandgemälden. Und er lehrt den Leser, wie sich auf wenigen Zentimetern die Konnotationen ganz unterschiedlicher politischer und ästhetischer Strömungen breitmachen und ineinander verschlingen: Von Gabriele D’Annunzios „volare necesse est“ bis hin zur Begeisterung der Futuristen für die „Aeropittura“, die Luftmalerei, die den Kult der Maschine und die Dynamik der Luftfahrzeuge feierte. Von all diesen Motiven zehrte Mussolini, der sich als „primo pilota“ inszenierte. Zugleich zeigt der Autor jedoch auch, wie dem zelebrierten „gefährlichen Leben“ in der Luft bereits das kommende Unheil eingeschrieben war: Denn der Erste Weltkrieg hatte enorme Entwicklungsschübe bei der Luftaufklärung und der Luftfotografie, dem Vorbild der „Aeropittura“ gebracht. Lange bevor das faschistische Italien in Abessinien den Einsatz von Bombern in die Tat umsetzte, trug die Verbreitung des aviatischen Motivs dazu bei, den „Luftkriegsgeist“ der Nation herzustellen, ein „Volk von Fliegern“ zu schaffen und auf den bevorstehenden Krieg durch dessen Ästhetisierung vorzubereiten.
Und hier ergibt sich eine wichtige Parallele zum Text von Monika Dommann: Denn auch sie hebt hervor, dass Siegfried Gidieon in seinem „Mechanization takes Command“ nicht nur den Fortschritt, sondern auch dessen Abgründe in Form der Industrialisierung der Gewalt betonte: Denn „Mechanization takes command“ ist auch die Geschichte der Mechanisierung des Tötens, dargestellt anhand der maschinellen Tierschlachtung, in der „alles so rasch und so geschmeidig in den Produktionsvorgang eingegliedert ist, daß kein Gefühl aufkommt und das Auge kaum festhalten kann, was es sieht“.
Den Texten von Monika Dommann und Fernando Esposito ist es gleichermaßen gelungen, durch ihren originellen und kreativen historischen Blick weit mehr zu sehen und sichtbar zu machen, als das Auge festhalten kann. Wir danken hierfür und sagen „Herzlichen Glückwunsch“ nach Zürich und Konstanz. Die Auszeichnungen als Urkunden kommen coronabedingt leider diesmal nur per Brief. Aber Sie können sicher sein, dass wir sehr sorgfältig und mit Bedacht auswählen werden, mit welcher Art von „Bilderfahrzeugen“ wir diese Post auf die Reise schicken.