Trigger-Warnung: Sexuelle Übergriffe, sexueller Missbrauch, posttraumatische Belastung, Gewalt an Kindern
Die Tänzerin ist nur ein schwarzer Schatten auf einem weißen Tuch, das über die ganze Bühne gespannt ist. Ihre Silhouette dreht sich, springt, fällt auf den Boden, richtet sich wieder auf. Sie tanzt und tanzt, bis plötzlich übergroße schwarze Gestalten auftauchen. Bedrohlich stehen sie da und rennen bald schon auf sie zu, greifen nach ihr, während sich die Tänzerin zu entwinden sucht.
Der Filmtitel „Seven Veils“ bezieht sich auf den Tanz der sieben Schleier, den Salomé in der nach ihr benannten Oper von Richard Strauss aufführt. Die Oper basiert auf der literarischen Vorlage Oscar Wildes. In dieser Inszenierung tanzt Salomé hinter einem weißen Tuch, das die gesamte Bühne abdeckt und nur ihren Schatten projiziert. Atom Egoyans Film verwebt die Geschichte der Protagonistin Jeanine, gespielt von Amanda Seyfried, eng mit der Handlung der Oper – sowohl inhaltlich als auch metaphysisch – und das bis hin zu der Szene des Tanzes. Der aus Ägypten stammende kanadisch-armenische Regisseur, der 1987 ohne sein Zutun Schlagzeilen machte, als Wim Wenders den Preis der Jury für „Himmel über Berlin“ ausschlug und Egoyan zum wahren Sieger ausrief, hat bereits selbst Opern inszeniert. Seine Opern-Expertise bringt er auch in sein Filmprojekt ein.
Eine Ehre wird Protagonistin des Films Jeanine zuteil, als sie auf Wunsch ihres kurz zuvor verstorbenen Lehrers Charles seine Inszenierung der Oper „Salomé“ wiederaufnehmen soll. Übertragen wird ihr diese Aufgabe von keiner geringeren als Charles‘ Ehefrau Beatrice (Lanette Ware), die das Opernhaus managt. Zu ihrer Tochter, ihrer an Demenz erkrankten Mutter und ihrem Ehemann Paul hält Jeanine über Video-Calls Kontakt, während sie in einem gemieteten Haus fernab ihrer Familie lebt. Über die zweite Erzählebene folgt der Film der Figur der Requisiteurin Clea (Rebecca Liddiard), die in Handyvideos aufzeichnen soll, wie sie den abgetrennten Kopf von Johannes dem Täufer modelliert, um einen Einblick hinter die Kulissen der Produktion zu geben. Für die Zuschauer*innen, die nicht firm in der Handlung des Theaterstücks sind, bietet Clea eine Erklärung der Story, die einen niedrigschwelligen Zugang zu den Motiven in „Seven Veils“ ermöglicht.
Die Hauptdarsteller*innen der Salomé und des Johannes sind gerade von einer kontroversen Aufführung des Stücks in Stuttgart zurückgekehrt, die unausgesprochen wie ein Damoklesschwert über der neuen Inszenierung hängt. Obwohl der Film eine Oper und damit vor allem eine Bühneninszenierung zeigt, stört dies kaum, denn in den richtigen Abständen bewegt sich die Szenerie weg von der Bühne und ihren Operndarsteller*innen hin zu den Protagonist*innen der Filmhandlung. Die zahlreichen Charaktere, ihre Verstrickungen miteinander, eine Podcast-Aufzeichnung und ein zweites Videotagebuch, das Jeanine auf Wunsch der Produktionsleitung führt und aus dem immer wieder Zeilen im Overlay zitiert werden, verkompliziert die Abläufe so weit, dass mehrere Ebenen von Theater, Realität, Jetztzeit und Vergangenheit miteinander verschmelzen und so Parallelen zutage treten lassen.
So verband Jeanine mit Charles nicht nur eine professionelle, sondern auch eine Liebesbeziehung. Jeanine vergleicht ihre Anziehungskraft mit der zwischen Narraboth und Salomé, die von Salomés Mutter, der eigentlichen Partnerin Narraboths, missbilligt wird. Ebenso wie Salomé in der Oper singt, dass Johannes der Täufer sie nur anblicken müsste, um ihr zu verfallen, wiederholt auch Jeanine mit Blick auf ihre ehemalige Affäre den Satz: „You’re always looking at her.“ Auch in der aktuellen Inszenierung geht es nicht immer respektvoll zwischen den handelnden Personen zu. Insbesondere Johann im Film gespielt von Michael Kupfer-Radecky sorgt mit seinem aggressiven Verhalten immer wieder für kleine bis große Probleme. Die Johannfigur soll in der Oper Johannes dem Täufer interpretieren.
Die Inszenierung des Stücks weckt zudem traumatische Erinnerungen aus Jeanines Vergangenheit – nicht nur von ihrem ehemaligen Liebhaber Charles, sondern auch von ihrem eigenen Vater. Das Publikum lernt, dass die teilweise sehr explizite Inszenierung von Charles auf intimsten Erinnerungen aus Jeanines Kindheit und Jugend basieren, die sie mit ihm geteilt hat. Sie selbst beschreibt sowohl ihren Mentor und Liebhaber Charles als auch ihren Vater als „besessen“ von dem Stück. Auch ihr eigener Ehemann scheint kaum mehr als Enttäuschungen und Schmerz in ihr Leben zu bringen. Umso mehr Genugtuung kann das Publikum daraus ziehen, dass wenigstens ein Mann schlussendlich für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird.
Obwohl die Inszenierung – so scheint es – von Charles gehörnter Ehefrau Beatrice als Rache für die Untreue ihres Mannes an Jeanine übergeben wurde, um sie noch einmal mit ihrer eigenen von Missbrauch geprägten Jugend zu konfrontieren, geht Beatrices Rechnung nicht auf: Statt klein beizugeben und sich an die Regel zu halten, dass sie keine Änderungen in die Inszenierung einbringen darf, verarbeitet Jeanine ihre Erfahrungen in der Wieder-Aufführung der Oper „Salomé“. Sie eignet sich - im wörtlichen und übertragenen Sinne - die Geschichte an. Die mehrfach wiederholte Phrase „I’ve been asked to make this personal, so I will“, unterstreicht ihren Willen. Dieses Ethos wird auch in Jeanines leidenschaftlich vorgetragenen Regieanweisungen deutlich, bei denen sie die Rollen aus dem eigentlichen Theaterstück in solcher Weise abwandelt, dass sie die Figuren zu Personen aus ihrem eigenen Leben werden lassen.
„Seven Veils“ hat zwar eine Bühnenaufführung im Zentrum des Films, schafft es aber sehr gut, die Handlung auch darum herum stattfinden zu lassen. Die komplexe Verwebung von Filmhandlung und Opernhandlung sowie den verschiedenen Erzählebenen in Podcast und Videotagebüchern hält die Zuschauer*innen bei Laune und präsentiert die Möglichkeit, selbst Verbindungslinien zu ziehen und Motive zu erkennen. Amanda Seyfried spielt eine glaubwürdige Jeanine, die von ihrem Trauma heimgesucht wird und gleichzeitig aus der Negativspirale auszubrechen versucht. Ein paar weniger Charaktere hätten dem Film gutgetan, da man in den zwei Stunden Laufzeit so in viele der kleinen Geschichten nicht tief genug eintauchen kann. Auch das Ende bleibt recht offen, was aber zum subtilen Ton des Films passt, der Aussagen häufig verklausuliert aus dem Off einspielt, statt sie im Film selbst abzuhandeln. Cleas Geschichte wirkt dazu als Gegenstück sehr eindeutig, da sie auch fast alle ihre Aktionen in Dialogen erklärt. Um das Stück sowie den Film zum großen Finale zu bringen, wird ihre Geschichte zum Schlüsselfaktor. Das wirft die Frage auf, ob die Erzählweise von Jeanines Geschichte vielleicht etwas zu verkopft bleibt.
Seven Veils Drehbuch und Regie: Atom Egoyan, Vertrieb: XYZ Films, Produktion: Rhombus Media und Ego Film Arts, Kanada 2023, Laufzeit: 109 Min.