In den Wochen nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 veröffentlichte die Redaktion des Online-Archivs der Israelischen Sozialistischen Organisation auf Facebook eine Erklärung, die die Gruppe bereits 1974 in ihrer Zeitschrift Matzpen, aber auch international publiziert hatte. Anlass war das damalige Massaker im nordisraelischen Ma’alot-Tarschicha vom 15. Mai 1974, für das die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) die Verantwortung übernahm. Nachdem eine 3-köpfige Gruppe palästinensischer Terroristen erst eine junge Familie und zwei Arbeiterinnen in der Stadt ermordeten, besetzten sie schließlich die Netiv Me’ir Grundschule und nahmen 115 anwesende Schüler:innen und Lehrer:innen als Geiseln. Trotz eines Befreiungsversuchs durch israelische Spezialkräfte gelang es den Angreifern noch, mit ihren Kalaschnikows und Sprengfallen 25 Geiseln – darunter 22 Schüler:innen – zu töten und zahlreiche weitere zu verletzten, bevor sie schließlich niedergeschossen wurden. Der Terroranschlag versetzte die gesamte israelische Gesellschaft in einen Schock. Für die israelischen Linken von Matzpen kam indes noch eine ganz eigene Dimension zu.
Matzpen: das hebräische Wort für Kompass, das war auch der Name jener kleinen politischen Gruppierung, die die israelische Gesellschaft nach dem Sechstagekrieg wie kaum eine Zweite in Atem halten sollte. Mit ihrem Ruf nach einem unmittelbaren Ende der Besatzung, vor allem aber ihrer Solidarisierung mit der palästinensischen Bevölkerung und deren Widerstand wurde die 1962 als Abspaltung von der Kommunistischen Partei gegründete Gruppe schnell zum Symbol für nationalen Verrat und jüdischen Selbsthass. Deren Perspektive war allerdings nicht neu: Schon lange vor dem Junikrieg erachtete Matzpen den Konflikt zwischen Arabern und Juden als kolonialen Nationalitätenkonflikt und auf nationalstaatlicher Grundlage für nicht lösbar. Demgegenüber propagierten sie eine sozialistische Revolution im Nahen Osten und kleideten ihre Vision einer zukünftigen gegenseitigen Anerkennung von israelischen Juden und palästinensischen Arabern in die Sprache des Internationalismus. Eine „Entzionisierung Israels und seine Integration in eine sozialistische Nahost-Union“ bildeten das politische Programm von Matzpen, mit dem die Gruppe den nationalen Anliegen der Palästinenser ebenso Rechnung tragen wollte wie eine neue Existenz für das israelische Gemeinwesen in seiner arabischen Umwelt zu begründen beanspruchte. Dafür hatten die Mitglieder auch nach Bündnispartnern unter den Palästinensern und in der arabischen Welt gesucht und schienen in der DFLP, die im Februar 1969 als Abspaltung von der PFLP entstanden war, einen solchen gefunden zu haben. Immerhin hatte die linkssozialistische Organisation als erste Palästinensergruppe eine Perspektive gegenseitiger kollektiver Anerkennung für israelische Juden und palästinensische Araber formuliert und die israelische Linke adressiert. Durch den Terroranschlag von Ma‘alot waren derlei Bekenntnisse nun jedoch Lügen gestraft und die Hoffnungen auf eine gemeinsame Perspektive zu Grabe getragen worden: „Wir wollen offen sein“, erklärte Matzpen deshalb gegenüber dem einstigen Gesprächspartner, „[e]ure Aktion in Ma’alot hat den Hass zwischen den beiden Völkern intensiviert und vertieft.“ Die unterschiedslose Gewalt gegen israelische Bürger:innen habe „die elementarsten moralischen Regeln verletzt“, militärische Gewalt gegen Schulkinder bedeutete den Untergang gegenseitigen Vertrauens. Die Ereignisse von Ma’alot, die „jedes Stück fruchtbaren Bodens in eine Wüste verwandelt haben“, beendeten für Matzpen die Glaubwürdigkeit der Palästinenserorganisation und besiegelten das Ende eines kaum begonnenen Dialogs.
Der Terrorangriff in Ma’alot und die Massaker der Hamas am 7. Oktober unterscheiden sich fundamental. Erschütterte der Angriff der DFLP wegen seiner zivilen Opfer und der praktischen Widerlegung der bisherigeren Programmatik einer gegenseitigen Anerkennung, war das Massaker der Hamas von einem im israelisch-palästinensischen Konflikt ungekannten Ausmaß der Gewalt und seiner genozidalen Botschaft bestimmt. Dem organisierten und gezielten Massenmord israelischer Zivilist:innen und der Verschleppung von ungefähr 250 Geiseln ist eine Symbolik eingeschrieben, die die Lebensrechte der israelisch-jüdischen Bevölkerung schlechthin negiert und zugleich Erinnerungen an den Holocaust wachrufen sollte. Es war der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust. Die erneute Publikation der Erklärung zu Ma’alot im Gefolge des 7. Oktober war deshalb zuvorderst ein Verweis auf die schon damalige Erschütterung und unzweideutige Verurteilung jedes Terrors und der Gewalt gegen die israelische Zivilbevölkerung im Namen des palästinensischen Volkes seitens der Linken. Die Bedeutung der Wiederveröffentlichung reicht indes über eine Aktualisierung der früheren Haltung hinaus. Nach dem 7. Oktober verweist sie auch auf den Graben, der zwischen dem politischen Selbstverständnis der radikalen israelischen Linken einerseits und jener globalen Palästina-Solidarität andererseits entstanden ist, die die Taten der Hamas zum Teil als legitimen Widerstand relativiert und verharmlost, wenn nicht gar unterstützt und feiert.
Das Versagen dieser internationalen Linken, ihr Unvermögen, die Massaker des 7. Oktober als Verbrechen gegen die Menschheit zu verurteilen, die fehlende Benennung seiner spezifisch sexualisierten Dimension sowie die ausgebliebene Empathie mit den Opfern, entführten Geiseln und ihren Angehörigen, wurde vielfach kritisiert und in aller Schärfe verurteilt, ja als Ausdruck einer antijüdischen Haltung charakterisiert.[1] Einen Niederschlag findet dies gegenwärtig sich entladende Ressentiment aber auch in der Verwendung jener Begriffe, die für die israelische Linke zur Beschreibung des israelisch-palästinensischen Konfliktes prägend war – in der neuen globalen Protestbewegung nun aber eine Bedeutungsverschiebung und Anreicherung mit Feindseligkeit erfahren haben: die Rede ist von der kolonialen Form des israelisch-palästinensischen Nationalitätenkonflikts und den Perspektiven seiner Überwindung.[2]
Im Zeitalter der Dekolonisierung wurde vor allem der Algerienkrieg und die der Unabhängigkeit des Landes folgende Flucht von ca. 1 Millionen Algerienfranzosen für die Angehörigen von Matzpen zum Katalysator der beunruhigenden Annahme, dass sich im Schicksal der Algerienfranzosen auch die Lage der israelischen Juden zu spiegeln drohe. „Hin und wieder vergessen wir“, war deshalb in Matzpen zu lesen, „dass unsere Lage sehr ähnlich jener der französischen Siedler in Algerien ist, nur mit dem Unterschied, dass unsere Situation weit weniger angenehm ist. Ihnen stärkte die Metropole den Rücken, die uns aber fehlt.“[3] Derlei Bewusstsein von der eigenen existenziellen Gefährdung bildete einen wesentlichen historischen Hintergrund der Analyse von der kolonialen Form des israelisch-palästinensischen Nationalitätenkonflikts wie der Einsicht, dass auch die israelischen Juden angesichts des zionistischen Anspruchs auf nationalstaatlicher Souveränität innerhalb ihrer arabischen Umwelt als Fremde und Kolonisatoren wahrgenommen würden. Eine Wahrnehmung zugleich, an der alle historischen und religiösen Selbstbegründungen der eigenen Staatlichkeit ihre Überzeugungskraft verloren hatten. Von palästinensischer und arabischer Seite hatten sie jedenfalls keinerlei Anerkennung erfahren. Sich deren Erfahrung und Perspektive wiederum annähernd, betonte Matzpen deshalb, dass dem nationalen Gegensatz zwischen Israelis und Palästinensern als Zusammenstoß einer sich ansiedelnden und auf nationalstaatliche Souveränität zielenden Minderheitengruppierung mit einer vorgefundenen Mehrheitsbevölkerung eine koloniale Form, mithin kaum die Möglichkeit eines Kompromisses eignete: Unabhängig davon, dass die zionistische Bewegung in Europa vor dem Hintergrund des modernen Antisemitismus und als nationale Emanzipationsbewegung einer diasporischen Bevölkerung entstanden war und sich als Rückkehr in die historische Heimat verstanden hatte – im britischen Mandatsgebiet stand ihre Nationsbildung und die damit einhergehende „Umwandlung von palästinensischem Boden in jüdisches Territorium“ (Dan Diner) von Anbeginn im Gegensatz zur lokalen palästinensisch-arabischen Bevölkerung (wenngleich die Idee eines ethnischen Nationalstaats sich erst spät in der zionistischen Bewegung verfestigte und für nationalen Minderheiten lange Zeit Autonomierechte erwogen wurde). Und jenseits der Tatsache, dass die israelische Staatsgründung sowohl als antiimperialistische Erhebung gegen den britischen Mandatar als auch eine Selbstverteidigung gegen die Armeen der Arabischen Liga verstanden wurde – für hunderttausende Palästinenser:innen bedeutete sie Flucht und Vertreibung und führte in die nationale Katastrophe. Und auch wenn sich der junge israelische Staat in seiner Unabhängigkeitserklärung demokratisch und weltoffen definierte – seine Boden- und Sicherheitspolitik war ebenso wie das Staatsangehörigkeitsrecht von einer Privilegierung der jüdischen gegenüber der arabischen Bevölkerung des Landes charakterisiert. Und auch der Umstand, dass sich Israel im Sechstagekrieg 1967 zwar vor einer arabischen Vernichtungsdrohung zu schützen suchte, änderte nichts an der Realität, dass der Krieg zur Eroberung neuer Gebiete, der militärischen Herrschaft über die dortige palästinensische Bevölkerung und dem Beginn einer nicht endenden Besatzung und Besiedlung führte. Erst kürzlich, Ende Juli 2024, erinnerten ehemalige Matzpen-Angehörige im Rahmen der Aufführung „Matzpen-Komitee in Sachen Militärregierung“ im Tel Aviver Tmuna Theater an die frühe Kritik der Gruppe an der israelischen Militärverwaltung der Jahre 1949–1966 und die dem Junikrieg unmittelbar folgende Forderungen nach einem Ende der Besatzung; einer Forderung, die zugleich mit der Warnung vor deren eskalierender Dynamik im Jahrhundertkonflikt begleitet war.[4]
Von einer Anerkennung der historisch vielschichtigen und komplexen Dimensionen des israelisch-palästinensischen Konflikts und seiner Verschränkung mit der jüdischen Existenzerfahrung in der Diaspora war in mancherlei sich postkolonial verstehenden politischen Diskursen schon lange vor dem 7. Oktober nicht mehr viel übriggeblieben. An deren Stelle ist ein theoretisch zwar aufgeladener, aber ahistorischer und moralisierender Diskurs getreten, der schon allein deshalb Ressentiments in sich trug. Der spezifischen historischen Situation entkleidet, finden sich Zionismus und die zionistische Bewegung hier nicht nur in Deutungen einer globalen color-line – als Gegensatz zwischen „weißem Siedlungskolonialismus“ und „globalem Süden“ – eingebettet, sondern zugleich in eine manichäische Weltsicht, die nur noch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Tätern und Opfern, Kolonisatoren und Kolonisierten kennt. „Zionismus ist Rassismus“, „Zionismus ist Faschismus“ lauten dementsprechend die Parolen, die keine historischen Konstellationen, sondern nur böse Intentionen kennen wollen. Schien in derlei Deutungen schon vor dem 7. Oktober eine direkte Linie von der Entstehung der zionistischen Bewegung zu einer siedlerkolonialen „elimination logic“ (Patrick Wolfe) zu führen, spitzen sich angesichts der erschreckenden Zahlen ziviler Toter im auf den 7. Oktober folgenden Gazakrieg alle Anklagen gegen Israel auf den Vorwurf eines intendierten Genozids zu. Und während in diesem Zusammenhang die „Besetzung Palästinas“ bereits früher – aller vielerorts bedrückenden Weltlagen zum Trotz als „der größte moralische Skandal unserer Zeit“ (Achille Mbembe) bezeichnet wurde, verschaffen sich in der Protestbewegung nun Stimmen einer weltanschaulich aufgeladenen und religiös gefärbten Erlösungsphantasie Geltung, in denen die „Befreiung Palästinas“ gleichsam von der Befreiung der Menschheit kündet: „Palestine will set us free“ – war etwa auf Flugschriften in Berlin oder Den Haag zu lesen, um Israel – weit über den realen Konflikts am Ort hinaus – als das Hindernis auf dem Weg zu universeller Befreiung zu identifizieren.
Untergegangen ist in einer solch religiös gefärbten und historisch traditionellen Erlösungsphantasie damit auch jener Erwartungshorizont einer gemeinsam jüdisch-arabischen, israelisch-palästinensischen Zukunft, der für die israelischen Linken von Matzpen den Ausgangspunkt ihrer politischen Kritik und des damit verbundenen Veränderungswillens bedeutet hatte. Immerhin zielte die Abwendung der israelischen Linken von der zionistischen Vergangenheit und Gegenwart ihres Gemeinwesens nicht allein auf eine Korrektur des gegenüber der arabischen Bevölkerung Palästinas begangenen Unrechts und die Ermöglichung von deren nationaler Selbstbestimmung. Getragen war sie zugleich von dem drängenden Anliegen, das eigene Gemeinwesen mit einer neuen Legitimität zu versehen, die nicht mehr mit dem Makel der Einseitigkeit versehen, sondern gleichsam universelle Geltung besaß – und deren Anerkennung deshalb auch von den Anderen – den Arabern Palästinas – zu beanspruchen und einzufordern war. „Die Lösung des Palästina-Problems muss nicht nur das den Palästinensern angetane Unrecht wiedergutmachen, sondern auch die nationale Zukunft der hebräischen Volksmassen absichern“, hieß es entsprechend in einer der bedeutendsten Matzpen-Erklärungen vom 18. Mai 1967. Daran hatte die Gruppe zukünftig die Programmatik und das Handeln der unterschiedlichen palästinensischen Organisationen gemessen.
Nach dem 7. Oktober ist der Niedergang dieser Perspektive gegenseitiger Anerkennung innerhalb der globalen Palästina-Solidarität auf erschreckende Weise offenbar geworden. Die wiederkehrende Verwendung von Hamas-Symbolen und das Ausbleiben wahrnehmbarer Distanzierungen kontaminieren gleichsam den gesamten Protest. Eine quasi-theoretische Legitimation suchte sich die Umdeutung der Massaker zum legitimen Widerstand zudem in der global zirkulierenden Parole „Decolonization is not a metaphor“ zu geben. Entließ deren wiederkehrende Verwendung die palästinensischen Organisationen in ihrem politischen und militärischen Handeln aus jedweder universell gültigen rechtlichen und moralischen Verantwortung, zielte die darstellerische Reduktion der israelischen Gesellschaft auf den Begriff „settler colonialism“ zugleich auf die absolute Delegitimierung jüdisch-israelischer Existenz und die Verweigerung eines israelischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung vor Ort. Auch der Boykott-Aufruf der BDS-Bewegung gegen die israelische Organisation Standing Together, die als Bewegung der jüdisch-arabischen Zivilgesellschaft in Israel eine gegenseitige und gleichberechtigte Anerkennung vorwegzunehmen und politisch zu erwirken sucht, ist Ausdruck jener Verschiebung, die nach dem 7. Oktober zugleich dem Ruf „From the river to the sea – Palestine will be free“ eingeschrieben ist. Schien bei dessen Verwendung vorher noch eine Deutungsvielfalt gegeben – Freiheit im Sinne individueller und kollektiver Gleichberechtigung versus einer Freiheit Palästinas ohne Israel und seine jüdische Bevölkerung – hat sich dieser Interpretationsspielraum nach den Massakern auf schreckliche Weise auf letztere Deutung verengt. Ihren visuellen Ausdruck findet diese Zuspitzung in Landkarten Palästinas bzw. Eretz Israels (das Cisjordanien des ehemaligen britischen Mandatsgebiets), die allein in palästinensischen Nationalfarben eingefärbt sind. In dem damit korrespondierenden bösen Ruf auf den Straßen von Malmö und New York, Jüdinnen und Juden sollen nach Polen zurückkehren, verbirgt sich indes mehr als jene gewaltsame Dekolonisierungsfantasie: als Forderung nach einer Rückkehr in jenes Land, dem nicht nur die Mehrheit der europäischen Judenheiten entstammte, sondern in dem ein Großteil von ihnen von Deutschen ermordet wurde, ist sie ein Angriff auf die jüdische Geschichtserfahrung und die Erinnerung an die Katastrophe des Holocaust.
Für die israelischen Linken von Matzpen stand der Holocaust nicht im Zentrum ihres Selbstverständnisses – und das nicht allein angesichts der bedrängenden Gegenwart des Palästinakonflikts. Als „post-zionistische Kinder des Zionismus“ waren sie einer politischen Kultur des Landes, des hebräischen Jischuws und späteren Israels der 30er, 40er und 50er Jahre entsprungen und hatte ihr hebräisch-kulturelles Selbstverständnis sie auf Abstand zur jüdischen Katastrophe und deren Bedeutung gehalten. Verstärkt fand sich diese Umgehung des Holocaust wiederum durch den Anschluss an den Zukunftshorizont des sozialistischen Internationalismus und dessen Versprechen einer universalistischen Überwindung der jüdischen Frage, den die israelischen Linken zwar von der jüdischen Arbeiterbewegung Ostmitteleuropas geerbt hatte – der für deren Angehörige nach Auschwitz aber auf tragische Weise widerlegt war.
Grundlegend unterschieden ist jene kulturelle wie generationelle Distanz gegenüber der Bedeutung und Wirkung der Massenvernichtung damit aber auch von jenem Angriff auf die Erinnerung an den Holocaust, der zu den wiederkehrenden Begleitgeräuschen der gegenwärtigen Protestbewegung gehört. „Free Palestine from German Guilt“ – die Parole aus Kassel, die schon unmittelbar nach dem 7. Oktober auf den Straßen Berlins zu hören war – ist schließlich nicht allein eine Wendung gegen die deutsche Staatsräson. Ihr Fundament hat sie vielmehr in der aktiven Verleugnung des historischen Umstands, dass über Israel „nicht die Glorie Herzls […], sondern der traumatisierende Schatten Hitlers“ schwebt (Eike Geisel) und der Staat, dessen Institutionen zwar auf die zionistische Bewegung zurückgehen, zugleich zum Refugium für die Überlebenden des von NS-Deutschland verübten Holocaust (und später auch der vor Verfolgung und Vertreibung geflohenen Juden aus der arabischen Welt) geworden ist. Die Reduktion des Landes, seiner Geschichte und Bevölkerung, auf die kolonialen Anteile des Nationalitätenkonflikts, die in dem agitatorischen –Ismus vom Siedlungskolonialismus zum Ausdruck kommt, will von der Wirkung des Zivilisationsbruchs auf die überlebenden Jüdinnen und Juden und die Erosion aller universalistischen Emanzipations- und Zukunftsversprechen durch den Holocaust jedenfalls nichts mehr wissen; einer Erosion, die ihren Niederschlag eben in der Bindung eines Großteils der Juden an Israel findet. Dass diese aggressive Verdrängung des historischen Konnex zwischen Holocaust und israelischer Staatsgründung in einzelnen Fällen auch zur Schändung von Denkmälern und Mahnmalen für dessen Opfer geführt hat, macht die Frage fast überflüssig, ob die gegenwärtige Protestbewegung allein von der Solidarität mit den Palästinenser:innen getragen ist oder sich hier zugleich Formen der Judenfeindschaft Ausdruck verschaffen.
Eine Politik im Sinne einer besseren Zukunft für die Palästinenser:innen – auch und gerade angesichts der andauernden humanitären, ja existenziellen Katastrophe im Gazastreifen, aber auch mit Blick auf die eskalierende Siedlergewalt und Rechtlosigkeit in der Westbank – ist von einer solchen Haltung ohnehin nicht zu erwarten. Denn wenngleich Israel als souveräner Staat für das eigene militärische Handeln und die Opferzahlen im Gazastreifen in Verantwortung steht, bedeutete die fehlende Distanzierung des globalen Protests von der Hamas auch die stillschweigende Akzeptanz von deren willentlicher Opferung der eigenen Bevölkerung. Demgegenüber zeigt gerade die Geschichte der israelischen Linken, dass deren Ringen um innerisraelische Selbstkritik und eine jüdisch-arabische Zukunftsperspektive auch mit Stimmen innerpalästinensischer und innerarabischer Kritik verbunden war – Stimmen mithin, die durch die Hoffnung auf eine gemeinsame und geteilte Zukunft verbunden waren: Davon zeugt nicht nur das Gespräch, das Moshé Machover von Matzpen im Herbst 1975 mit dem Londoner PLO Repräsentanten Said Hammami führte und in dem sich Letzterer entschieden und unzweideutig von jedem palästinensischen Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung distanzierte. Auch mit der Zeitschrift Khamsin. Revue des socialistes révolutionnaire du Proche-Orient – in der sich neben den Angehörigen von Matzpen so prominente Vertreter:innen arabischer Selbstkritik wie Sadik J. Al-Azm, Lafif Lakhdar, Leila S. Kadi aber auch Kenan Makiya wiederfanden –, war diese Verbindung sichtbar geworden. Auch heute gibt es derartige Stimmen innerarabischer und innerpalästinensischer Selbstkritik, deren entschiedene Verurteilung der Verbrechen des 7. Oktober sich mit der Suche nach Sicherheit und Frieden für beide Kollektive vor Ort verbindet: Sie reichen von vereinzelten palästinensischen, arabischen und muslimischen Publizisten – etwa dem Aufruf des britisch-palästinensischen Schriftstellers und Musikers John Aziz gegen den Terror der Hamas und für einen ebenso friedlichen wie pragmatischen Weg zu einer Zweistaatenregelung, den Erklärungen des Global Imams Council oder der Warnung des britisch-indischen Schriftstellers und Aufklärers Salman Rushdie vor einem palästinensischen Hamas-Staat – über Standing Together innerhalb der jüdisch-arabischen israelischen Zivilgesellschaft bis zum Auftreten des Parlamentariers Ayman Odeh innerhalb der israelischen Knesset. Dessen unzweideutige Verurteilung der Verbrechen der Hamas, ebenso wie dem Beharren auf der unverrückbaren Faktizität, dass weder die 7 Millionen jüdischen Israelis noch die 7 Millionen palästinensischen Araber das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer zukünftig verlassen werden, sondern deren jeweilige Existenz den Ausgangspunkt für alle politischen Zukunftsentwürfe im Rahmen einer Zweistaatenregelung und der Garantie jüdischer wie palästinensischer Kollektivrechte bildet, war indes weniger ein Fingerzeig in Richtung der arabischen Israelis und der palästinensischen Bevölkerung in Westbank, Gaza und der Diaspora. Gerichtet waren sie vor allem gegen die rechtsradikalen Stimmen in der gegenwärtigen israelischen Regierung, von denen vereinzelt Fantasien einer kollektiven Umsiedlung aus dem Gazastreifen vorgebracht wurden (die sich später gar zu Bezalel Smotrichs Imagination einer Aushungerung der Bevölkerung des Küstenstreifens zuspitzten), aber auch gegen die eskalierende Siedlergewalt in der besetzten Westbank. Auch das gehört zur Eskalation der Gegenwart. Gerade angesichts aller politischen und militärischen Dynamiken, die mit dem 7. Oktober ihren Ausgang genommen haben, bleiben die Stimmen von gegenseitiger Anerkennung und gemeinsamer Zukunftsperspektiven dringend notwendig. Nur auf dieser Grundlage wird es möglich sein, Wege zu einer politischen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu finden; nur so werden aber auch gemeinsame Formen des Umgangs und des Sprechens über die neuen kollektiven Traumata auszubilden sein, die mit den Terrormassakern der Hamas einerseits und der dramatischen Anzahl ziviler Kriegstoter und neuen Flucht- und Umsiedlungserfahrungen innerhalb des Gazastreifens andererseits verbunden sind. Von Positionierungen wiederum, die vor der Perspektive einer gegenseitigen Anerkennung ausweichen, sie nicht zur Voraussetzung ihres eigenen Denkens und Handels machen, bleibt nichts – jedenfalls nichts Gutes – zu erwarten.
[1] Prägnant und moralisch fundiert hat Eva Illouz dieses Versagen in ihren vielfältigen Texten beschrieben. Vgl. aber auch den Band: Klaus Bittermann, Tania Martini (Hg.), Nach dem 7. Oktober, Berlin 2024.
[2] Auf diese Bedeutungsverschiebung des Begriffs hat zuletzt auch Avner Ofrath in seinem in vielerlei Hinsicht erhellenden Beitrag Anatomie der Gewalt, Merkur Mai 2024, 5–18, bes. 12–14 hingewiesen.
[3] Oded Pilavsky, Veröstlichung, in: Matzpen 23 (1964), 6 (hebr.), vgl. auch Lutz Fiedler, Matzpen. A History of Israeli Dissidence, Edinburgh 2022, 102–138.
[4] Hilo Glazer, What the veterans of a radical Israeli anti-Zionist group believe now (19 Juli 2024).