Erst im Februar 2020 erkannte der Deutsche Bundestag die Menschen, die von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt, interniert und ermordet wurden, offiziell als NS-Opfer an. Bei den Bezeichnungen des „Asozialen“ und „Berufsverbrechers“ handelt es sich um stigmatisierende Sammelbegriffe für unterschiedliche Personen, Frauen wie Männer, die nicht in das nationalsozialistische Bild der „Volksgemeinschaft“ passten oder mehrfach straffällig wurden, darunter Fürsorgeempfänger*innen, Obdachlose und Prostituierte. Mit rechtsstaatlichen Prinzipien hatte die Verfolgung nichts zu tun. Bestandteil des oben genannten Bundestagsbeschlusses war die Konzeption einer Wanderausstellung, die diese bis heute verleugneten Opfergruppen in das öffentliche Bewusstsein rücken soll. Vier Jahre später ist es nun endlich so weit. Am 10. Oktober 2024 wurde die Ausstellung „Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945 – Heute“ feierlich in Berlin eröffnet. Ein erinnerungspolitischer Meilenstein. Konzipiert wurde die Ausstellung in einer Kooperation der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Im Gespräch mit Peter Bratenstein und Lasse Gräf spricht Julia Hörath über die Stärken und Schwächen der Ausstellung, deren erinnerungspolitische Bedeutung und was in Zukunft noch geschehen muss. Sie selbst hat zur Verfolgung der Opfergruppen promoviert und war maßgeblich daran beteiligt, dass der Bundestagsbeschluss 2020 zustande kam. Als Teil des Initiativbeirats hat sie die Ausstellungsmacher*innen beraten, war aber nicht unmittelbar an der Konzeption beteiligt. Seit 2024 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.
zeitgeschichte|online: Inwiefern stellt die Eröffnung der Wanderausstellung „Die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945 – Heute“ einen wichtigen erinnerungspolitischen Schritt dar?
Julia Hörath: Die Ausstellung befasst sich mit zwei verfolgten Gruppen, den sogenannten „Asozialen“ und den „Berufsverbrechern“, die jahrzehntelang aus der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen verdrängt worden sind. Und auch die wissenschaftliche Aufarbeitung zur Verfolgungsgeschichte dieser beiden Gruppen setzte sehr spät ein. Es gab eine erste Welle Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre und dann eine zweite Welle ab ca. 2010. Etwa zeitgleich mit der zweiten Welle gab es außerdem erste erinnerungspolitische Schritte: einzelne lokale Gedenkveranstaltungen, organisiert von sozialpolitisch engagierten Gruppen, erste Stolpersteinverlegungen oder auch die Integration der beiden Verfolgtengruppen in die Dauerausstellungen der KZ-Gedenkstätten.
Aber erst im Februar 2020 kam es zur offiziellen Anerkennung der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ als NS-Opfer. In diesem Zusammenhang verpflichtete sich der Deutsche Bundestag, diese beiden Opfergruppen, und das zitiere ich jetzt, „stärker in das öffentliche Bewusstsein [zu] rücken und ihnen einen angemessenen Platz im staatlichen Erinnern [zu] verschaffen.“ Die Ausstellung ist der erste große, wichtige Schritt zur Umsetzung dieses Beschlusses, dem aber weitere Schritte folgen müssen.
zeitgeschichte|online: Kommen wir zur inhaltlichen Konzeption der Ausstellung. Warum werden hier die individuellen Erfahrungen der als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgten Menschen ins Zentrum gestellt?
Julia Hörath: Zunächst ist zu betonen, dass die umfassende Einbeziehung der Opferperspektive bei der Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen seit vielen Jahren Standard in KZ-Gedenkstätten und ähnlichen Einrichtungen, die sich mit der NS-Geschichte befassen, ist. Gerade bei den als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bzw. „Berufsverbrecherinnen“ stigmatisierten und verfolgten Menschen scheint mir diese Opferperspektive aus mehreren Gründen geradezu geboten.
Der erste Grund wäre, dass es durch die lange Verdrängung der Verfolgten aus dem öffentlichen Gedenken ungeheuer wichtig ist, erst mal die Menschen und ihre Geschichten in den Blick zu rücken. Der zweite Grund hängt mit der Verfolgungskategorie der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ zusammen. Es handelt sich bei diesen Begriffen um eine rein nationalsozialistische Fremdzuschreibung. Niemand bezeichnet sich und versteht sich selbst als „asozial“ oder als „Berufsverbrecher“ bzw. „Berufsverbrecherin“. Gerade deswegen ist es so wichtig, die stigmatisierenden Zuschreibungen der Nazis zu durchbrechen und zu zeigen, was für Menschen das waren und wie heterogen diese Verfolgtengruppen gewesen sind. Damit hängt ein dritter, sehr zentraler Punkt zusammen. Von vielen der Verfolgungsopfern haben wir nur Quellen der Verfolgungsbehörden, das heißt Polizeifotos, Fürsorgeberichte, Gerichtsurteile. Diese Quellen geben uns natürlich Auskunft über die sozialrassistische Ideologie der Nationalsozialisten, aber eben kaum über die Betroffenen und ihre Selbstwahrnehmung. Ganz im Gegenteil, wenn man diese Quellen benutzt, läuft man eigentlich ständig Gefahr, diese Vorurteile zu reproduzieren. Ich glaube, das ist ein großer Verdienst der Kurator*innen dieser Ausstellung, dass sie es geschafft haben, so viele Selbstzeugnisse von Verfolgten zusammenzutragen.
Gleichwohl hat dieser biografische und opferzentrierte Ansatz natürlich auch Nachteile. Am auffälligsten ist hier, dass bei der Ausstellung struktur- und institutionengeschichtliche Fragen in den Hintergrund treten. Ich hätte mir schon gewünscht, dass die Besucherinnen und Besucher zum Beispiel mehr über die großen Massenmassenrazzien 1933, 1937 und 1938 erfahren. Kaum jemand hat von der sogenannten „Bettlerrazzia“ 1933 gehört, von der Verhaftungsaktion gegen sogenannte „Berufsverbrecher“ 1937 oder von der sogenannten „Aktion Arbeitsscheu Reich“ im April und Juni 1938. Ein zweiter Aspekt, den man stärker hätte betonen können, ist die Aushöhlung des Rechtssystems durch die Einführung von „Schutzhaft“, „Vorbeugungshaft“ und „Sicherungsverwahrung“. Gerade die Aufarbeitung der Verfolgung von Angehörigen sozialer Randgruppen und Mehrfachstraftäter*innen könnte einen wichtigen Beitrag leisten, die Demokratieerziehung durch ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung von rechtsstaatlichen Verfahrensweisen zu ergänzen.
zeitgeschichte|online: Nun stellt die Ausstellung einen unmittelbaren Gegenwartsbezug her. Halten Sie das für wichtig und richtig?
Julia Hörath: Ich würde da zunächst mal unterstreichen, dass die Ausstellung ganz bewusst vermeidet, Kontinuitäten zwischen den Opfern sozialrassistischer Verfolgung des Nationalsozialismus und heutigen Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung oder auch staatlichen Repressionsmaßnahmen herzustellen. Ich glaube, das ist wirklich wichtig, weil es immer zu einer Relativierung und Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen führen würde, wenn man solche Kontinuitäten zwischen gestern und heute herstellt. Was ich aber ebenfalls für richtig halte, ist das Aufzeigen von Kontinuitäten, mit denen die von der NS-Verfolgung Betroffenen konfrontiert waren. Das tut die Ausstellung zum Beispiel, indem sie aufzeigt, dass Repräsentant*innen der Polizei, Wohlfahrts- und Gesundheitsbehörden nach 1945 im Amt blieben, sodass bisweilen dieselben Personen im und nach dem Nationalsozialismus über Anträge auf Fürsorgeunterstützung oder Vormundschaftsfragen entschieden. Gelungen finde ich außerdem die Thematisierung von aktuellen Formen sozialer Ausgrenzung und auch von Mechanismen staatlich gestützter Reproduktion von Armut im letzten Teil der Ausstellung.
Problematisch finde ich hingegen, dass im ersten Teil der Ausstellung doch an einigen Stellen sehr ausführlich auf Zeugnisse aus der Zeit nach 1945 zurückgegriffen wird, um die Lebensrealität der von der NS-Verfolgung Betroffenen und ihre Ausgrenzungserfahrungen zu verdeutlichen. Da wäre es meines Erachtens aussagekräftiger gewesen, den Alltag Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre und seine Phänomene, wie die massenhafte Arbeitslosigkeit und die damit verbundene mobile Arbeitssuche, zeitgenössisch als „Wanderarmut“ bezeichnet, in den Mittelpunkt zu stellen. Man hätte aber wahrscheinlich den Preis zahlen müssen, dass man das biografiezentrierte Narrativ an einigen Stellen hätte aufgeben müssen. Ich vermute, das war der Grund, warum die Entscheidung anders ausgefallen ist.
zeitgeschichte|online: Wir haben schon vereinzelt über die Stärken, aber auch Grenzen dieser Ausstellung gesprochen. Können Sie diese noch einmal aus Ihrer Sicht kurz zusammenfassen?
Julia Hörath: Der Kernpunkt ist tatsächlich der opferzentrierte Ansatz, der aus den bereits genannten Gründen einerseits unerlässlich war, andererseits aber eben auch einige strukturelle und institutionengeschichtliche Leerstellen erzeugt. Eine Stärke, die mit dem opferzentrierten Ansatz zusammenhängt und die ich hervorheben möchte, ist, dass den Stimmen der Angehörigen in der Ausstellung und bei der Eröffnung so viel Raum gegeben worden ist. Diese Stimmen bringen auch für mich als Wissenschaftlerin, die sich seit vielen Jahren mit der Thematik befasst, neue Perspektiven in den Diskurs. Ich merke bei mir selbst, dass das neue Denkprozesse anstößt und auch Fragen in einem anderen Licht erscheinen lässt. Das finde ich enorm bereichernd und wichtig.
Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Ausstellung klarer die Entwicklungen in den Blick nimmt, mit denen der Weimarer Wohlfahrtsstaat ins Autoritäre und dann ab 1933 zunehmend ins Terroristische abglitt. So hätte die Ausstellung mehr für die Risiken sensibilisieren können, die aus einer Sozialpolitik resultieren, die die Verantwortung für soziale Ungleichheit auf den Einzelnen abwälzt, und aus einer Kriminalpolitik, bei der die Güterabwägung zwischen präventivem Gesellschaftsschutz und individuellen Grund- und Freiheitsrechten einseitig zugunsten des Präventionsgedankens ausfällt.
zeitgeschichte|online: Wir kommen schon zur letzten Frage: Was wünschen Sie sich, was durch und über diese Ausstellung hinaus in Zukunft passiert, sowohl in der Forschung als auch gesamtgesellschaftlich?
Julia Hörath: Momentan ist mir ganz wichtig, dass die Ausstellung die Aufmerksamkeit bekommt, die ihr gebührt, was im Moment noch nicht geschehen ist. Die Berichterstattung über die Ausstellungseröffnung fand ich sehr dünn, um nicht zu sagen dürftig. Da müsste mehr passieren und ich hoffe darauf, dass in der nächsten Zeit mehr berichtet wird. Außerdem hoffe ich, dass durch den Bundestagsbeschluss und die Ausstellung das Gedenken an die verleugneten Opfer tatsächlich stärker im deutschen Erinnerungsdiskurs verankert wird und, dass die Ausstellung, die als Wanderausstellung konzipiert ist, wenn sie an anderen Orten gezeigt wird, dort um regionale Module erweitert wird. Dabei wäre die Idee, dass lokale Initiativen dazu anregt werden, sich mit ihrer Lokalgeschichte auseinanderzusetzen, diese aufzuarbeiten und auch in die Öffentlichkeit zu tragen.
Zusätzlich wäre es im Hinblick auf die Verankerung in der Erinnerungskultur wichtig, starke Signale zu setzen. Zum Beispiel, dass der Bundestag irgendwann einen 27. Januar, den Holocaust Gedenktag, zum Anlass nimmt, auch diesen beiden Opfergruppen im Bundestag zu gedenken. Ebenso relevant wäre die im Bundestagsbeschluss verankerte Forschungsförderung, die bislang nicht eingelöst worden ist. Wünschenswert wäre zum Beispiel ein Stipendienprogramm. Es ist aber auch denkbar, dass man einen Forschungsverbund ins Leben ruft. Was ich sehr wichtig finde, wäre ein Datenbank-Projekt, welches versucht, die sehr verstreuten und dezentralen Quellen zusammenzuführen, um einen Überblick über Haftwege oder die quantitativen Dimensionen der Verfolgung zu bekommen. Last but not least wäre für die Angehörigen die Errichtung eines Erinnerungszeichens sehr wichtig. Ich würde mir wünschen, dass darüber ein gesellschaftlicher Diskussionsprozess angestoßen wird.