Der Film September 5 – The Day the Terror went live erinnert an die dramatische und letztlich tödliche Geiselnahme israelischer Sportler und Trainer durch den palästinensischen „Schwarzen September“. Dieses Ereignis reiht sich ein in die lange Serie von Attentaten, Geiselnahmen, tödlichen Angriffen und Kriegen, die allgemein unter dem Begriff Nahost-Konflikt zusammengefasst werden. Regisseur Tim Fehlbaum ging es in seiner Konzeption nicht um die dramatische und minutiöse Darstellung des Terroraktes, der sich mitten im olympischen Dorf in München abspielte.[1] Fehlbaum ging es um das Stück Mediengeschichte, das an diesem Tag geschrieben wurde.
Die Olympischen Spiele 1972 als Mediengeschichte
Die Olympischen Spiele von 1972 in München waren die ersten Spiele, die nicht nur über die Zweitverwertung der Bilder in Sport- und Nachrichtensendungen vermittelt wurden, sondern bei denen man live vor dem Fernseher die Wettkämpfe verfolgen konnte. Es war der Beginn des Mediengroßereignisses Olympiade, das aus heutiger Sicht selbstverständlich ist. Das Olympia-Attentat ist in diesem Film zwar der rote Faden, dem die Dramaturgie und die Handlung folgen, jedoch dient dieses schreckliche Ereignis auch als Hintergrundstory zur Mediengeschichte, die erzählt wird.
Die Münchener Spiele von 1972 sind die ersten Spiele, die live übertragen werden und für die Sportreporter:innen, Cutter:innen oder Regieassistent:innen ist das schon für sich genommen ein bewegendes Ereignis. Durch die Geiselnahme der terroristischen Palästinenser werden die Sportberichterstatter:innen plötzlich zu Akteur:innen der news coverage. Der Mechanismus funktioniert weiter, alle Beteiligten gehen geschäftig, diszipliniert und verantwortungsvoll ihrem Job nach. In kurzen Sequenzen wird deutlich, dass es aber für Menschen, die normalerweise vom und über den Sport berichten, moralisch-ethische Fragen gibt, die sie aufgrund der politischen Dimension herausfordern: Was dürfen wir zeigen? Bleiben wir mit der Kamera auf dem Geschehen, wenn eine Geisel erschossen wird? Wer kann die wichtigsten Informationen zum politischen Hintergrund liefern? Wer sind die Geiseln?
Besonders den Verantwortlichen ist sehr bewusst, dass sie einem historischen Moment beiwohnen. Das wird im Film anhand der ständigen Verhandlungen gezeigt, die der legendäre Fernsehmanager Roone Arledge über die verfügbare Sendezeit führen muss. Ebenso verhandelt der Film die bis heute in Bezug auf terroristische Ereignisse relevante ethische Frage: Wessen Story ist das – die der Berichterstattung oder die der Terroristen? Nutzen die Terroristen die Nachrichten, um ihre Botschaft weltweit verbreitet zu wissen? Wie verhält sich das aufmerksamkeitsökonomische Spannungsverhältnis zum legitimen, öffentlichen Interesse? Diese Fragen werden im Film nicht beantwortet. Das ist auch nicht möglich, weil diese Fragen bis heute nicht zu beantworten sind. Der Film fängt jedoch den medienhistorischen Moment ein, in dem diese Fragen bezüglich des Fernsehens erstmals auftauchen.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich
Es wird sicherlich vielen Menschen im Publikum dieses Films so gehen, dass sie sich an den 07. Oktober 2023 erinnert fühlen. Die Behauptung, dass sich hier Geschichte wiederholt, ist schnell zur Hand: Wie schon 1972 nehmen palästinensische Terroristen im Kontext des Nahost-Konflikts israelische Geiseln gefangen. Damals wie heute gibt es die Diskussion, welche Bilder man, auch aus Rücksicht auf den Verwandten der Geiseln, zeigen kann und welche nicht. Bilder des Terrors wurden 1972 wie auch 2023 erzeugt und verbreitet.
Im Vergleich zu 1972 gibt es aber einen nicht zu unterschätzenden Unterschied: Beim Angriff der Hamas auf Israel 2023 produzieren und verbreiten die Palästinenser ihre Bilder selbst. Die Mediengeschichte hat sich weitergedreht und über Smartphones, GoPro-Kameras und Social Media erzeugen die Terroristen ihre eigene news coverage, Propaganda inklusive. Die Macht der Bilder liegt nicht mehr bei Nachrichtensendern, Reporter:innen oder Fotojournalist:innen. Sie kann potenziell von jedem für die eigenen Zwecke genutzt werden.
Im Film müssen die Produzierenden die ethischen Fragen unter bzw. mit sich klären. In einem Wettbewerbsverhältnis zu anderen Sendern (im Film ist das CBS) muss auf ökonomisch-organisatorischer Ebene geklärt werden, wer berichten darf. In der heutigen Medienwelt entscheiden die Terroristen selbst, was sie wie zeigen. Die moralischen Fragen werden heutzutage nicht mehr an die Unternehmen der Nachrichtenproduktion gestellt, sondern an die Tech-Konzerne, die die Plattformen für die Selbstdarstellung terroristischer Akte bereitstellen.
Man fühlt sich beim Schauen des Films September 5 – The Day the Terror went live an den 07.10.2023 erinnert. Die Geschichte reimt sich hier. Doch entscheidend ist der Punkt, dass sich die (Medien)Geschichte nicht wiederholt, sondern sich fortentwickelt hat.
In einem Punkt kommen dann beide Ereignisse doch wieder zusammen: Sie erzeugen Bilder, die erinnerungskulturell im Kollektivgedächtnis der Menschheit verankert werden. Die Erinnerung an bestimmte Ereignisse wird durch solche Bilder wachgehalten. Der mit einer Strumpfmaske bedeckte, auf dem Balkon eines Hotelzimmers im Olympischen Dorf stehende Terrorist ist ein ikonografisches Symbol für einen terroristischen Akt im Kontext des Nahostkonflikts. Regisseur Tim Fehlbaum erzählt in beeindruckender Weise die Story hinter der Entstehung dieser Bilder.
Filmcredits:
September 5 – The Day the Terror went live, Regie: Tim Fehlbaum, Produktion: John Ira Palmer, Philipp Trauer, John Wildermuth, Thomas Wöbke, Deutschland, 2024
[1] Lesenswert dazu: Sven Felix Kellerhoff: Anschlag auf Olympia. Was 1972 in München wirklich geschah, Darmstadt 2022