von Christoph Lorke

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18. März 2019

 

Mit der doppelten Transformation hin zu Demokratie und Kapitalismus verbanden sich für nicht wenige Ostdeutsche einschneidende Umorientierungen und fundamentale Verwerfungen.[1] Dabei hätten die sozialpolitischen Voraussetzungen im Frühherbst 1990 unterschiedlicher kaum sein können: In der DDR galten die „Werktätigen“ – abgesehen von unterversorgten Altersrentner*innen sowie Pflegebedürftigen und einem gewissen Anteil von Un- und Angelernten, kinderreichen Familien und Alleinerziehenden, die von sozialer Ausgrenzung bedroht gewesen waren – auch in den unteren Soziallagen grundsätzlich als (relativ) gesichert. Dem Gros der DDR-Bevölkerung dürfte das Lebensgefühl existenzieller Unsicherheit fremd gewesen sein. Die Sozialfürsorge als existenzsichernde staatliche Leistung versank zum Ende der 1980er Jahre nahezu in der Bedeutungslosigkeit. Die DDR-Sozialpolitik vermittelte Sicherheit und Geborgenheit, das „Recht auf Arbeit“ war verfassungsmäßig verankert – all dies besaß einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf soziale Strukturen und Wertorientierungen für die Zeit nach 1990.  Diese Erfahrungen waren tiefgreifend und zentraler Vergleichsmaßstab in einer Zeit, in der individualistische Strategien der Daseinsbewältigung zunehmend wichtiger werden sollten. Mit den Unwägbarkeiten der postindustriellen Gesellschaft hingegen war die Bundesrepublik seit Mitte der 1970er durch die Erfahrung von (Massen-)Arbeitslosigkeit und den Auswirkungen des globalen Strukturwandels bereits konfrontiert. Hier wie dort existierten Ungewissheiten und soziale Unsicherheiten, die das Zustandekommen damaliger Wahrnehmungsweisen sozialer Umbrüche erklären. Dergestalt ist der damalige Umgang mit sozialer Ungleichheit ein besonders frappierendes Beispiel für die umkämpfte zeitgenössische wie nachträgliche Ausdeutung des Einigungsgeschehens, das es gilt, in seinen historischen Bedingtheiten auszuleuchten – nicht zuletzt deshalb, weil vieles von dem bis heute nachwirkt.

 

Deindustrialisierung, Umbrüche, Individualisierungstendenzen: Angleichungen im Osten…

Ein flüchtiger Blick auf die „harten Zahlen“ macht deutlich, wie treffend eine Charakterisierung der damaligen Entwicklungen als „soziale Revolution“ (Konrad H. Jarausch) ist: Die Öffnung der Märkte und eine umfassende Deindustrialisierung führten dazu, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze im Osten der Republik allein im Zeitraum 1989 bis 1992 halbierte. Der Wegfall früherer Subventionen („zweite Lohntüte“), der Verlust an Realeinkommen durch den Anstieg der Mieten um das Mehrfache, eine gravierende Verteuerung sonstiger Lebenshaltungskosten verstärkten unter anderem diese Entwicklung. Bezogen im zweiten Halbjahr 1990 gut 130.000 ostdeutsche Haushalte Hilfen zum laufenden Lebensunterhalt, verfünffachte sich diese Zahl innerhalb von nur zwei Jahren. Bereits die ersten Monate nach dem Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion waren geprägt von täglichen Berichten über erste Obdachlosenheime in Ostdeutschland – Symbole für die Individualisierung von Lebensrisiken. Im Jahr 1993 wurde die Zahl der Wohnungslosen in den ‚neuen‘ Bundesländern schon auf 200.000 geschätzt. Nicht nur Medien, sondern zunehmend auch Wissenschaft und Politik beobachteten eine beschleunigte Umstrukturierung, Erweiterung und Ausdifferenzierung des sozialen Randes Ostdeutschlands und eine rasche Angleichung der dortigen Sozialverhältnisse an jene der „Alt“-Bundesrepublik.

 

…und ihre diskursiven Ausdeutungen 

Diese tiefgreifende gesellschaftliche Struktur- und Anpassungskrise als widerspruchsvolle „nachholende Modernisierung“ (Rainer Geißler) entlud sich in überaus konfliktreichen Selbstverständigungs- und Identifikationsprozessen. Die zeitgenössischen Debatten um jene Entwicklungen waren nicht nur deswegen hochkontroverse Aushandlungskämpfe, weil es sich bei Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit ohnehin um heikle normative gesellschaftliche Positionierungsfragen handelt; vielmehr kamen in der Sondersituation ‚Vereinigungsgesellschaft‘ besondere Eigendynamiken, mannigfache Übersetzungsschwierigkeiten und Fremdheitserfahrungen hinzu – auch und gerade auf dem Feld des Sozialen. Blicken wir auf die öffentlichen Debatten in Politik, Wissenschaft und Medien um soziale Veränderungen, fallen drei charakteristische Beobachtungen auf. Allesamt spiegeln diese eine ausgeprägte Suche nach Ordnung, Orientierung und Stabilität.

  1. Nostalgische Rückbezüge und Selbstbehauptung: Hatte Kanzler Kohl in seiner Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion noch verkündet, den meisten Ostbürger*innen werde es nach der Einheit besser, den wenigsten schlechter gehen, so verbreitete sich bald Resignation. Nicht nur in Ost-, auch in Westdeutschland schwand zusehends der Glaube an die Realisierung politischer Zielversprechen und sozialer Verheißungen. Die Folge war eine früh einsetzende Rückwendung vieler Ostdeutscher bei gleichzeitiger Abwertung des ‚Westens‘ als eine trotzig-distinktive Form der Selbstbehauptung, die auch Ausdruck der Sehnsucht nach sozialer (Re-)Integration, (Wieder-)Absicherung und Wertschätzung war.
  2. DDR-Vergangenheit als delegitimierende Ressource: Forderungen der Opposition nach einer regelmäßigen, regierungsamtlichen Armutsberichterstattung und einer bedarfsorientierten Mindestsicherung und Vorwürfe, die Bundesregierung ignoriere das Thema ‚Armut‘, wurden weniger als Versäumnis nach 1990 interpretiert, sondern als Erblast“ einer defizitären DDR-Sozial- und Wirtschaftspolitik: Marode Infrastrukturen, industrielle Rückständigkeit und Misswirtschaft seien ausschlaggebend für die aktuelle Misere, zudem hemmten hohe Löhne und fehlender Unternehmergeist das Denken in Leistungskategorien. Bestehende und erlernte Einstellungen zu beeinflussen beziehungsweise zu ändern und damit auch Westdeutsche anzusprechen, zeigt eindrücklich, inwiefern gesamtdeutsche Debatten um Sozialstaatlichkeit und Gerechtigkeit in den 1990er Jahren „veröstlicht“ wurden. Dieser Umstand dürfte eine neoliberale Ko-Transformation (Philipp Ther) der ‚alten‘ Bundesrepublik maßgeblich beschleunigt haben.
  3. Re-Politisierung des Armutsdiskurses: Am deutlichsten bemerkbar wird diese Beobachtung bei einem Blick auf die zeitgenössischen diskursiv-symbolischen Sprechweisen. Verschiedene sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen beförderten einen Um- beziehungsweise Rückbau des Sozialstaates: Die verschärfte Arbeitspflicht für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger*innen, eine Lockerung des Kündigungsschutzes, die Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen und Kürzungen der Arbeitslosenhilfe. All dies ging oft mit dem Vorwurf des Leistungsbetrugs einher. Eine „Hängematten“- und „Schmarotzer“-Metaphorik zielte auf eine imaginierte Trennung von „echter“ und „unechter“ Arbeitslosigkeit und entfaltete sich im Zusammenspiel aus Moralisierung, Fremdheitskonstruktionen und tradierten Sprechweisen. Dadurch – so die These – wurden Arbeitnehmer*innen auf die Erfordernisse der ‚Vereinigungsgesellschaft‘ eingestimmt.

 

Resümee und Ausblick

Welche Auswirkungen hatten nun jene sich überlagernden, kontroversen und keineswegs ambivalenzfreien sozialen Debatten der 1990er Jahre? Im Verfassungsgebot ist die Rede von der Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 GG). Diese Zielformel kontrastiert jedoch mit biographischen Brüchen samt psychosozialen Folgen nach der deutschen Einheit beziehungsweise nach der Vereinigung beider deutschen Staaten. Trotz vielfältiger Lernprozesse und Annäherungen, ungeachtet aller Wohlstandsschübe und Gratifikationsgewinne: Die gefühlte Marginalisierung in Arbeitswelt und öffentlichem Diskurs stellte für viele Ostdeutsche eine mehrfache, nämlich sozioökonomische und kognitiv-mentale Anpassungszumutung dar. Arbeitsplatz- und Armutsrisiken haben sicherlich bei nicht wenigen Überforderungen und Ängste hervorgerufen. Eine Ent-Kollektivierung – der Verlust der Integration in Betrieb und die sozialistische Arbeitswelt – ging mit einer abrupten Ent-Solidarisierung einher. Jene subjektiven Empfindungen, Fremdheitserfahrungen und das Erleben (oder Befürchten) von Brüchigkeit und relativer Verarmung, Anerkennungsprobleme und überdauernde Statusgefälle zwischen Ost- und West lassen „das soziale Feld“ als zentrale Herausforderung des Einigungsprozesses hervortreten. Die gegenwärtig einsetzende zeithistorische Forschung für die Zeit nach ‚1989/90‘ täte zweifellos gut daran, sich den in vielerlei Hinsicht bis heute deutlich zu spürenden Nachwirkungen damaliger Entwicklungen künftig verstärkt hinzuwenden.


[1] Der Beitrag basiert im Wesentlichen auf einem Artikel (Von alten und neuen Ungleichheiten. ‚Armut‘ in der Vereinigungsgesellschaft, in: Großbölting, Thomas/Lorke, Christoph (Hg.): Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 271-295) sowie meinem Vortrag auf dem letztjährigen Historikertag („Soziale Ungleichheit in der Vereinigungsgesellschaft. (Neu-)Vermessungen von Sozialstaatlichkeit und Gerechtigkeit“). Auf zusätzliche Anmerkungen wurde daher verzichtet.