von Karolína Bukovská

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2. Oktober 2023

Dieser Beitrag basiert auf meiner Masterarbeit, die ich 2022 im Studiengang Public History an der Freien Universität Berlin verfasst habe. Im Rahmen der Abschlussarbeit habe ich mit meinem Vater über seine Studienzeit in Dresden (1978-1982) gesprochen. Anschließend habe ich versucht, die Welt eines jungen tschechischen Studenten in der DDR zu rekonstruieren. Der folgende Text reflektiert daher subjektive Erinnerungen sowie eine Vater-Tochter Beziehung. Er bietet damit einen neuen Blick auf das Alltagsleben in der DDR.

 

Familienausflüge nach Dresden

Der Ausflug nach Dresden gehörte seit meiner Kindheit zur Familientradition. In der Früh hin über die Grenze, auf der Prager Straße Einkäufe erledigen, in der Innenstadt eine Bockwurst essen und mit dem Blick auf die Elbe und auf die wiedererbaute Frauenkirche Softeis genießen. Am Nachmittag ging es wieder zurück. So machen das bis heute viele Tschech*innen. Bei uns war es aber anders. Immer, wenn wir uns dem Hauptbahnhof näherten, rief mein Vater aus: „Hier habe ich gewohnt!“ und zeigte dabei auf eine Reihe von Plattenbauten mit Betonmosaiken.

Mein Vater studierte zwischen 1978 und 1982 an der Technischen Universität Dresden. Das Gebäude in der heutigen Fritz-Löffler-Straße war sein Wohnheim. Damals war die Straße nach dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin benannt. Dass mein Vater in der DDR studierte, war für mich lange einfach eine Tatsache. Interessant wurde dieser Teil seiner Biografie erst als ich selbst in Deutschland zu studieren begann.

Und es ging wieder um einen Kosmonauten. Während eines Seminars über die DDR sprach ich über Sigmund Jähn und bezeichnete ihn dabei als Kosmonauten. Das schien manche meiner Kommiliton*innen zu irritieren: Er war doch ein Astronaut. Nachdem ich unbewusst einen Begriff aus dem DDR-Vokabular verwendete, wurde mir klar, dass ich als jemand, der im post-sozialistischen Tschechien aufgewachsen ist, doch einen Bezug zur DDR haben kann. Und dann begann ich mich zu fragen: Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass mein Vater in der DDR studierte?

© Karolína Bukovská, 2021 Im Rahmen meines Projekts unternahmen wir einen gemeinsamen Ausflug nach Dresden. Am Programm stand die Spurensuche nach Orten, die für meinen Vater während seines Studiums eine wichtige Rolle gespielt haben.

 

Aus Königgrätz nach Dresden

Mein Vater Radko ist Jahrgang 1960. Er wuchs zusammen mit seinen Eltern und der jüngeren Schwester in der ostböhmischen Stadt Hradec Králové (Königgrätz) auf. Für meine Großeltern war es immer wichtig, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten. Ihr eigener Weg zum Studium war in den 1950er-Jahren auf Grund ihrer Herkunft erschwert. Mein Urgroßvater besaß einen Dorfladen, die Familie meiner Oma einen Bauernhof - das machte sie nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 zu Klassenfeinden. Gute Bildung sollte die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass mein Vater und seine Schwester später ins westliche Ausland reisen werden können. Das war für viele nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 nicht selbstverständlich. Ein möglicher legaler Weg in den Westen ging über die Beschäftigung in einem der tschechoslowakischen Außenhandelsbetriebe, die eben auch mit dem kapitalistischen Westen Kontakte knüpften. Die Voraussetzung dafür war das Studium der Ökonomie.

Das Josef-Kajetán-Tyl Gymnasium hat eine lange Tradition. Einer der berühmten Absolventen ist unter anderen auch der tschechischer Schriftsteller Karel Čapek. Das Gebäude am Ufer der Elbe wurde vom bedeutenden Architekten der Moderne Josef Gočár entworfen und 1925-1927 erbaut. © Karolína Bukovská, 2023

Eines Tages, da war mein Vater bereits am Gymnasium, kam mein Großvater vom Elternabend zurück: Es gäbe die Möglichkeit, Ökonomie in der DDR zu studieren. Für meinen siebzehnjährigen Vater hieß es: das Abiturjahr an einem speziellen Gymnasium zu absolvieren, seine Deutschkenntnisse zu verbessern und die Aufnahmeprüfungen erfolgreich zu bestehen. Dieses Gymnasium mit Internat lag in der etwas isolierten mährischen Kleinstadt Jevíčko. Seit 1973 wurden dort junge Menschen für das Studium in den befreundeten Ländern vorbereitet: außer der DDR waren es hauptsächlich die Sowjetunion oder die Volksrepublik Polen.[1]

Ein wichtiges Kriterium für das Auslandsstudium war die politische Zuverlässigkeit. Nach den Parteisäuberungen nach 1968 traten meine Großeltern, wie in der Familie tradiert, aus pragmatischen Gründen der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bei. Mein Vater war in der Pionierorganisation und später im Verband der sozialistischen Jugend. So wurde ihm schließlich ein Studienplatz an der Technischen Universität Dresden zugewiesen. Am 1. September 1978 konnte er sein Studium der Sozialistischen Betriebswirtschaft beginnen.

 

„Ich verstand nur Bahnhof“

Die ersten Minuten in Dresden waren für meinen Vater nicht besonders erfreulich. Nach der Zugfahrt durch das malerische Elbsandsteingebirge stieg er am Hauptbahnhof aus und erkundigte sich bei einem vorbeigehenden Schaffner nach der Juri-Gagarin-Straße. Hier war mein Vater zum ersten Mal mit dem sächsischen Dialekt konfrontiert, der bis heute für viele den „ostdeutschen“ Dialekt verkörpert. „Da dachte ich, es ist vorbei. Wie soll ich denn hier studieren, wenn ich nicht mal verstehe, was der Schaffner sagt? Ich verstand wortwörtlich nur Bahnhof.“[2]

Die DDR war für ihn allerdings, trotz der Sprachbarriere, kein fremdes Land. Er hatte das Nachbarland bereits davor besucht. Seit 1972 bestand zwischen der DDR und der ČSSR ein pass- und visafreier Verkehr. Dadurch wurde die DDR für viele Tschechoslowak*innen, inklusive meiner Familie, zu einem beliebten Ziel für Einkäufe. Man profitierte dabei von der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Honecker-Ära. Diese versprach eine allmähliche Verbesserung des Lebensniveaus. Die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, galt auch in der ČSSR als die höchste Priorität: Dadurch sollten die verlorenen Freiheiten des Prager Frühlings kompensiert werden.

Die DDR und die ČSSR befanden sich in den 1970er und 1980er Jahren in einer ähnlichen Lage. Geführt von den Generalsekretären der Zentralkomitees der jeweiligen regierenden Parteien, Erich Honecker und Gustáv Husák, demonstrierten sie bis zu den Revolutionen des Jahres 1989 den real existierenden Sozialismus. Die Bruderstaaten pflegten eine freundschaftliche Beziehung. Ein Ausdruck davon war unter anderem die Möglichkeit, im Nachbarland zu studieren.

Durch Freundschaftsverträge waren Mitte der 1970er-Jahre insgesamt 42 Hochschulen in der DDR und ČSSR verbunden.[3] Gefördert wurden vor allem technische und naturwissenschaftliche Fächer sowie die Ausbildung zukünftiger Deutschlehrer*innen. Mein Vater hat Tschechoslowak*innen kennengelernt, die ihr Studium in Ost-Berlin, Ilmenau oder Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) absolvierten; in der sächsischen Hauptstadt war er zusammen mit etwa 100 Landsleuten. Als er das Studentenwohnheim in der Juri-Gagarin-Straße aufsuchte, merkte er gleich, er ist seinem Schicksaal eines Auslandsstudenten nicht allein überlassen.

Das Ausländerwohnheim der TU Dresden wurde 1966-1968 errichtet. Es umfasste bis zu 1200 Bettenplätze. Das Gebäude dient nach wie vor als Wohnheim der TU Dresden. 1993 wurde die Juri-Gagarin-Straße in Fritz-Löffler-Straße umbenannt. © SLUB / Deutsche Fotothek / Steuerlein, Asmus, 1974, CC-BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Vorderer Eingang ins Wohnheim der TU Dresden in der Fritz-Löffler-Straße 12, © Karolína Bukovská, 2021.

Boney M. im Tal der Ahnungslosen

Im Wohnheim waren Studierende aus unterschiedlichen Fakultäten und allen Teilen der (sozialistischen) Welt untergebracht. Hier fanden Studierende aus der Sowjetunion, Polen, Kuba, Chile, Vietnam und befreundeten afrikanischen und arabischen Ländern ihr temporäres Zuhause. Für meinen Vater war es die allererste Begegnung mit Menschen aus anderen Kontinenten.

Den ausländischen Studierenden wurde jeweils ein Betreuer oder eine Betreuerin zugewiesen, die sie durch den Hochschulalltag begleiten sollten. Dieses System funktionierte nur zum Teil: „Die deutschen Betreuer konnten es mit uns nicht aushalten, es war immer was los,“ behauptete mein Vater. Mit seinem Betreuer übte er zwar anfangs deutsche Vokabeln, viel lieber unterhielt er sich aber mit seinen Landsleuten. „Dresden war in diesem Sinne vielleicht ein Fehler. Zum Glück habe ich Deutsch gelernt, aber vormittags waren wir an der Uni und abends hatten wir schon wieder die Möglichkeit, mit jemandem [auf Tschechisch] zu reden. Wir waren die ganze Zeit zusammen. […] Wir hatten kein Heimweh.“

Sobald die Vorlesungen und Seminare zu Ende waren, verwandelte sich das Wohnheim zum Mittelpunkt des Geschehens. Größere Nationalgruppen verfügten über ihre eigenen Klubräume. Die Tschechoslowak*innen gründeten ihren Klub auf der siebten Etage unter der Schirmherrschaft des tschechoslowakischen Verbands sozialistischer Jugend. Mein Vater durfte die Funktion des Kassenwarts innehaben. Außer Mitgliedsbeiträge verwaltete er auch freiwillige Spenden, die zum Einkauf von Getränken und Erfrischungen oder von einem neuen Tonbandgerät dienten. Der Klubraum verfügte auch über einen Fernseher. Im "Tal der Ahnungslosen" nutzte das aber nichts, das Westfernsehen hatte dort sowieso keinen Empfang.“

In den Klubräumen wurden Geburtstage oder wichtige Jahrestage gefeiert. „Mit Kubanern haben wir den Jahrestag der Revolution gefeiert, [...] anlässlich der Oktoberrevolution haben uns die Russen beigebracht, wie man Wodka trinkt.“ Freitags und samstags fanden Discos statt: „Die Polen hatten Platten aus dem Westen, zum Beispiel Boney M. Beliebt waren aber auch die deutschen Rockbands Puhdys oder Karat.“ Ab Mitternacht war Nachtruhe angesagt. Dafür sollten Ordnungsgruppen sorgen, die von den Wohnheimbewohner*innen selbst gebildet wurden. Ab und zu, wenn es zur Prügelei kam, musste sogar die Volkspolizei eintreffen.

 

Wahlhelfer Bukovský

Der tschechoslowakische Klubraum diente allerdings nicht nur den studentischen Feierabenden. Am 5. und 6. Juni 1981 fanden in der ČSSR Wahlen in die Föderalversammlung statt. Eines der Wahllokale befand sich eben im tschechoslowakischen Klubraum. Als Mitglied des Verbandes der sozialistischen Jugend half mein Vater bei der Organisation. Mit der Wahlurne war er sogar auf der Elbe mit einem Motorboot unterwegs, da auch die Besetzung der Schiffe aus der ČSSR ihre Stimmen abgeben musste – damit die Partei später eine 99,5-prozentige Wahlbeteiligung proklamieren konnte.[4] Für meinen 21-jährigen Vater war es eher ein lustiges Erlebnis.

Als Wahlhelfer begegnete mein Vater einem damaligen Pop-Star aus der ČSSR – dem Sänger und Schauspieler Václav Neckář. Neckář befand sich gerade auf dem Weg zu den XX. Sommerfilmtagen in Gera. Der Film Sing, Cowboy, sing, eine Western-Komödie aus der DEFA-Produktion mit Neckář und dem roten Elvis Dean Reed in den Hauptrollen, feierte dort seine Premiere. Durch die Teilnahme an der Wahl bestätigte der prominente tschechoslowakische Sänger seine Loyalität gegenüber des Regimes, das seine Auftritte in der befreundeten DDR förderte.

Gebäude der Botschaft der ČSSR in Ost-Berlin, Jörg Blobelt, 1979, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons Das Gebäude wurde von 1974 bis 1978 errichtet und Anfang 1979 eingeweiht. Der Entwurf stammt vom bedeutenden Architekten-Ehepaar Věra und Vladimír Machonin. Heute befindet sich im Gebäude die Botschaft der Tschechischen Republik mit einem eigenen Kulturzentrum.
 

Die Begegnung mit dem Sänger, der seit Mitte der 1960er Jahren zusammen mit Karel Gott zu den beliebtesten im Land gehörte, war für den Wahlhelfer Bukovský nicht die einzige Aufregung. Für die „opferwillige Arbeit“ und die „erfolgreiche Vorbereitung und Gewährleistung der Wahlen“ erhielt er vom Botschafter der ČSSR und dem lokalen Komitee der KSČ eine Urkunde. Die wurde ihm im Gebäude der tschechoslowakischen Botschaft in Ost-Berlin feierlich übergeben. Vom Besuch der Hauptstadt der DDR blieb meinem Vater insbesondere das Restaurant Praha in Erinnerung, das sich in der Nähe der Botschaft befand und das böhmische Knödel und das Bier Staropramen anbot. „Das Stadtzentrum war überschaubar. Es gab den Alexanderplatz, den Palast der Republik, Unter den Linden und dann nur noch die Zäune und Grenzübergänge.“

Wahlen 1981, Bildnachweis: Urkunde für Radko Bukovský, Privatarchiv

 

Dresden 1978-1982

Während seines Aufenthalts in der DDR ist mein Vater nicht viel gereist. Er unternahm eine Urlaubsreise auf Rügen, besuchte seinen deutschen Betreuer in Bautzen und nahm an einem studentischen Fußballturnier in Ilmenau teil. Ansonsten hielt er sich in Dresden auf.

Dresden Ende der 1970er Jahre war in den Augen meines Vaters eine moderne Stadt. In dieser Zeit entstanden viele neue Bauten: 1969 eröffnete der Kulturpalast, in dem die Studierenden der Technischen Universität immatrikuliert wurden, 1978 war die umgestaltete Prager Straße mit dem Rundkino fertig und 1979 entstand in der Dresdner Neustadt eine Fußgängerzone, die Straße der Befreiung (heute Hauptstraße). Bei der Bepflanzung mit Platanen half auch mein Vater aus. Den Arbeitseinsatz von Studierenden hat die Universität organisiert.

 

Blick auf die Prager Straße, links das Neue Rathaus, rechts das 1972 erbaute Rundkino, Jörg Blobelt, Dresden 1973, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.
© Karolína Bukovská, 2021 Das Filmtheater auf der Prager Straße wurde 1972 eröffnet. Hier hat sich mein Vater unter anderem den DDR-Spielfilm Bis daß der Tod euch scheidet (1979) oder den Oscar-Film Einer flog über das Kuckucksnest (1975) ansehen können. Das Letztere stellte für ihn eine Besonderheit dar. In der ČSSR wurden die Filme von Miloš Forman, der 1968 in die USA emigrierte, nicht aufgeführt.

Die Frauenkirche, die das heutige Dresdner Stadtbild wieder prägt, war in dieser Zeit eine Ruine. Sie erinnerte an die Bombenangriffe vom Februar 1945 und diente als Mahnmal gegen den Krieg. Mit dem anderen Wahrzeichen der sächsischen Hauptstadt, dem Zwinger, verbindet mein Vater wiederum eine besondere Erinnerung. Als der Zwingerteich im Winter zufror, begaben sich die tschechoslowakischen und sowjetischen Auslandsstudenten in voller Ausrüstung zu dieser Perle des Barock, um dort Eishockey zu spielen. „Da habe ich gemerkt, dass die Russen eigentlich nicht so schlimm sind, wie alle sagen. Die sind doch wie wir. Sie studieren hier und spielen gerne Eishockey. Und teilen mit uns sogar ihren selbstgebrannten Schnaps.“

 

Daddy, Daddy Cool!

Das Studium hatte für meinen Vater nicht die höchste Priorität – nicht nur in den Interviews, die ich mit ihm geführt habe. Seinen Studiengang bezeichnete er selbst als „eine Pseudowissenschaft“. Wegen mangelnder Motivation zum Studium wurde er mehrmals gemahnt: „Auf Grund schlechter Leistungen im 3. Semester mußte mit Herrn Bukovsky ein Leistungsgespräch geführt werden. Er muß sich in der Zukunft verstärkt um ein zielstrebiges, intensives Selbststudium bemühen,“ hieß es in seinem Zwischenzeugnis am Ende des vierten Semesters. Mahnungen kamen damals auch aus dem Elternhaus.

Die Lernstrategie meines Vaters fassten später seine Kommiliton*innen im Erinnerungsbuch an den „4-jährigen ‚Leidensweg‘“ zusammen: „Radko, du hast den Inhalt der Effektivität am besten verstanden: mit wenig Aufwand ein akzeptables Ergebnis erreichen.“ So konnte mein Vater sein Studium mit „befriedigend“ abschließen und den akademischen Grad Diplomingenieur-Ökonom erwerben. „Bei Beendigung des Studiums beherrschte er die deutsche Sprache sehr gut,“ schrieb der Sektionsdirektor in seiner Beurteilung am 8.9.1982. 

 

Erinnerungsbuch Radkos Seminargruppe „Abschlusspamphlet zum 4-jährigen „Leidensweg“ der 78/04/01“, 1982, Privatarchiv.                                                                           
Erinnerungsbuch Radkos Seminargruppe „Abschlusspamphlet zum 4-jährigen „Leidensweg“ der 78/04/01“, 1982, Privatarchiv.

Die Deutschkenntnisse waren tatsächlich das Wichtigste, was mein Vater aus Dresden mitgebracht hat. Sieben Jahre nach seinem Abschluss schienen die Kenntnisse der Sozialistischen Betriebswirtschaft irrelevant zu sein. In seinem späteren Berufsleben profitierte mein Vater jedoch davon, dass er fließend Deutsch sprach. Er ist bis heute als Kaufmann im Bereich Gastronomie tätig mit Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Markt. Dass Fremdsprachenkenntnisse einen weiterbringen können, wurde mir von klein auf beigebracht. Und so bin ich schließlich in Berlin gelandet und habe dort eine Masterarbeit über meinen Vater und die DDR geschrieben.

Das Bild der DDR, das dabei entstand, ist natürlich etwas einseitig – wie jede Erinnerung. Immer wenn mein Vater über die Freizeit im Wohnheim schwärmte, habe ich mich gefragt: Wo ist die Stasi? Und die Unterdrückung und der Widerstand? Als ich dieses Thema ansprach, reagierte er mit Irritation: „Als Student habe ich mich wie alle anderen für keine Politik interessiert. Das einzige Ziel war zu überleben, das Studium abzuschließen und erst dann schauen, wie es weiter geht.“

Als Historikerin müsste ich diese Aussage einer kritischen Analyse unterziehen. Als Tochter habe ich gemerkt, dass ich unterbewusst meine Vorstellung über die DDR, die sich nach der Wiedervereinigung etabliert hatte und die mir hauptsächlich medial vermittelt wurde, in die Erinnerungen meines Vaters an seine erlebte Zeit in der DDR projiziert haben musste. Mit jedem weiteren Interview wurde mir klar, dass seine DDR anders war. Wenn ich jetzt auf dem Weg zum Dresdner Hauptbahnhof den Plattenbau in der Fritz-Löffler-Straße vorbeifahre, denke ich vor allem an die Schlager von Boney M., die vor 40 Jahren Woche für Woche aus dem Wohnheim erklangen.


 

[1] Jaroslav Nejedlý, Jaroslav Pesl: Erfahrungen in der ČSR bei der Vorbereitung auf ein Auslandsstudium, in: Karl-Heinz Schiller: Kommunistische Erziehung künftiger Auslandsstudenten, Halle (Saale) 1987, S. 61. [2] Alle Zitate stammen aus den insgesamt sieben Interviews, die ich mit meinem Vater im Zeitraum zwischen März und Mai 2021 geführt hatte. Sie wurden von mir aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzt. [3] Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hg.): DDR-ČSSR. Sozialistische Zusammenarbeit, Berlin 1978, S. 150. [4] Rudé právo, Ústřední volební komise NF oznamuje: Náš lid jednoznačně rozhodl, 8.6.1981.