von Paul Kaiser

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18. März 2019

In der DDR entwickelte sich eine staatssozialistische „Geltungskunst“, die man als „DDR-Kunst“ oder „Kunst der DDR“ bezeichnen könnte im Unterschied zu den vielfältigeren Formen einer „Kunst in der DDR“. Diese mit dem politischen Projekt eng verbundene Kunst sollte von allen historischen wie zeitgenössischen Moderne-Anhaftungen bereinigt werden, was in der Komplexität künstlerischer Produktions- und Rezeptionsweisen allerdings nur ansatzweise gelang. Auch wenn der Wirkungsgrad jener an einer didaktischen Symbolisierung der sozialistischen Leitideen beteiligten Künste die Erwartungen der Machthaber nur unzureichend erfüllte, so blieb die Kunst des „Sozialistischen Realismus“ doch innen- wie außenpolitisch ein unverzichtbares Instrument der Herrschaftslegitimation. Die SED-Funktionäre versuchten, den „Sozialistischen Realismus“ als Widerpart zum westlichen Modell einer kosmopolitischen „Weltkunst“ in Stellung zu bringen. Somit wurde für die offizialkulturelle Kunstproduktion der DDR anstatt des intrinsischen Moderne-Konfliktes zwischen Autonomie und institutionalisierter Kunst von Anbeginn eine andere Gegensatzspannung prägend – die zwischen Ost und West.

 

Kunst als Medium politischer Feindsetzung

Der Ost-West-Blockkonflikt betraf dabei längst nicht nur die institutionelle Welt des Kunstsystems, in dem er völlig differente Ausformungen desselben in beiden deutschen Teilstaaten schuf, sondern er schlug auch auf die Seite der Kunstproduktion selbst durch. So führte die durchgesetzte Fremdfunktionalisierung der Künste zu einem Großsymbol der Systemauseinandersetzung in einigen Bereichen des Kunstsystems auch zu einer ästhetischen Konfrontation zwischen Ost und West, welche sich, etwa in der Malerei, in einer signifikanten bildpolitischen Konkurrenz zwischen sozialistischer Figuration und westlicher Abstraktion spiegelte. Auffallend ist in der DDR gegenüber anderen staatssozialistischen Gesellschaften die rigorose Vereinseitigung dieser Kunstentwicklung: Während in Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei parallel existierende Kunstformen – etwa auch Formen der in der DDR konsequent verfemten zeitgenössischen „Westkunst“ – und die mit ihnen verbundenen Stilauffassungen und Rollenausprägungen nachweisbar sind, kam es im Osten Deutschlands zur Ausprägung eines fast vollends machtgesteuerten Kunstsystems.

Neben der im Vergleich zu anderen staatssozialistischen Gesellschaften komfortablen Nähe zum Westen, die den Empfang der Westmedien ohne Sprachbarrieren genauso ermöglichte wie den Besuch von Angehörigen, Freunden und Bekannten, die in ihrem Gepäck, teils unter erheblichen Gefahren, Kataloge, Platten oder Kleidung unerlaubt in die DDR einführten, erwiesen sich auch einige „Ostblock“-Staaten als wichtige kulturelle Transferzonen; vor allem die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen. Verbotene Bücher, westliche Platten und die ersten Joints – insbesondere das in Fragen der Toleranz gegenüber der Akzeptanz westlicher Kulturmuster weitaus offenere „Bruderland“ Polen wurde ab 1972 – mit dem Beginn des nun auch pass- und visafreien Reiseverkehrs – von wahren Pilgerzügen aus der DDR heimgesucht. Nachdem mit dem „Prager Frühling“ 1968 das vielfältige Kulturangebot in der tschechoslowakischen Hauptstadt zusammengebrochen war, an dem die non-konformen Kunstszenen in der DDR jahrelang gewinnbringend partizipiert hatten, blieb Polen ein vor allem in den Sommermonaten erreichbarer Sehnsuchtsraum. Musikinteressierte trampten zu den Warschauer Jazz-Festivals, Künstler*innen nahmen (bisweilen ohne Absprache mit den staatlichen DDR-Stellen) an der Krakauer Grafik-Biennale teil, und Intellektuelle reisten in die polnischen Universitätsstädte, wo in Freihandbibliotheken und in universitären Fachbereichen Literatur aus dem Westen frei zugänglich war.

Trotz dieser temporären Verbindungen in verschiedene „Ostblock“-Staaten – welche man um den Exotismus illegaler Tramptouren in entlegene Gebiete der Sowjetunion erweitern könnte – ist ein kulturell-künstlerischer Transfer zwischen den osteuropäischen Kunstentwicklungen im sowjetischen Hegemonialbereich und den avancierten künstlerischen Szenen der DDR nur ansatzweise feststellbar. Zwar gab es eine Vielzahl offizialisierter Kontaktformen, etwa zwischen den Künstlerverbänden, aber die „rituellen Austauschbeziehungen […] verhinderten einen inspirierenden Dialog mehr als dass sie ihn anstießen“. Der Kunsthistoriker Christoph Tannert verweist die Zuschreibung einer osteuropäischen Verankerung der DDR-Kunst in das Reich der Legende, in dem er weiter feststellt, dass „eine weitestgehende Ignoranz der Ostdeutschen gegenüber den Nachbarn im Osten […] die offizielle wie die nichtoffizielle Kunst gleichermaßen“[1] charakterisiert hätte.

Dieser Befund, den man um die (vor allem nach 1989 deutlich spürbare) Ablehnung osteuropäischer Intellektueller gegenüber dem Teilhabekurs vieler Kolleg*innen im ostdeutschen Teilstaat erweitern könnte, trifft trotz einiger Ausnahmen im Kern zu.  Der Kontakt zu den nonkonformen osteuropäischen Künstlermilieus, etwa in Polen oder der Tschechoslowakei, erschien für viele DDR-Akteur*innen lediglich als die Möglichkeit zur Erlangung westlicher Kulturgüter. Allenfalls auf Randgebieten, etwa der Mail Art oder der abstrakt-konkreten Kunst, kam es zu kontinuierlichen Kontakten. Ansonsten erschienen jene Transferversuche als pragmatische Gesten eines Sonderverständnisses – als östliche Umwege in den Westen. Auch wenn Ausstellungen und Forschungsinitiativen nach 1989 die Sonderheiten der DDR-Kunst vor allem in ihrer geopolitischen und kulturellen Randlage des „Ostblocks“ verortet sahen, die enge Beziehungen zur ost- und mitteleuropäischen Kunstszene nahelegten, so kann doch konstatiert werden, dass der „Westwind“ weit bestimmender als der „Ostwind“ für das kulturelle Klima im Osten Deutschlands blieb.

 

(Wieder-)Einwanderung der Moderne

Es ist bekannt, dass dem in den 1950er und 60er Jahren forcierten Aufbau der Ost-West-Konfrontation in den Künsten deren sukzessive Auflösung in der Honecker-Ära folgte.[2] Im Zuge jenes Wandels zur „Konsensdiktatur“ der Spät-DDR und begleitet von einer generellen Ermattung des Normativen, kam es in den 1970er Jahren nun zu einer zunächst zögerlichen und von Rückschlägen durchsetzten, später aber zu einer dynamisch verlaufenden Reaktivierung moderner Haltungsbezüge und Kunstauffassungen in der DDR. Als Hauptgrund dieses Paradigmenwechsels in Bezug auf den Umgang mit der künstlerischen Moderne kann die (Wieder-)Einwanderung autonomer Kunstprogramme angesehen werden, welche sich weitgehend den Regeln einer politischen Indienstnahme verweigerten. In der Folge verlagerte sich der für die Ausprägung der Künste charakteristische Gegensatz von der symbolischen Konfrontation der Geltungskünste zwischen Ost und West hin zu einem innerostdeutschen Konflikt zwischen autonomer Verweigerung und ästhetischer Bekenntnispflicht.

Es ist dieser Bruch zwischen den verschiedenen Funktionalitäten von Kunst in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, der den seit 1990 anhaltenden deutsch-deutschen Bilderstreit grundiert[3], der im letzten Jahr im „Dresdner Bilderstreit“ eine heftige und international beachtete Neuauflage erlebte. Nachdem die aus Braunschweig gekommene neue Direktorin des Albertinums fast den gesamten Bestand ostdeutscher Nachkriegskunst aus der Schausammlung ins Depot verbracht hatte, regte sich Ende 2017 Widerstand gegen eine als koloniale Deklassierungsgeste interpretierte Aktion.[4] Es kam zu einer heftig geführten Auseinandersetzung um den Wert der ostdeutschen Kunst, in deren Zuge sich das verprellte Publikum eine Ausstellung der abgehängten Werke „ertrotzte“.[5]

Debatten wie diese machten deutlich, dass gerade die Kunst in der DDR davon zeugt, dass Staat und Gesellschaft nicht zusammenfielen. Es waren vor allem Künstler*innen, die Missstände proklamierten, Freiräume erkundeten, den Pinsel in die Wunde legten. Die Kunst aus der DDR spricht in vielgestaltiger Manier vom Anspruch und vom Zerfall einer Utopie, selbst dort, wo sie sich einem politischen Engagement verweigerte. Vollends missverstanden wird dieses Potential von den Formen einer Marginalisierung, die seit der „Wende“ immer aufs Neue praktiziert wird. Im Fall der Kölner Kunstmesse Art Cologne trug das sogar zu einer marktwirtschaftlichen Stigmatisierung ostdeutscher Kunst bei, indem den wenigen Galerien, die in den 1990er Jahren noch Künstler aus der DDR im Angebot führten, angeraten wurde, diese von der Messeleitung als nicht relevant und zeitgemäß eingeschätzten Positionen unter latenter Androhung eines Ausschlusses von der Kunstmesse nicht mehr zu zeigen.
Die verbindende These solcher offenen oder auch nur verdeckt erhobenen Vorwürfe der deutungsmächtigen Instanzen nach 1989 gegenüber den ostdeutschen Künstler*innen lautet, sie seien aus der Zeit gefallen und hätten somit ihre kreativen Energien anstatt auf dem Terrain der Nachkriegsavantgarden in einer Sackgasse des regressiven Historismus vergeudet. Moderne Künstler seien sie deshalb nicht, sondern allenfalls Wiedergänger, Kopisten und artifizielle Nachahmer aus dem Fundus der Kunstgeschichte. Nur im genialischen Ausnahmefall, etwa beim Leipziger Werner Tübke, so die bis heute im Kunstbetrieb geltende Argumentationskette, sei aus dieser antimodernen Geste eine Art von postmodernem Manierismus entstanden, der zwar fasziniere, aber im Grunde doch nur die unüberbrückbare Entfernung der ‚Ostkunst‘ zu den Epizentren der Westkunst unterstreiche.

Diese Perspektive suggeriert nachgerade eine fatale ‚Ortlosigkeit‘ der ostdeutschen Nachkriegskunst, deren kunsthistorischer Wert sich im Transformationsprozess von alleine auflösen würde. Jene bis heute weit verbreitete (und mit kolonialen Attitüden verbundene) grundlegende Distanzierung verstellt freilich den gesamtdeutschen Blick auf eine Landschaft der Mitte. Diese wurde geprägt von Dresdner Künstlerinnen und Künstlern wie Bernhard Kretzschmar, Hermann Glöckner, Egon Pukall, Max Uhlig, Gerda Lepke, Angela Hampel, Stefan Plenkers und Willy Wolff. Sie umfasst die Generationen der „Leipziger Schule“ von Bernhard Heisig über Hartwig Ebersbach bis zum Frühwerk von Neo Rauch. Und sie verdankt viel der staatsabgewandten Berliner Kunstentwicklung, inspiriert von Harald Metzkes, Hans Ticha, Nuria Quevedo oder Roland Nicolaus. In diesem Biotop einer Sonderlage entstand als singulärer Nebenweg der Moderne im Osten Deutschlands zwischen 1945 und 1990 eine unverwechselbare Kunst, die nicht ausschließlich mit politischen oder moralischen Kategorien beschreibbar und schon gar nicht mit den Normativen des „Sozialistischen Realismus“ in Übereinstimmung zu bringen ist. Diese Kunst kann als eine legitime deutsche Nachkriegskunst ostdeutscher Prägung gelten – auch wenn sie sich ihren „Ort“ erst noch erstreiten muss.

 


[1] Christoph Tannert: Leiche auf dem Seziertisch. DDR-Kunst zwischen Staat und Underground. In: Forschungsstelle Osteuropa [an der Universität Bremen] (Hg.): Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre (=Dokumentationen zur Kultur und Gesellschaft im östlichen Europa; Bd. 8), Bremen 2000, S. 180-187, S. 181.
[2] Vgl. dazu Martin Sabrow: Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive. In: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.): Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 83-118 und mit Blick auf das Kunstsystem: Paul Kaiser: Boheme in der DDR. Kunst und Gegenkultur im Staatssozialismus, Dresden: DIK Verlag 2016.
[3] Vgl. umfassend dazu Karl-Siegbert Rehberg / Paul Kaiser (Hg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Berlin/Kassel: B&S Verlag 2013.
[4] Paul Kaiser: Wende an den Wänden. In: Sächsische Zeitung v. 18.9. 2017.
[5] Vgl. die Dokumentation des „Dresdner Bilderstreites“ in Hans-Peter Lühr: Heilsamer Crash? Der ‚Dresdner Bilderstreit‘ und seine Vorgeschichte. In: Dresdner Hefte, 36 (2018), 1, H. 133 „Wie die ‚BRD‘ nach Sachsen kam“, 1/2018, S. 69-78 sowie die Originaltexte der Debatte auf der Homepage des Dresdner Instituts für Kulturstudien.