von Christoph Classen

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14. September 2017

„Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“
Walter Benjamin, Passagen-Werk

Geschichte boomt. Anders als bisweilen behauptet tendiert unsere digitale Gegenwart keineswegs zu Geschichtsvergessenheit und Amnesie. Vielmehr ist Geschichte in der Öffentlichkeit präsent wie kaum jemals zuvor. Das ist kein Wunder: In Zeiten, die als schnelllebig und unübersichtlich erlebt werden, steigt offenbar das Bedürfnis nach historischer Orientierung, nach „Verortung in der Zeit“, wie es der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen nennt. Diese Tendenz unserer Gesellschaft lässt sich vielerorts ablesen, an historisierender Architektur und Stadtplanung, an Retrodesign und Nostalgie, an Literatur und Museen, nicht zuletzt anhand von Kinofilmen und Fernsehsendungen mit historischen Inhalten.

Gerade audiovisuelle Repräsentationen der Vergangenheit erfreuen sich anscheinend ungebrochener Popularität. Ihr anhaltender Erfolg beruht darauf, dass sie wie kaum ein anderes Medium in der Lage sind, Vergangenheit zu veranschaulichen, unterhaltsam zu präsentieren und (vermeintlich) erlebbar  zu machen. Sie bewegen emotional, vermitteln Identität, sind fester Bestandteil der historisch-politischen Bildung und haben immer wieder gesellschaftliche Debatten angestoßen. Damit prägen sie nicht nur unser Bild von der Vergangenheit, sondern beeinflussen auch Wahrnehmungen der Gegenwart sowie Erwartungen an die Zukunft. Filmische Auseinandersetzungen mit Geschichte sind somit längst zu einem zentralen Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung geworden.

"moving history" möchte diese Relevanz audiovisueller Bewegtbilder in der gegenwärtigen Kultur aufgreifen und ein öffentliches Forum für deren Präsentation, Diskussion und kritische Reflexion bieten. Im Rahmen des Festivalprogramms werden neben einem historischen Schwerpunktthema neue und zeitgenössische Dokumentar- und Spielfilmproduktionen präsentiert, hinzu kommen Events wie eine Premierenveranstaltung und ein Wettbewerb aktueller Produktionen um den Festivalpreis. Im Unterschied zu anderen Festivals stehen Filmprogramm und Wettbewerb jedoch nicht für sich, sondern durch Diskussions- und wissenschaftliche Veranstaltungen wird eine Ebene integriert, die Reflexionen aus historischer, medienwissenschaftlicher und erinnerungskultureller Perspektive ermöglicht. Ziel von „moving history“ ist es explizit, einen Diskussionsraum zu öffnen, in dem Filmemacher und –produzenten mit  Wissenschaftlern und Experten sowie einem breiten Publikum ins Gespräch kommen und die konkreten Filme ebenso wie grundsätzliche Fragen der audiovisuellen Repräsentation von Geschichte diskutieren. In Deutschland gibt es – anders als in Frankreich – bisher keine Veranstaltung, die einen solchen Ansatz verfolgt und Vergleichbares leistet.

Die anhaltende Popularität historischer Sujets hatte zur Folge, dass solche Produktionen sowohl international als auch national in den letzten Jahren einen erheblichen Teil der Gesamtproduktion von Spiel- und Dokumentarfilmen ausgemacht haben. Daran wird sich ausweislich der Produktionspläne und der Ankündigungen der Filmförderung in Deutschland auch in den nächsten Jahren nichts ändern. Zunehmend entstehen Serienformate und crossmediale Projekte z. B. „#uploading_holocaust“ (2016) als Kompilation von YouTube-Clips.  Nach wie vor erzielen historische Themen nicht nur erstaunliche Kassen- und Quotenerfolge, sondern bieten auch vergleichsweise gute Chancen in der harten Konkurrenz um Aufmerksamkeit überhaupt wahrgenommen zu werden. Die Gründe dafür können freilich durchaus unterschiedlich sein: Während der Fernseh-Mehrteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013) oder die aufwendige Kinoproduktion „Das Tagebuch der Anne Frank“ (2016) von der noch immer anhaltenden Konjunktur der NS-Thematik profitierten, lösten andere wie der polnische Spielfilm „Smolensk“ (2016) zum Teil heftige Kontroversen um das Wiedererstarken nationaler Mythen und Geschichtspolitik aus.

Ein Überblick über die Produktionen der letzten Jahre zeigt allerdings auch, dass sich das Gros der  populären Darstellungen nach wie vor durch einige spezifische Einschränkungen auszeichnen, die sich primär auf Bedingungen von Produktion und Vermarktung zurückführen lassen. Dazu gehören die Konzentration auf zumeist nationale zeithistorische Ereignisse oder Personen, die häufige Orientierung an konventionellen Dramaturgien und etablierten Meistererzählungen sowie Strategien historischer Authentifizierung, die es den Zuschauern erschweren, die nicht selten suggestiven filmischen Geschichtsbilder zu hinterfragen. Aus der Perspektive von Geschichtswissenschaft und –didaktik lassen sich hier zahlreiche kritische Fragen nach der Konstruktion von Geschichte und ihren impliziten und expliziten Voraussetzungen stellen. Umgekehrt ist jedoch auch die Zeitgeschichtsschreibung und -vermittlung ohne Bezugnahme auf audiovisuelle Quellen nicht mehr denkbar. Mehr als beide Seiten es vor dem Hintergrund von Deutungskonkurrenzen bisweilen zugeben wollen, sind Film und Geschichtswissenschaft aufeinander angewiesen.

Das moving history 01 – Festival des historischen Films findet vom 20. bis 24. September 2017 im Filmmuseum Potsdam statt. Das Progamm des Festivals sowie alle wichtigen Serviceangebote finden Sie hier.

Zum Weiterlesen:
Historische Bildung und populäre Unterhaltung. Ein Interview mit Ilka Brombach über Geschichtsfilme und das Festival moving history. In: L.I.S.A - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung vom 12.9.2017 (zuletzt 14.9.2017)
Christoph Classen, Medien und Erinnerung, In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 26.8.2008. (zuletzt 14.9.2017)

Zum Thema RAF die Themenschwerpunkte auf Zeitgeschichte-online:
Die RAF - 40 Jahre danach. Der Deutsche Herbst in der zeithistorischen Forschung, Hrsg. von Annette Schuhmann und Jan-Hendrik Schulz, 12. September 2017.
Die RAF in Zeitgeschichte und Gegenwart, Hrsg. von Jan-Holger Kirsch und Annette Vowinckel, Juli 2012