Wie hat sich der Kollaps der Sowjetunion und das Scheitern der Bemühungen um Demokratisierung für die Mitlebenden angefühlt? Dies zu vermitteln, oder wenigstens eine Ahnung davon zu geben, ist der (Selbst-) Auftrag des britischen Dokumentarfilmers Adam Curtis, den er mit seiner siebenstündigen Dokumentation TraumaZone (2022) verfolgt. Curtis stellt jeweils zu Beginn der sieben Teile seines Films die Frage: What it felt like to live through the collapse of communism and democracy?. Von den eingeblendeten Worten erscheint „democracy“ mit Verzögerung und bleibt etwas länger als der Rest sichtbar. Es geht Curtis demnach explizit nicht nur um den Zusammenbruch der Sowjetunion, sondern auch um das Scheitern der demokratischen Reformen nach 1990. Der Regisseur vermittelt seine Erklärungen und Interpretationen als Untertitel in lakonischen Sätzen. Ansonsten gibt es keine auktoriale Erzählstimme. Zu hören sind die Gespräche der Gefilmten, die Hintergrundmusik der Filmaufnahmen, der Sound der Zeit, aus der die Aufnahmen stammen. Den Zuschauenden wird die Rolle der aufmerksam Beobachtenden zugewiesen, die in einen Strom der unterschiedlichsten, schnell wechselnden Bilder und Szenen eintauchen und nie wissen, was als Nächstes kommt.
Curtis hat dafür das Archiv des Moskauer BBC-Studios nach filmischem Rohmaterial aus den Jahren 1985 bis 1999 durchforstet und in unkonventioneller Weise zusammengeschnitten. Es handelt sich um eine Komposition von Momentaufnahmen, die mal von scharfen Kontrasten, mal von zufälligen Ähnlichkeiten, wieder aufgenommenen Erzählfäden und nebensächlichen Episoden geprägt ist. In den ersten zehn Minuten wechseln Einblicke in einen Schönheitswettbewerb mit Schussübungen der Moskauer Miliz, gezeigt werden die Arbeitsbedingungen in den Kohleminen von Workuta und im Atomkraftwerk Tschernobyl, das Gerichtsverfahren gegen eine hilflose Gelegenheitsdiebin, Gorbatschows erster Auftritt als Generalsekretär, singende Parteigenossen, ein idyllisches Familienpicknick an der Wolga mit kaltem Huhn und Schaschliki, eine Familienfeier in Wolgograd und die Verabschiedung eines Sohns zum Armeedienst.
Die eingeblendete Erklärung zu all diesen Bildern lautet, dass der Kommunismus schon am Ende war, als Gorbatschow an die Macht kam. Dieser habe ihn erhalten wollen und verstand, dass nur die Modernisierung der maroden Industrie und die Erneuerung der Parteibürokratie die Situation retten könnten. Die weiteren fünfzig Minuten dieses ersten Teils, der die Jahre 1985-1989 umfasst, erzählt vom Scheitern der Reformversuche. Szenen von Kämpfen und trauernden Frauen in Afghanistan wechseln mit Schlangen vor leeren Supermarktregalen, gezeigt wird die blutige Niederschlagung der friedlichen Demonstration im April 1989 in Tiflis, versteckte Filmaufnahmen dokumentieren das blühende Geschäft mit der Prostitution im Moskauer Hotel Kosmos, die Autofabrik in Togliatti dient als Beispiel für den ersten Ausverkauf eines Staatsunternehmens, Gorbatschow sitzt einsam in einer Loge, Jelzin blickt verschlagen in die Ferne, Menschen demonstrieren gegen den KGB und die Kommunistische Partei und ein Afghanistan-Veteran beschimpft Fahrgäste in der Metro.
Der zweite Teil dokumentiert die beiden folgenden Jahre bis zum Augustputsch 1991. Bürokraten der staatlichen Planungsbehörde Gosplan erläutern trotz des um sich greifenden Chaos ihre neuesten Ideen zur Steuerung des Wirtschaftslebens, eine alte Frau besucht ihre Schwester in einem abgelegenen tief verschneiten Dorf und schleppt von dort einen Sack Kartoffeln nach Hause, der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan beginnt, in Vilnius rollen Panzer, die ersten Oligarchen bereichern sich, Banken entstehen, überall demonstrieren Menschen gegen die KPdSU, die sowjetischen Truppen verlassen Afghanistan und die Militärs sind gekränkt.
Teil drei setzt das Jahr 1991 fort. Im Mittelpunkt steht der Augustputsch. Bekannte Filmausschnitte wie die von Jelzin auf dem Panzer vor dem Weißen Haus wechseln mit den unterschiedlichsten Szenen aus verschiedenen Gebieten der Sowjetunion. Der kasachische Erste Parteisekretär bekommt eine neue Fellmütze geschenkt, im belarussischen Wald läuft ein Bär in eine Kamerafalle, der Kosmonaut Sergej Krikalew beobachtet den Untergang seines Landes von der Raumstation Mir aus und in der Westukraine findet eine feierliche Schulabschlussfeier statt. Dieser Teil endet mit der Machtübernahme Jelzins. Gorbatschow lässt sich ein Glas Wasser bringen und weint in seinem Kabinett, so teilt es eine eingeblendete Zeile mit.
Die Teile vier bis sieben sind den „wilden 1990er Jahren“ gewidmet. Die Art der Komposition bleibt dieselbe. Die chronologische Darstellung der politischen Entwicklung wird unterbrochen durch Abschnitte, die aus dem Leben einer Protagonistin oder eines Protagonisten erzählen. Eine Gefängnisinsassin schildert den von ihr verübten Todschlag und wird bei der Entlassung begleitet. Das Aufwachsen einer kleinen Überlebenskünstlerin, eines Mädchens, das sich mit Betteln durchschlägt, zieht sich bis zum Ende des letzten Teils. Der Aufstieg der neuen Reichen wird kontrastiert mit der Armut der Menschen, deren Existenzen durch die wirtschaftliche Schocktherapie vernichtet werden. Der zunehmend schwankende Jelzin erhält seine Macht, indem er das Weiße Haus beschießen lässt und einen Krieg in Tschetschenien beginnt. Eine Gruppe von Oligarchen unterstützt ihn und westliche Politiker, Wirtschaftsexperten und Diplomaten – so die subkutan vermittelte Botschaft – helfen beim Ausverkauf des Landes. Es wird getanzt, geschachert, geschossen, gemordet und gelitten. Mütter suchen ihre vermissten Söhne in Tschetschenien oder versuchen sie, zum Desertieren zu überreden. Die alten Kräfte fordern zur Rückkehr zum Kommunismus und ein vitaler Schirinowskij heizt patriotische Stimmungen an.
Im letzten Teil kommt es zum Show-Down und dem Ende aller demokratischen Hoffnungen. Die korrupten Oligarchen finanzieren die Wiederwahl Jelzins und halten damit faktisch die Macht in ihren Händen. Damit sie weiterhin ungestört der Korruption nachgehen können, suchen sie als Nachfolger im Präsidentenamt einen folgsamen Bürokraten aus, der blass in die Kamera schaut und den sie als ihre Kreatur betrachten: linkisch grienend betritt Wladimir Putin die politische Arena – damit endet der Film.
Die Aufnahmefähigkeit der Zuschauerin ist nach diesen sieben Stunden ebenfalls am Ende. Entspricht die Faszination und die Atemlosigkeit wie auch die Ratlosigkeit und Ermattung, die der Film hervorruft, dem Gefühl jener Zeit? Geht es uns als Betrachterinnen und Betrachter so ähnlich wie jenen, die diese Zeit durchlebten haben, aber nicht fassen konnten, was sich um sie herum in rasendem Tempo abspielte? Für die kollektive Wahrnehmung mag dies zutreffen. Genau diese Szenen und Bilder flimmerten unentwegt und ungefiltert über die Bildschirme, füllten die neuen Zeitungen, die in Millionenauflagen an jeder Ecke zu kaufen waren. Deckt sich die Darstellung des Endes des Kommunismus aber auch mit den Erfahrungen der Einzelnen? Dies zu beurteilen, ist weitaus schwieriger. Zu unterschiedlich fielen die individuellen Schicksale aus. Was für den einen eine existentielle Bedrohung darstellte, war für einen anderen eine große Befreiung. Für manche änderte sich das ganze Leben, für andere Leute lediglich das Warenangebot.
Curtis suggeriert mit seinem fragmentierten Panorama, dass er eine objektive Zusammenschau bietet. Er überlässt es scheinbar der Bildgewalt der Szenen, die Geschichte vom Ende der Sowjetunion zu erzählen. Die von ihm getroffene Auswahl, die Auslassungen, die Art der Zusammenstellung und die apodiktische Weise, mit der er den Lauf der Ereignisse kommentiert, zeugen jedoch vom Gegenteil. Curtis hat eine starke Meinung zum Zusammenbruch des Kommunismus und es ist ihm ein Anliegen, seine Position zu vermitteln. Kurz zusammengefasst lautet sie, dass der Kommunismus nicht das schlimmste Übel war. Vielmehr war es der Neoliberalismus, der folgte, der die größere Katastrophe für die Menschen bedeutete. Der Planlosigkeit Gorbatschows und der Trunksucht und Machtgier Jelzins sei zu verdanken, dass einige skrupellose Geschäftsmänner mit Unterstützung des Westens die Situation zur eigenen Bereicherung nutzten und Russland an den Rand des Untergangs brachten.
Mit dem Schicksal der anderen Sowjetrepubliken geht Curtis nachlässig um, manchmal entsteht der Eindruck, sie gehörten nach 1991 immer noch zu Russland. In der Ukraine lässt er unvermittelt Neonazis auftreten und zeigt eine Schlägerei im Parlament, der Herrscher von Turkmenistan hat nichts Besseres zu tun, als sein bestes Pferd an den englischen Premierminister zu schenken. Allerdings lassen diese Schlenker das ungute Gefühl aufkommen, dass Curtis zu sehr einem im heutigen Russland gepflegten Narrativ aufgesessen ist: Putins Gefolgsleute haben zwanzig Jahre lang an der Verteufelung der Gorbatschowschen und Jelzinschen Politik gearbeitet. Vor dem Hintergrund des stetig beschworenen Chaos der 1990er Jahre ließ sich die massive Beschneidung von Freiheitsrechten als Maßnahmen zur Stabilisierung des Staates legitimieren. Die Diskreditierung und Entmachtung der ersten Riege von Oligarchen lenken davon ab, dass damit die korrupten Geschäfte nicht aufhörten, sondern seitdem an der Spitze des Staates zusammenliefen. Der Film will Verständnis dafür wecken, dass die russische Bevölkerung nach den Verwerfungen der 1990er Jahre eine autoritäre Führung befürwortetet. Dieses Anliegen ist verständlich. Und dennoch: Empathie haben weitaus mehr diejenigen verdient, die sich gegen den Zynismus und die Scheinheiligkeit der russischen Politik gestellt haben und weiterhin an die Möglichkeit zu selbstbestimmtem Handeln glauben – sei es in Russland oder der Ukraine.
Russia 1985–1999: TraumaZone: What It Felt Like to Live Through The Collapse of Communism and Democracy. Part 1-7. Regie: Adam Curtis, Großbritannien 2022 (+++Achtung Triggerwarnung: In einigen Teilen der Dokumentation geht es um Kriege und Gewalt+++)