von Anna Kokenge

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9. August 2019

Christian Petzolds Romanadaption Transit ist ein Gegenentwurf zum konventionellen Geschichtskino

 

Wie kann man die Geschichte der Flüchtlinge, die im Zweiten Weltkrieg in Marseille strandeten, in einem Dschungel von Transits, Visa und Passagen, erzählen? Welche Bilder könnten von ihrer Heimatlosigkeit und Entwurzelung zeugen, wie ließe sich ihre Suche nach Menschlichkeit, ihre Suche nach Identität beschreiben? Wie muss man die Geschichte dieser Flüchtlinge vielleicht sogar erzählen, gerade auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Gegenwart, die einerseits erneut von einem Erstarken rechtspopulistischer und faschistischer Bewegungen geprägt ist sowie anderseits vor der Herausforderung steht, mit einer Migrationsbewegung umzugehen, die nur allzu oft als “Flüchtlingskrise” bezeichnet wird und Ausdruck eines nicht bewältigten Globalisierungsprozesses ist, dessen Herausforderungen traditionelle Grenzen und Zugehörigkeiten fortlaufend infrage stellen? Der Regisseur Christian Petzold versucht sich in seiner Verfilmung von Anna Seghers‘ autobiografisch geprägtem Roman Transit an einer Reflexion über diese Fragen.

Die Filmkritik zeigte sich größtenteils begeistert ob des mutigen Ansatzes, den der Filmemacher wählte und mit dem er sich weit von den üblichen Literaturverfilmungen und Historiendramen der deutschen Filmlandschaft distanzierte. Transit lässt sich lesen als eine Einladung, Geschichte aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel heraus zu betrachten, und mahnt, „dass Flucht mitnichten etwas Außergewöhnliches ist, was nur anderen passiert.“[1].

 

In der Hölle

 

„Ein Mann ist gestorben. Er soll sich in der Hölle melden. Er wartet vor einer großen Tür. Er wartet einen Tag, zwei, er wartet Wochen, Monate, ein Jahr. Irgendwann geht ein Mann vorbei. Der Wartende fragt: ‚Können Sie mir helfen? Ich soll mich in der Hölle melden.‘ Der Andere betrachtet ihn von Kopf bis Fuß und sagt: ‚Aber mein Herr, das ist die Hölle hier.‘“

 

Die Hölle ist ein Warteraum, ein Zwischenreich, ein Ort ohne Vergangenheit und Zukunft. Damit wird sie in Christian Petzolds Film zugleich zu einem Transitraum, denn die Flüchtlinge, die sich in letzterem aufhalten, können nicht zurückkehren in ihre Vergangenheit, ihre Heimat und ihr altes Leben, man verwehrt ihnen jedoch gleichsam das Weiterreisen in eine Zukunft oder ein dauerhaftes Einrichten im Hier und Jetzt der Gegenwart. Sie sind gefangen zwischen gestern und heute, Leben und Tod. Sie fallen aus Zeit und Raum, verlieren ihre Identität und drohen, sich in Gespenster zu verwandeln.[2] Die Protagonist*innen des Films können dem entgegenwirken, indem sie das Zwischenreich mit einer Geschichte füllen, die dann zu ihrer Geschichte wird. Die Geschichte ist im Film geschrieben von einem Schriftsteller, der mit der obigen Parabel sein letztes Manuskript und bald darauf sein Leben beendete, sie ist identisch mit einer Geschichte von Anna Seghers, es ist ihr Roman Transit. Der Protagonist des Films, Georg, findet das Manuskript bei dem toten Schriftsteller Weidel und sich darin ebenso wieder wie der Barkeeper, dem er die Buchseiten später übergibt und der zugleich zum Erzähler des Films wird. Immer wieder setzt sein Kommentar aus dem Off ein, nicht selten weichen seine Beschreibungen von dem ab, was tatsächlich auf der Leinwand zu sehen ist. Der Barkeeper idealisiert die Geschichte von Georg und Marie, die sich inmitten der Wirren des Krieges kennenlernen und zugleich verlieren. Er erzählt die Geschichte als eine Liebesgeschichte in der Zeitform des Präteritums, sodass das unmittelbar im Filmbild Gezeigte zugleich als Vergangenes markiert wird. Der so erzeugte Transitzustand, er wiederholt sich auf vielen Ebenen des Films. „Transit“, das kann ganz allgemein „Durchquerung“ heißen, aber auch ganz konkret die „Durchreise von Personen durch ein Drittland“ beschreiben und das Dokument bezeichnen, das diese gewährt.

 

Auf der Flucht

 

Im Mittelpunkt der Filmhandlung steht Georg (Franz Rogowski), ein junger Mann, der im besetzten Paris damit beauftragt wird, dem Schriftsteller Franz Weidel einen Brief zu überbringen. Dieser hat sich allerdings das Leben genommen und so kann Georg nur die persönlichen Dokumente und das letzte Manuskript des Schriftstellers an sich nehmen. Als er die Unterlagen nach seiner Flucht aus Paris in Marseille im Konsulat abgeben möchte, wird er durch ein Missverständnis für den Schriftsteller gehalten und nimmt dessen Identität an, zumal ein Visum und eine Schiffspassage für Letzteren bereitliegen.  Immer wieder begegnet Georg in Marseille auch einer jungen Frau, in die er sich bald verliebt. Marie (Paula Beer) will Marseille verlassen, er will sie mitnehmen, aber sie weigert sich zu gehen. Ihr Mann, von dem sie sich in einem Brief getrennt hatte, soll in Marseille sein – man hat es ihr gesagt, auf dem Konsulat, im Café, überall wo Georg ist, soll er gerade gewesen sein, und sie will, sie kann nicht ohne ihn gehen. Marie ist die Frau des Weidel, die Briefe, die Georg bei ihm fand, sind von ihr. Liebt sie den Schriftsteller? Oder ist es die Schuld, die sie empfindet, weil sie ihn verließ, die sie dazu bringt, an dem Glauben festzuhalten, ihr Mann lebe und sie könne ihn finden? Schließlich lebt sie bei Richard (Godehard Giese), einem Arzt, der sie damals dazu veranlasste, ihren Mann zu verlassen und mit ihm aus Paris zu fliehen. Richard will ebenfalls gehen, er wird erwartet in einem Krankenhaus. Und dann gibt es noch Melissa (Maryam Zaree) und Driss (Lilien Batman) aus dem Maghreb, die Freundin von Georgs verstorbenem Kameraden Heinz und ihren kleinen Sohn. Auch sie sind bedroht von den naherückenden Faschisten und planen eine Flucht. Das Kind hofft, Georg könne mit ihnen gehen, an des Vaters statt. Georg aber zögert, und eines Tages trifft er eine Gruppe anderer Flüchtlinge in ihrer Wohnung an. Auch andere Wartende begegnen ihm immer wieder und verlassen ihn in ebenso unerwarteten Momenten, der Kapellmeister (Justus von Dohnányi) etwa, oder die Frau mit den zwei Hunden (Barbara Auer), die auf den Botschaften und Konsulaten verzweifelt versuchen, alle Dokumente zusammenzubekommen, die sie brauchen, um ein rettendes Schiff in Richtung Freiheit erreichen zu können. Das Schiff aber, es wird nirgends ankommen. Schon das Manuskript, das Georg anfangs in der Wohnung des Schriftstellers findet, gibt Auskunft darüber, welches Ende das Schiff finden wird, für welches Georg Marie eine Passage besorgen wird. Der Romananfang, „Die Montréal soll untergegangen sein“[3], ist in einer Einstellung früh im Film zu sehen. Die Protagonist*innen, sie sind eingeschlossen in Marseille, in einer Stadt, die Sehnsuchtsort und Gefängnis ist, einer Stadt, in der Raum und Zeit zusammenfließen. Schon Anna Seghers deutet diese Überlagerung der Zeitebenen in ihrem Roman an.

 

„In vielen Sprachen schlug [das] Geschwätz an mein Ohr: von Schiffen, die nie mehr abgehen würden, von angekommenen, gescheiterten und gekaperten Schiffen […]. Uraltes frisches Hafengeschwätz, phönizisches und griechisches, kretisches und jüdisches, etruskisches und römisches.[4]

 

Ihr Protagonist – seinen Namen erfährt der Leser nie (und auch beim Georg des Films lässt sich bezweifeln, dass er wirklich ist, wer er zu sein scheint – in seinem Ausweis ist er der Kommunist Georg Glaser) – ist eine Odysseusfigur, der Kapellmeister, dem immer wieder ein Dokument zu fehlen scheint, ein Sisyphus, und die allein Reisende mit ihren Hunden wird vom Erzähler eine Diana genannt. Die Protagonist*innen erscheinen als mystische Figuren, auf ewig Umherreisende.

 

Zwischen gestern und heute – Geschichte im Transit-Raum

 

Petzold löst den Roman – dieser Idee folgend – heraus aus seiner unmittelbaren Entstehungszeit der frühen 1940er Jahre und platziert die Protagonist*innen von damals im Marseille von heute. Das Setting ist gegenwärtig, gleichwohl einige Requisiten historisch sind und sich eindeutig der Zeit des Nationalsozialismus zuordnen lassen. Briefe und Pässe entstammen augenscheinlich der Vergangenheit, doch die Kulisse ist eine moderne Stadt mit Überwachungskameras an den Laternen und Graffitis an den Wänden. Die Protagonist*innen tragen Kostüme, die durch ihre klassischen Schnitte in den 1940er Jahren ebenso existiert haben mögen, wie sie sich fraglos in die Gegenwart einfügen lassen. Der historische Stoff gewinnt so etwas Allgemeingültiges und der Film verweist zugleich auf die zahlreichen Parallelen zwischen gestern und heute, ohne die Schicksale der damaligen Exilant*innen und der heutigen Asylbewerber*innen gleichzusetzen. Die Zeitebenen scheinen sich vielmehr zu überlagern. Es wird gleichsam ein Transit-Raum auf zeitlicher Ebene geschaffen. Dadurch wird eine Unmittelbarkeit des Geschehens evoziert, ohne dass die Zeitebenen plakativ gleichgesetzt würden. Die Fluchtthematik wird zu einem überzeitlichen Phänomen.

Der Regisseur – sich bereits in früheren Filmen auf geschichtsphilosophische Ideen wie Benjamins "Engel der Geschichte" beziehend – begründet sein Konzept, indem er sich auf Adorno beruft, wenn er sagt: "Es gibt ein sehr schönes Zitat von Adorno, der die Hegel-Vorlesungen in Frankfurt mit dem Satz einleitet: 'Auf die Unverschämtheit der Frage, was uns Hegel heute bedeutet, kann man nur antworten, was bedeuten wir vor Hegel?'" und ausführt: "so ähnlich sehe ich mein Verhältnis zur Historie. Was bedeuten wir vor der Historie?"[5] Transit lässt sich entsprechend verstehen als eine Intervention, die unsere Sichtweise auf die Geschichte verändern und uns auffordern möchte, uns nicht in einer überlegenen Position zu wähnen.  Diese moralische Positionierung verlangt dem Film zugleich ab, ein Gegen-Narrativ zu etablieren zu den Geschichtsbildern, die den Zuschauer*innen vertraut sind. Das Geschichtskino, wie es in Deutschland am kommerziell erfolgreichsten ist, begnügt sich für gewöhnlich damit, Geschichte in einer akribisch nachgebauten Kulissenlandschaft nachzuspielen und sie mit dem Abspann zugleich als abgeschlossen erscheinen zu lassen. Die Zuschauer*innen können sich in derlei Produktionen zufrieden zurücklehnen, nehmen sie die Geschichte doch aus der Distanz zum Damaligen wahr und können sich beruhigen, heute in anderen, in demokratischen Zeiten zu leben. In Transit werden die Anhänger*innen des Event-Nazi-Kostüm-Films im Gegensatz dazu direkt in ihrer Welt mit den historischen Figuren von damals konfrontiert und müssen sich fragen lassen, wie sie durch ihr Verhalten vor diesen dastehen – und damit auch ganz allgemein – wie ihre Gesellschaft vor der Geschichte dasteht. Transit ist Teil einer Trilogie zum Thema „Liebe in Unterdrückungssystemen“, die sich immer stärker vom konventionellen Geschichtskino emanzipiert und zunehmend expliziter die stets mitgedachte Gegenwart ins Bild gerückt hat.

 

Gespenster und Geschichte

 

In seinem Film Barbara, der die Geschichte einer zunächst fluchtwilligen Ärztin Anfang der 1980er Jahre in der DDR erzählt und der von Petzold als ambivalentes Gegennarrativ zu Das Leben der Anderen angelegt wurde, rekonstruiert der Regisseur die DDR, schafft eine akribisch recherchierte historische Umgebung für seine Figuren und vermag es zugleich, auf die üblichen abgedroschenen Erinnerungsikonen und Honeckerporträts zu verzichten. In den Kritiken, die überwiegend positiv ausfielen, wurde er dabei fast nur an der „Authentizität“ seines Settings gemessen und in der Folge entspannen sich relativ ausufernde Diskussionen beispielsweise darüber, ob es nun Auberginen gab in der DDR oder nicht.[6] Seine eigentlichen Intentionen blieben – wie die auch in diesem Film mitzudenkenden Kontinuitätslinien zur Gegenwart – weitestgehend unberücksichtigt.

Vielleicht nicht zuletzt, um sich kritisch zu dieser Rezeption zu positionieren und mit dem konventionellen Geschichtskino noch durchschlagender zu brechen, erzählte Petzold in Phoenix eine Kolportagegeschichte. Der Film erzählt von einer KZ-Heimkehrerin, die sich einer Gesichts-Operation unterziehen muss und nach ihrer Rückkehr von ihrem Mann nicht mehr erkannt wird. Da dieser aber durchaus Ähnlichkeiten zu der Frau sieht, die er verriet und von der er sich während des Krieges scheiden ließ (erneut eine Parallele zu Transit), bittet er die Fremde zu bleiben und mit ihm eine Rückkehr seiner Frau aus dem KZ zu inszenieren – eine Rückkehr mit gefärbtem Haar und rotem Kleid, die Rückkehr einer Diva nach dem Vorbild Hedy Lamarrs. Kritiker*innen fanden das geschmacklos und übersahen ganz offensichtlich, dass hier ein Narrativ, das nur allzu oft im Holocaustspielfilm bemüht wird, als Inszenierung entlarvt wird, die Figur im Grunde ein Gegenentwurf ist zu der von Hildegard Knef verkörperten KZ-Heimkehrerin, die zu Beginn von Die Mörder sind unter uns unbeschadet und in nagelneuem Trenchcoat einem Zug entsteigt. Zudem kritisierten viele der Rezensent*innen, die Handlung sei unglaubwürdig, schließlich müsste der Mann seine Frau trotz des entstellten Gesichts doch auch anhand anderer Merkmale identifizieren können.[7] Eine symbolische Ebene, auf der der Mann sie nicht erkennen kann, weil er damit auch seinen Verrat und seine Schuld erkennen müsste, missachten die meisten. Das konkrete historische Setting und das parabelhafte Porträt der Nachkriegsgesellschaft können deutsche Kritiker*innen offenbar nicht zusammendenken. Im Ausland war der Film, der mit den Genres vergangener Zeiten spielt und eine ganz eigene Version von Alfred Hitchcocks Vertigo erzählt, hingegen ein großer Erfolg. Die Plausibilität des Gezeigten, die Wahrscheinlichkeit, wurde in Phoenix von den deutschen Kritiker*innen zum Kriterium erhoben, wie in Barbara zuvor die historische Authentizität. Die historischen Kulissen und die Rekonstruktion eines alten Filmgenres, die noch in Phoenix den Hintergrund bildeten, sie erfahren in Transit eine radikale Dekonstruktion.

Die Briefe in Sütterlin und die modernen Polizeistaffeln, sie offenbaren schon in den ersten Szenen, dass dieser Film kein Geschichtsfilm ist, der eine zeitgetreue Umgebung schaffen möchte. Der Anspruch des Films ist nicht das, was in Kritiken gern als „Authentizität“ gepriesen wird und die historisch akribisch recherchierte Rekonstruktion der Ausstattung, der Kostüme meint. Ebenso wenig intendiert ist es, eine Wahrscheinlichkeit des Dargestellten glaubhaft zu machen. Es geht um das Aufzeigen der historischen Bedingtheit von Orten, der parallelen Existenz von Geschichte und Gegenwart und die Verantwortung, die Letztere gegenüber Ersterer trägt. In einem Interview spricht Christian Petzold von Stolpersteinen. Sie seien für ihn die großartigsten Kunstwerke,[8] denn sie würden das Gestrige im Heutigen offenbaren. Dieses Ziel ist es schließlich auch, was alle seine historischen Filme verbindet und was in Transit vielleicht am augenfälligsten visualisiert wird. Der Film entfaltet durch seine Protagonist*innen, ihre Dialoge, die sich nicht zuletzt auf nonverbaler Ebene durch ihre Blicke, ihre Körpersprache, den Rhythmus ihrer Bewegungen, vollziehen, ein  Kaleidoskop von Menschen im Transit, das einen Ausnahme-Zustand widerspiegelt, der keineswegs historisch und abgeschlossen ist, sondern sich in einer sich globalisierten Gegenwart weiterhin als Alltag großer – und weiter wachsender - Bevölkerungsgruppen erweist.

 

Auf der Suche nach Menschlichkeit

 

„Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“[9],

 

So beschrieb Hannah Arendt die Situation der Geflüchteten 1943 in ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“. Transit befasst sich mit diesem Zustand fehlender Identität. Der Protagonist Georg ist zu Beginn ein Mann ohne Eigenschaften. In kurzer Zeit muss er lernen, was es heißt, zu lieben, Verantwortung zu übernehmen, Solidarität zu beweisen, Schuld zu empfinden, Mensch zu sein und menschlich zu handeln. Alles was er bei sich hat, ist ein Rucksack mit wenigen Habseligkeiten und dem Nachlass des Schriftstellers, und es scheint, als habe er sich nicht nur seines materiellen, sondern auch seines immateriellen Gepäcks größtenteils entledigt. Vielleicht bedarf es der Verdrängung des Vergangenen, um nicht der Melancholie zu verfallen. Und doch blitzt seine Vergangenheit in einigen Szenen auf, v. a. dann, wenn er mit dem Jungen Driss ein Radio repariert, arbeiten kann in dem Beruf, den er gelernt hat, und dann im Radio ein Lied hört, das ihm seine Mutter als Kind vorsang. Er teilt sich mit und tauscht sich aus. Seine Identität erlangen, das kann er nur durch die Erzählung und den Austausch mit anderen, durch die Sprache.

Auf seiner illegalen Reise nach Marseille, auf der Flucht vor den Faschisten, die in Paris eingefallen sind, im leeren Raum eines Frachtzuges, im Transit, als sein Freund Heinz neben ihm stirbt – eine Überfahrt also auch in endgültiger Hinsicht sich vollzieht –  liest Georg das Manuskript des Schriftstellers. Das Manuskript zieht Georg hinein in die Erzählung und erinnert ihn zurück an die Sprache, die einmal seine eigene gewesen war, bevor sie von den Nazis vereinnahmt wurde. Der Erzähler (Matthias Brandt), der die Geschichte erzählt, gibt Georg hierdurch ein Zuhause, wo er doch eigentlich lange schon keines mehr hat. Dass der Erzähler Barkeeper ist, ist nur konsequent, denn die Orte, an denen sich die Handlung zuträgt, sind vor allem solche, die sich zum Aufenthalt, und nicht solche, die sich zum Leben eignen: Cafés, Hotels und – am zermürbendsten – die Wartebereiche der Konsulate und Botschaften. Das Transit-Motiv in Petzolds Film, es ist nicht nur zeitlicher, sondern auch räumlicher Natur. Die Stadt Marseille, in ihrer jahrhundertealten Hafenstadt-Tradition, ist in ihrem Stadtbild ein Wechselspiel historischer und neuzeitlicher Gebäude. Auch hier darf es wohl nicht als Zufall gelten, dass eine der Filmfiguren, die Frau mit den zwei Hunden, der Architektur wegen nach Marseille kam und ausgerechnet für den französischen Architekten Rudy Riciotti schwärmt. Wer sich auskennt in Marseille, der weiß, dass sie im Film während ihrer begeisterten Ausführungen zur Architektur das Musée des Civilisations d’Europe et de Méditerranée passiert, Riciottis 2013 eröffneten Museumsbau, der das kantige Museumsgebäude mittels einer Brücke mit dem aus dem 12. Jahrhundert stammenden historischen Fort Saint-Jean verbindet.[10] Ein Transit, er vollzieht sich auch dort, und das erneut in doppelter Hinsicht – denn die Architektin, sie stürzt sich nach ihrem enthusiastischen Vortrag über Riciotti, vom Museum hinunter in den Tod. Vielleicht wird sie durch diesen Akt gleichsam zur Architektin ihrer Identität, (re-)konstruiert ebendiese, vielleicht ist das die einzige Entscheidung, die ihr noch freisteht, selbst über ihr Leben zu verfügen. Und nicht nur an dieser Stelle ahnt der*die Zuschauer*in, dass – wie Christa Wolf es zu Seghers‘ Roman formulierte – mit dem Transit, „nach dem alle diese Menschen auf der Jagd sind“ nicht nur „die Durchfahrt in ein bestimmtes Land“ gemeint ist, sondern „,dass da ein ganz anderes Bestimmungsland immer mitgemeint ist.”[11]

 

Klare Worte zur Gegenwart

 

Die Väter des Grundgesetzes haben den Asylparagraphen in unser Grundgesetz geschrieben aus der Erfahrung, die auch Anna Seghers in Marseille gemacht hat. […] Dass wir diesen Paragraphen nun beschneiden, geht nicht.“[12] 

 

So der Regisseur Christian Petzold, als er Transit auf der diesjährigen Berlinale vorstellte. Tatsächlich gab es im parlamentarischen Rat seinerzeit keine kontroversen Diskussionen darüber, das Asylrecht so zu gestalten, wie es damals im Grundgesetz festgeschrieben wurde, die Sinnhaftigkeit der Unumschränktheit war allgemein anerkannt. „Dieser Grundsatz stand ganz in der Verpflichtung jener Erfahrungen, die Deutsche während ihrer Emigration in der Nazi-Zeit gemacht hatten. […] Im Ausschuss war die Aufnahme des Artikels nie umstritten.“[13] Transit als eine Intervention gegen die Verschärfung des Asylrechts zu verstehen, liegt nahe, verweist der Film doch auf Zeitlosigkeit der Fluchtthematik. Die Verantwortung unserer Gesellschaft gegenüber den Flüchtlingen von damals, sie ist vermutlich das Kernthema des Films. Das Zeugnis, das der Film ihr ausstellt, ist dabei kein gutes, erinnern die Menschen in Marseille, gefangen in ihrem Einkaufswahn, den Barkeeper doch sogar an den Zombiefilmklassiker Dawn of the Dead.

 

 „Das ist ja das Furchtbare, nicht dass sie dich anstarren, dein schmutziges müdes Gesicht, deine abgerissene Kleidung. Das Furchtbare ist, dass sie dich nicht sehen, dass du gar nicht da bist in ihrer Welt.“

 

So schildert der Erzähler im Film die Ankunft Georgs in Marseille. Tatsächlich ist auf der Leinwand zu sehen, wie zunächst niemand Notiz zu nehmen scheint von dem jungen Mann, der dort vor einem Stadtplan steht. Niemand, außer das Auge einer Überwachungskamera, die ihn einfängt in einer profanen, trostlosen, verschwommenen Schwarz-Weiß-Einstellung. Gesehen werden die Protagonist*innen zumeist nur von jenen, die sie verhaften, befragen oder lautstark denunzieren. Gezeigt wird der Umgang der Gesellschaft mit Geflüchteten, der sich auch in der Gegenwart kaum verändert hat. Es ist schockierend, wie wenig es irritiert, dass dort Menschen in unserer Umgebung stehen, die auf der Flucht sind vor Faschisten, die niemand aufnehmen möchte, denen niemand zuhört, die niemand sieht. Das Ignorieren oder gar Kriminalisieren, das dazu führt, dass die Geflüchteten nicht als Teil „ihrer Welt“ erscheinen, evoziert den Eindruck, sie seien Teil einer anderen Welt, sie formierten eine Parallelgesellschaft. Die Ausprägung solcher Parallelgesellschaften zu verhindern, die Segmentierung aufzuheben, zur Integration von Geflüchteten beizutragen, sollte aber ein zentrales Anliegen einer demokratischen Gesellschaft sein.  

 

Der Film ist ein Plädoyer für ein menschlicheres Miteinander und für das Erzählen. Das anfängliche Zitat – auch eine abgewandelte Stelle des Romans – es beschreibt die Hölle als einen Ort der Namen- und Geschichtslosen. Zu befreien sind sie nur, wenn sie erzählen dürfen und ihre Geschichten auch weitererzählt werden. Die Geschichte ist nicht abgeschlossen, sondern sie reicht in die Gegenwart hinein. Es gilt, sie als Aufgabe zu begreifen.

 

 

[1] Beatrice Behn: Transit, in: Kino Zeit, 05.04.2018, (abgerufen am 9.08.2019).

[2] Vgl. Christian Petzold: Director´s Statement, in: Arne Höhne (Hrsg.): Transit. Presseheft, Berlin 2018, S. 4.

[3] Anna Seghers: Transit, Berlin 162015 [erstmalig 1947], S. 5.

[4] Ebd., S. 268-269.

[5] Benno Feichter: Interview mit Christian Petzold. Transit. Kino im Spiegel der Geschichte, 30.04.2018, in: ORF Online, (abgerufen am 9.08.2019).

[6] Vgl. exemplarisch: Stefan Schirmer/Martin Machowecz: Was es da an Irren gab!, in: Die ZEIT, 31.01.2013,(abgerufen am 9.08.2019).

[7] Vgl. exemplarisch: Georg Dietz: Was soll das? Christian Petzolds Film Phoenix über das Verdrängen im Nachkriegsdeutschland ist bleiernes Knallchargentheater, in: Der Spiegel, Nr. 39 (2014), S. 127, (abgerufen am 9.08.2019).

[8] Vgl. Interview mit Christian Petzold, in: Arne Höhne (Hrsg.): Transit. Presseheft, Berlin 2018, S. 7.

[9] Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge, in: Marie-Luise Knott (Hrsg): Hannah Arendt. Politische Schriften, Hamburg 1999, S. 7-20, hier S. 7-8.

[10] Vgl. Lanie Goodman: Ground Breaker, in: New York Times, 17.09.2012, (abgerufen am 9.08.2019).

[11] Vgl. Christa Wolf: Transit: Ortschaften, in: Christa Wolf/Anna Seghers: Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays, Berlin 2003, S. 152-167, hier S. 157.

[12]Vgl. Ausschnitt der Pressekonferenz auf dem YouTube-Kanal der FAZ im Video „Fluchtdrama Transit: Christian Petzold hofft auf den Goldenen Bären“ (Zitat ab Min. 0:32), (abgerufen am 9.08.2019).

[13] Michael F. Feldkamp: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2008, S. 78.