Gdańsk, 16. August 1980: Die Belegschaft der „Lenin-Werft” befindet sich seit drei Tagen im Streik. Ausschlaggebend für den Streik ist die Entlassung der Kranführerin und Aktivistin Anna Walentynowicz. Unter den Werftarbeiter*innen ist sie eine hochgeschätzte und bekannte Kollegin, deren Entlassung für viele nicht hinnehmbar ist. Am darauffolgenden Tag solidarisieren sich Mitarbeiter*innen weiterer Betriebe, der Werft in Gdynia sowie des öffentlichen Nahverkehrs und beginnen ebenfalls zu streiken.
Doch bereits am dritten Tag droht das Ende des Streiks in der Lenin-Werft, nachdem das neu gegründete „Międzyzakładowy Komitet Strajkowy“ (Überbetriebliches Streikkomitee – MKS) das Angebot einer Lohnerhöhung um 1500 zł annehmen will. Das MKS ist uneinig, da zentrale politische Forderungen wie die Gründung freier Gewerkschaften, Entlassung politischer Gefangener und Meinungsfreiheit unerfüllt blieben. Der Elektriker und Streikführer Lech Wałęsa verkündet widerwillig das Streikende, nachdem sich die Mehrheit dafür ausgesprochen hatte. Die Kranführerin Anna Walentynowicz und die Krankenschwester Alina Pienkowska beschließen aus Solidarität zu den anderen streikenden Betrieben, trotz der Entscheidung des MKS den Streik weiterzuführen und hindern die Arbeiter*innen am Verlassen der Werft. Unabhängig von dieser Aktion halten zwei weitere Frauen, die Straßenbahnfahrerin Henryka Krzywonos und die studentische Aktivistin Ewa Ossowska, an den anderen Toren die Werftarbeiter*innen auf und fordern sie zu einem Solidaritätsstreik auf.[1] Am 31. August werden alle 21 Forderungen des MKS angenommen, im „Danziger Abkommen“ festgehalten und die erste freie, überregionale Gewerkschaft „Solidarność“ gegründet.[2]
Das Kriegsrecht 1981 bis 1983 und die Zeitung „Tygodnik Mazowsze”
Dieser kurze Einblick in den Streik auf der „Lenin-Werft” im August 1980 zeigt, dass Frauen maßgeblich an der Entstehung der Solidarność beteiligt waren. Ohne die Einmischung der genannten vier Frauen wäre der Streik am dritten Tag beendet gewesen. Eine freie Gewerkschaft wäre nie gegründet worden. Die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder war weiblich.[3] Auch während des Kriegsrechts in den Jahren 1981-1983 besetzten weibliche Aktivist*innen in der Untergruppierung „Solidarność Walcząca“ (Kämpfende Solidarność) sowohl auf regionaler als auch auf nationaler Ebene leitende Posten und führten die Arbeit der Gewerkschaft im Untergrund weiter.[4] Helena Łuczywo, Ewa Kulik und weitere Frauen produzierten, publizierten und vertrieben die Zeitung “Tygodnik Mazowsze”, die zum wichtigsten publizistischen Organ der Solidarność bis 1989 wurde.[5] Und dennoch kreist die nationale Erinnerung an die vor 40 Jahren gegründete erste unabhängige Gewerkschaft Polens um ihre männlichen Protagonisten. Dazu gehören insbesondere der Friedensnobelpreisträger und spätere Präsident Lech Wałęsa und weitere bekannte Männer wie Tadeusz Mazowiecki, Adam Michnik, Jacek Kuroń und schließlich Lech Kaczyński.
Die Erinnerung am historischen Ort der Gewerkschaftsgründung
Diese Perspektive zeigt sich beispielsweise in der Dauerausstellung des 2014 eröffneten „Europejski Centrum Solidarności“ (Europäische Solidarność Centrum – ECS). Sowohl der Standort als auch die allgemeine Bedeutung, die Museen in der polnischen Geschichtspolitik zugeschrieben wird, geben den im ECS vermittelten Inhalten erinnerungskulturelle Deutungshoheit. Die Ausstellungsnarrative sind demnach auch für den nationalen Kontext in der Erinnerung an die Solidarność wichtig.
In der gesamten Dauerausstellung wird zwar nicht explizit gesagt, dass nur Männer an den Ereignissen teilnahmen, aber im Gegensatz zu den Frauen werden diese namentlich erwähnt, finden Repräsentanz auf der Bildebene, werden mit Hilfe von Objekten visualisiert oder kommen häufiger als Experten zu Wort.
Dadurch entsteht bei Besucher*innen der Eindruck, dass es sich bei den Werftmitarbeiter*innen und Solidarnośc-Mitgliedern hauptsächlich um Männer gehandelt habe.
Frauen wie Pienkowska, Krzywonos oder Ossowska kommen in der Ausstellung weder in Interviews noch in zeitgenössischen Videos oder in Form von selbstverfassten Texten zu Wort. Eine Ausnahme bildet nur Anna Walentynowicz. Durch die vermittelten Geschlechterbotschaften, die Männer als aktive Solidarność-Mitglieder und Frauen vor allem als (passive) Unterstützerinnen des Protests charakterisieren, wird die Geschlechterordnung der polnischen Gesellschaft bestätigt und fortgeschrieben. Die männlichen Solidarność-Mitglieder werden als „Helden“ gefeiert, die Frauen dagegen übernehmen die traditionelle, unterstützende Rolle der „Matka Polka“.
Sieht man mit Katrin Pieper das Museum als „Motor der Erinnerungskultur, das Debatten anheizt und zum Wandel von dieser beiträgt“[6] lässt sich feststellen, dass das ECS tradierte stereotype Geschlechterrollen vermittelt und somit auch die nationale Rezeption der Solidarność mitprägt.
Staatlich finanzierte Geschichtspolitik des „Institut Pamięci Narodowej“
Das im Jahr 1998 gegründete, aus staatlichen Mitteln finanzierte „Institut Pamięci Narodowej“ (Institut für nationales Gedenken – IPN) verfolgt das selbst erklärte Ziel, „Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Patriotismus“[7] in die Gesellschaft zu tragen. Dabei steht die Erinnerung an eine opferreiche und gleichzeitig heldenhafte polnische Vergangenheit im Mittelpunkt der Vermittlungsbestrebungen. Im Jahr 2016 erfolgte unter der rechtskonservativen PiS-Regierung eine Novellierung des IPN-Gesetzes, das den Umbau des Instituts zu einem zentralen Instrument der patriotischen Geschichtspolitik ermöglichte. Es ist nun eine von der Geschichtswissenschaft an den polnischen Universitäten und wissenschaftlichen Instituten weitgehend separierte Einrichtung für staatliche Geschichtspolitik.[8] Die Arbeitsbereiche des IPN decken u.a. Publikationen, Konferenzen, Ausstellungen, Filme, Websites und Gedenkveranstaltungen ab. In den Jahren 2014 bis 2019 beschäftigten sich alle genannten Arbeitsbereiche intensiv mit der Solidarność. Die Frauen der Gewerkschaft stehen dabei jedoch fast durchgehend im Hintergrund. Im Rahmen der „Meistererzählung“ der Solidarność werden sie als agierende Subjekte weitestgehend vergessen: Frauen werden in der Regel als passive Personen, die Männer unterstützen, dargestellt. Sie bleiben oft „stumm“ und Fotografien von Frauen werden nicht mit Namen versehen. Wenn sie am Widerstand beteiligt waren, werden sie als Teilnehmerinnen auf friedlichen Demonstrationen oder in der Ausübung „traditioneller“ Care-Arbeit wie Kochen etc. dargestellt.[9] Die im gesellschaftlichen Leitbild des 19. Jahrhunderts verankerte Dichotomie von „männlich-öffentlich/politisch“ und „weiblich-innerhäuslich/privat“ wird durch die gezeigten Geschlechterrollen reproduziert.[10] Die Unterrepräsentanz und gleichzeitig stereotype Darstellung von Frauen zeigt auf, wie unpopulär das Thema für die aktuelle Geschichtspolitik ist und welche Narrative das „nationale Gedenken“ derzeit maßgeblich prägen.
Zivilgesellschaftliche-emanzipatorische Alternativen
Ein Gegen-Narrativ bietet das 2012 von zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen ins Leben gerufene Danziger Projekt „Metropolitanka“ (Die Großstadtbewohnerin). Es finanziert sich durch die Zusammenarbeit mit dem städtischen Kulturinstitut sowie weiterer Stiftungen.[11]
Ein Schwerpunkt der Arbeit von „Metropolitanka“ liegt auf kostenlosen Rundgängen über das ehemalige Werftgelände, die auf Polnisch, Russisch und Englisch angeboten werden. In diesem Kontext entstand außerdem das Projekt „Stocznia jest kobietą“ (Die Werft ist eine Frau): In Zusammenarbeit mit Senior*innen, die damals auf der Lenin-Werft arbeiteten, wurden Dokumente und Fotografien erschlossen, Interviews geführt, Rundgänge wie auch eine App entworfen. Die Rundgänge werden teilweise von den Zeitzeug*innen selbst auf dem Werftgelände angeboten. Die Interviews sind zusammengeschnitten und lassen sich in Form eines Audioguides herunterladen. Mit Hilfe der App können Besucher*innen sich das Werftgelände selbst erschließen.[12]
Sowohl der Rundgang als auch die App thematisieren den Arbeitsalltag der Werftarbeiterinnen. Hier wird gezeigt, dass Frauen in ganz unterschiedlichen Bereichen beschäftigt waren. Dabei wird deutlich, dass sie zum Beispiel für die gleiche Arbeit schlechter als ihre männlichen Kollegen bezahlt wurden, weniger Führungspositionen innehatten oder diskriminierenden Strukturen im Arbeitsalltag ausgesetzt waren. Darüber hinaus wird ganz explizit auch sexualisierte Gewalt thematisiert, die in anderen Überlieferungen weitgehend ausgeblendet bleibt. Durch den Schwerpunkt auf die konkreten Arbeitsbedingungen wird deutlich, aus welcher Motivation heraus sich die Frauen in der Solidarność engagierten. Der Zugang über Oral-History und persönliche Geschichten spricht auch Personen an, die sich außerhalb der Geschichtswissenschaft mit der ehemaligen Werft und der Lebensrealität der dort beschäftigten Menschen auseinandersetzen möchten. Dies erfolgt vor allem über das Hinterfragen gängiger Stereotype, indem Frauen zum Beispiel in typischen „Männerberufen“ gezeigt werden. Jedoch wird von Benutzer*innen ein bereits vorhandenes Grundwissen über die historischen Ereignisse vorausgesetzt. Personen, die kein Vorwissen mitbringen, bleiben nach Gebrauch der Karte oder App in dem Glauben, dass die gesamte Solidarność-Bewegung von Frauen getragen wurde, da männliche Aktivisten nicht einmal in einem Nebensatz erwähnt werden. Dies kann jedoch als bewusste Entscheidung der weiblichen „Metropolitanka“-Aktivistinnen[13] gedeutet werden, entgegen dem nationalen männlichen „Meisternarrativ“ der Solidarność eine dezidiert feministisch-emanzipatorische Gegenerzählung zu implementieren. Der „Männergeschichte“ wird hier eine „Frauengeschichte“ gegenübergestellt.
Exklusion aus der aktuellen Erinnerungspolitik
Die genannten Beispiele demonstrieren, dass die nationale Geschichtsschreibung der Solidarność-Bewegung hauptsächlich aus männlicher Perspektive betrieben wird und sich an vielen Stellen blind für Geschlechterunterschiede zeigt. Frauen waren und sind besonders in der staatlichen Erinnerungskultur kaum sichtbar. Insbesondere die nationalistische und patriotische Politik der letzten Jahre führt zu „Mainstream“-Deutungen, in denen marginalisierte Gruppen wie Frauen oder Juden*Jüdinnen unterrepräsentiert sind. Dies wird auch in der Fokussierung auf die „Helden“, die einen wichtigen Teil der polnischen Erinnerungskultur ausmachen, deutlich. Die in der Solidarność aktiven Frauen bezeichnen sich selbst nicht als feministisch. Eine Erinnerung an sie findet dennoch nicht statt, weil die polnische Politik seit der Transformation antifeministisch und konservativ ausgerichtet ist. Aktuelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse geben immer Aufschluss darüber, welche Erzählungen historischer Ereignisse in der Gesellschaft legitimiert sind.[14] In diesem Fall wird deutlich, dass die Generierung von politisch-historischer Legitimität durch den Fokus auf konservative, männliche Perspektiven und heroische sowie martyrologische Elemente der polnischen Vergangenheit Frauen(perspektiven) nur unter bestimmten Bedingungen einbezieht.
Nationale Geschichte ist auch in Polen in erster Linie „Männergeschichte“. Selbst wenn vereinzelt das Wissen der Frauen- und Geschlechtergeschichte wie am Beispiel der Arbeit von „Metropolitanka“ der Nationalgeschichte hinzugefügt wird, wird diese als Gesamtnarrativ nicht neu gedacht. Dadurch werden die Geschlechterhierarchien sowie das stereotype Bild der Geschlechterrollen implizit fortgeschrieben. Im Sinne einer feministischen Frauen- und Geschlechtergeschichte reicht darüber hinaus die Sichtbarmachung von Frauen, die sich im Rahmen einer nationalistischen Geschichtspolitik bewegen, nicht aus. Ein weiterer Schritt wäre daher die Erforschung von Frauen, die weder in das dezidiert antikommunistische noch in das ethnonationale Muster der polnischen Erinnerungskultur fallen und sich somit außerhalb der nationalistischen Mythen einordnen ließen.
[1] Vgl. Jarska: Płeć Solidarności 1980-1981, S. 42.
[2] Vgl. Kühn: Das Jahrzehnt der Solidarność, S. 29-31.
[3] Vgl. Penn: Solidarity's Secret, S. 66.
[4] Vgl. Kaminski, Łukasz: Kobiety w Solidarności Walczącej ne tłe struktury płci ruchu „Solidarności“, in: IPN (Hg.): Płeć Buntu. Kobiety w oprze społecznym i opozycji w Polsce w latach 1944-1989 na tłe porównawczym, Warszawa 2014, S. 319.
[5] Vgl. Penn, Shana: Analiza porównawcza działalności kobiet w czechosłowackich i polskich ruchach opozycji antykomunisticznej w latach 1968-1989, in: IPN (Hg.): Płeć Buntu. Kobiety w oprze społecznym i opozycji w Polsce w latach 1944-1989 na tłe porównawczym, Warszawa 2014, S. 369.
[6] Pieper, Katrin: Resonanzräume. Das Museum im Forschungsfeld Erinnerungskultur, in: Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010, S. 200.
[7] Lau, Carola: Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur nach 1989. Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa im Vergleich (Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas, Bd. 6), Göttingen 2017, S. 155-158.
[8] Vgl. Peters: Patriotische Geschichtsschreibung im Staatsauftrag. Polens neue Rechtsregierung bricht mit der historischen Legitimation des Neuanfangs von 1989 [zuletzt abgerufen am 30. August 2020].
[9] Vgl. Instytut Pamięci Narodowej: Solidarność 1980–1981 w kraju i w Wielkopolsce. Szkice do portretu; Wystawa plenerowa „Kościół i Solidarność” und Anna Walentynowicz. Legenda „Solidarności” 1929–2010, [zuletzt abgerufen am 30. August 2020].
[10] Vgl. Schraut, Sylvia / Paletschek, Sylvia: Erinnerung und Geschlecht. Auf der Suche nach einer transnationalen Erinnerungskultur in Europa. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Clio-Online, 2009, [zuletzt abgerufen am 30. August 2020].
[11] Vgl. Archiwum Historii Kobiet: Metropolitanka, [zuletzt abgerufen am 30. August 2020].
[12] Vgl. Stocznia jest kobietą: Aplikacja, [zuletzt abgerufen am 30. August 2020].
[13] Vgl. Über die Macher*innen des Projektes Metropolitanka, [zuletzt abgerufen am 30. August 2020].
[14] Vgl. Griesebner, Andrea: Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 2005, S. 9.