Baseballschläger, Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel. Es sind die Requisiten der extrem rechten, rassistischen Gewalt Anfang der 1990er Jahre. Das Bild wird zum Symbol, wird zur Ikone, wird zum Klischee. Die Schwarz-Weiß-Fotografien von Ludwig Rauch spiegeln haargenau unser Bild des ostdeutschen Naziskins der Nachwendezeit wider. Doch etwas ist anders. Fokussiert werden nicht allein die Porträtierten, sondern ebenso die Settings. Plattenbau, die Ostberliner Weitlingstraße, das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig – das sind die Biotope der Neonazis. Der jeweilige Ort erhält seine Aura, auch weil die Protagonist*innen nicht einfach in Szene gesetzt werden, sondern sich selbst positionieren, ihren Ort wählen. Zwischen 1990 und 1993 fotografierte Ludwig Rauch die Neonazis – Männer und Frauen, Kader und Mitläufer*innen, Ostdeutsche, Westdeutsche und Österreicher*innen. Er zeigt ‚seine‘ Akteur*innen in ihrer Wirklichkeit, der Privatwohnung, dem Musikkeller, im Trabant 601. Einige von ihnen sind bis heute in der Neonaziszene aktiv und als gewaltbereit bekannt. Der Kunstwissenschaftler Michael Freitag hat die Fotografien treffend beschrieben: „Ludwig Rauch hat Bilder aufgenommen, deren Verursachern viele von uns ausgewichen wären. Weil es da Krach gibt, Krach, den nicht wir schlagen, sondern die anderen. Rauch hat von denen und zugleich von anderen, die unsichtbar bleiben, diese seltsam stillen Fotos gemacht, diese stillen Fotos von stillen Neonazis – und von den Verstummten, die damit nichts anfangen können.“[1]
Dreißig Jahre nach der Wende sprach Yves Müller mit Ludwig Rauch. zeitgeschichte|online zeigt einige der Bilder, die im Rahmen der Reportage „Neonazis in Deutschland“ entstanden sind.
Ludwig Rauch wird 1960 in Leipzig geboren. Seinem Studium des Bildjournalismus an der Karl-Marx-Universität Leipzig folgen erste Veröffentlichungen bis zu einem Publikationsverbot im Jahr 1986. Rauch studiert nun an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst bei dem bekannten Fotografen Arno Fischer. Im Januar 1989 reist Rauch aus der DDR aus und arbeitet in Westberlin als freier Fotograf und Künstler. Neben Auftragsarbeiten für namhafte Zeitschriften gründete er im Jahr 1991, gemeinsam mit Michael Freitag und Matthias Flügge, die Kunstzeitschrift neue bildende kunst[2] und wird Teil des Künstlerduos Kubiak&Rauch (K&R) zusammen mit Ulrich Kubiak. Seit 2009 ist Ludwig Rauch Dozent an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin.[3]
Müller: Herr Rauch, Sie sind in der DDR geboren, jedoch noch vor der Wende nach Westberlin gegangen. Was empfanden Sie, als Sie nach 1990 nach Ostdeutschland zurückkehrten, um eine Fotoserie über die dortige Neonaziszene zu machen?
Rauch: Anfang 1989 bin ich aus der DDR weggegangen, weil ich dort Veröffentlichungsverbot hatte. Und ich habe nicht geglaubt, die DDR zu verlassen, um etwas Besseres zu finden, sondern einfach, weil ich mit den dortigen politischen Verhältnissen nicht übereingestimmt habe. Umso schockierender war es natürlich, dass sehr schnell nach der Wende, nach dem Fall der Mauer, Leute auf den Plan traten, die plötzlich sehr offen und unverstellt eine rechte Gesinnung präsentieren konnten. Das kannte ich bis dahin nicht. Das war eine wilde Zeit. Es gab diesen rechtsfreien Raum und genau dort konnte die Neonaziszene wachsen. Die Besetzung eines Hauses durch Neonazis in der Weitlingstraße[4] habe ich mir so nicht vorstellen können, dass das stattfinden würde in einem Deutschland, egal, ob Ost- oder Westdeutschland. Das war für mich eine ziemlich schockierende Erkenntnis. Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir in Deutschland mit diesem Thema durch wären, aber wie wir heute wissen, ist es leider nicht so.
Müller: Die Bilder entstanden als Teil der Reportage „Neonazis in Deutschland“. Wie kam es zu dieser Arbeit? Wer gab sie in Auftrag?
Rauch: Dieses Thema hat mich als Fotograf natürlich sofort interessiert und so kamen verschiedene Dinge zusammen. Damals hatte ich begonnen, für große Magazine zu arbeiten – für den Stern, das ZEITmagazin und auch verschiedene internationale Zeitschriften. Da kam es relativ schnell dazu, dass ich Reportagen zu diesem Thema mit verschiedenen Autorinnen und Autoren gemacht habe. Das war also nicht eine einzelne Geschichte, sondern dieser Prozess ging über mehrere Jahre und ich war einer der Wenigen, die sich zu der Zeit, Anfang der 1990er Jahre, dieser Sache zugewandt haben.
Müller: Ihre Bilder zeugen von Intimität gegenüber den porträtierten Akteuren. Wie nähert sich ein Fotograf seinem Objekt, wenn es sich dabei um einen Neonazi handelt?
Rauch: Diese Frage wird mir oft gestellt, vor allem von meinen Studierenden, wenn ich ihnen diese Bilder zeige. Es ist so, man muss sich ein bisschen nach 1990 zurückversetzen: Wir leben in einer analogen Welt. Es gibt die Medien, aber Deutschland ist gerade im Umbruch. Viele dieser jungen Neonazis haben keinerlei Erfahrung im Umgang mit der Presse und der Stern hat noch eine große Bedeutung, die er heute verloren hat. Im Grunde war damals die mediale Landschaft anders strukturiert. Es gab Zeitschriften wie Tempo, bei denen es als schick galt, einen gewissen Lifestyle zu fotografieren oder Reportagen aus der ganzen Welt zu machen – was ich übrigens auch getan habe. Aber sich mit diesem relativ unangenehmen Thema auseinanderzusetzen, das war nicht so angesagt. Es gab aber auch Menschen wie Elisabeth Biondi, die als Bildredakteurin beim Stern und später auch für The New Yorker gearbeitet und gesagt hat: „In Eberswalde gibt es eine sehr starke rechtsradikale Szene. Bist du bereit, die zu fotografieren? Sag bescheid, wenn du fertig bist.“ Diese Art von Freiheit im Umgang mit einem Fotografen gibt es heute nicht mehr. Natürlich gab es zu der Zeit auch andere Akteure, die über dieses Phänomen berichtet haben. Spiegel TV war sehr stark vertreten. Und es war auch so, dass verschiedene Akteure versuchten, über Zahlungen von Geld Zugang zur Szene zu erlangen. Wir reden jetzt nicht von größeren Summen, sondern von kleinen Beträgen, die dann wahrscheinlich in Alkohol umgesetzt wurden. Ich habe das immer abgelehnt. Meine Strategie war es, erstens keine Angst vor diesen Leuten zu haben, und zweitens habe ich mich niemals als etwas dargestellt, was ich nicht bin. Ich habe von Anfang an klar gemacht, dass ich eine komplett andere Vorstellung von dieser Welt habe. Man brauchte viel Zeit und Geduld. Ich musste einfach in die Weitlingstraße hineingehen und habe mich dort dazugesetzt, obwohl das zunächst gar nicht gewollt war. In eine solche Szene hineinzukommen, das ist nicht an einem Tag geschafft. Aber schließlich setzte ein Gewöhnungsprozess ein: „Ach das ist ja der Fotograf.“ Da war viel Unwissen bei den Akteuren dabei. Das hat sich im Laufe der Zeit verändert und es sind Leute auf den Plan getreten wie ein Herr Althans[5], die anfingen, die junge Szene im Umgang mit den Medien zu schulen. Das hat den Zugang schließlich erschwert. So bin ich irgendwann bedroht worden. Klar, das Risiko physisch attackiert zu werden war von Anfang an vorhanden, aber bis dahin hatte es irgendwie funktioniert.
Müller: Die Fotografien zeigen Sie als Chronisten der 1990er Jahre, aber nicht als Unbeteiligten? Inwiefern spielte Ihre ostdeutsche Biografie bei dieser Arbeit eine Rolle?
Rauch: Es gab auch andere Fotografen, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Aber ich glaube, was ich gemacht habe, kann nicht einfach mit der eigenen Sozialisation erklärt werden. Es ist vielleicht gar nicht so entscheidend, wo man aufgewachsen ist. Die Kernfrage war die Vehemenz, mit der man bereit war, sich diesem Thema zu nähern. Das hätte jeder tun können, die Weitlingstraße war ja bekannt. Man musste nicht im Osten aufgewachsen sein, um dorthin zu gehen. Sagen wir es mal so: Es war relativ unpopulär, das zu fotografieren.
Müller: Inwiefern befindet sich Ihre Arbeit in der Tradition der sozialkritischen Dokumentarfotografie der 1950er und 1960er Jahre in den USA?
Rauch: Das erklärt sich relativ einfach. Ich habe ja zweimal Fotografie studiert, einmal als Bildjournalist und einmal an der Hochschule für Grafik- und Buchkunst in Leipzig bei Arno Fischer. Natürlich stand die Hochschule damals stark in der Tradition der sozialdokumentarischen Fotografie. Insofern sind das schon fotografische Wurzeln, die ich habe, und natürlich gibt es Vorbilder, ob das W. Eugene Smith ist mit seiner berühmten Serie Minamata [6]ist, oder auch Henri Cartier-Bresson und der jüngst verstorbene Robert Frank. Natürlich hat mich das beeinflusst und es war für mich naheliegend, die Sache so zu fotografieren. Da kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt, der mich heute noch beschäftigt: Mit welcher Ästhetik darf man sich einem solchen Thema nähern, wie ich es getan habe? Da gab es natürlich Diskussionen und sehr unterschiedliche Meinungen. Meine Meinung war, dass man Neonazis nicht als Trottel darstellen kann. Das legendäre Foto von dem großartigen Hamburger Fotograf Martin Langer – Sie kennen diese Fotografie aus Rostock-Lichtenhagen mit dem Mann im deutschen Fußballtrikot, der den Hitlergruß zeigt und dabei eine nasse Hose hat – hat einen ikonografischen Charakter bekommen und prägt bis heute unser Bild über Neonazis, über den ‚hässlichen Deutschen‘. Ich war immer der Meinung, dass das nicht der einzige Weg sein kann, um auf die Gefährlichkeit dieser Ideologie und auch dieser Leute, auf die Faszination und die Symboliken des Neonazismus aufmerksam zu machen. Und dazu ist vielleicht auch eine gewisse Bildästhetik notwendig.
Müller: Heute sehen wir die Bilder als Dokumente aus einer vergangenen Zeit, die mit den Ortsnamen Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda verknüpft ist. Was vermag uns Ihre Arbeit noch erzählen?
Rauch: Das ist eine gute Frage, weil ich diese Fotografien immer auch als Mahnung verstanden habe – immer in der Hoffnung, dass andere Leute, die diese Bilder sehen, sie vielleicht genauso abschreckend und entlarvend finden wie ich. Allerdings ist es schwieriger geworden. Rechtes Gedankengut hat sich eher vermehrt, als dass es weniger geworden wäre. Es gibt diesen Satz: „Ein bestimmtes Maß an fehlgeleiteter Ideologie muss eine Demokratie aushalten.“ Bevor die AfD gegründet wurde, war es die NPD. Und da hat man gesagt, dass eine Demokratie dieses rechte Potential locker verdauen kann. Inzwischen verschieben sich die Gewichte und wir müssen uns ernsthaft darum Sorgen machen, wie stark der Anteil derer wird, die diesen doch sehr einfachen, sehr schlichten Parolen folgen. Eines der Probleme sehe ich darin, dass unsere Welt auf eine Art komplex geworden ist, dass wir sie trotz unserer Bemühungen selbst nicht mehr verstehen. Ich lese Zeitung, ich informiere mich, ich behaupte von mir, ein wirklich wachsamer Beobachter der Gesellschaft zu sein. Und trotzdem stehe ich vor vielen Dingen und habe das Gefühl, sie nicht mehr angemessen erklären zu können. Natürlich ist es da viel einfacher, mit solchen primitiven und populistischen Schlagwörtern zu kommen. Das ist nicht die Erklärung für alles, aber es ist ein Punkt.
Müller: 30 Jahre nach der Wende ist eine Debatte entbrannt, die nach den Zusammenhängen des schwierigen Transformationsprozesses und seinen bis heute spürbaren ökonomischen und sozialen Folgen sowie den Wahlerfolgen der Partei Alternative für Deutschland (AfD) – Wahlslogan in Brandenburg „Vollende die Wende“ – fragt. Wie denken Sie darüber?
Rauch: Ich bin kein Historiker, ich kann es auch nur schwer begreifen. Die Partei Die Linke ist im Osten im Abwind. Und die Zustimmung zu den Rechten ist gestiegen. Die Leute im Osten fühlen sich teilweise noch immer abgehängt, wählen nun aber rechts. Manches ist berechtigt, manches nicht. Vieles ist selbstverschuldet. Ich kann nicht nach der Freiheit rufen und wenn ich sie dann habe, kann ich nicht damit umgehen. Das ist ein Problem. Diese ‚Ostalgie‘, in der man sich einfach das herausnimmt, was bequem ist – Sozialismus nein, Sicherheiten ja –, ist auch ein Resultat daraus, dass Menschen nach einfachen Strukturen und Welterklärungsansätzen suchen, um sich zurechtzufinden. Da kommt es natürlich prima, wenn Personen wie Björn Höcke oder Alexander Gauland mit ihren Stammtischparolen wie die Rattenfänger die Leute einsammeln.
Müller: Welche Rolle kann die Fotografie dabei spielen?
Rauch: Es gibt aktuell erstaunlich wenig Fotografie, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzt. Daher freue ich mich besonders über die wenigen kritischen Arbeiten. Jakob Ganslmeier, ein ehemaliger Student von mir, hat in der beeindruckenden Arbeit Haut, Stein mit dem Aussteigerprogramm „Exit“ zusammengearbeitet. Exit bietet ehemaligen Neonazis die Möglichkeit, ihre Tattoos – voller Nazisymbolik – zu entfernen oder überstechen zu lassen. Diesen Prozess hat Ganslmeier begleitet.
Müller: Vielen Dank.
Das Gespräch wurde am 16. September 2019 im Atelier von Ludwig Rauch in Berlin-Weißensee geführt.
[1] Dazu mehr in: Michael Freitag, Essay, in: Ludwig Rauch, Rechtsruck. Eine fotografische Dokumentation der frühen 1990er-Jahre. Mit einem Text von Michael Freitag. Publikation zur Ausstellung im dkw. vom 8.10.2016 bis 01.01.2017, hg. vom dkw. Kunstmuseums Dieselkraftwerk Cottbus 2016, S. 9-15.
[2] Die Zeitschrift folgte auf die im Jahr 1947 gegründete Bildende Kunst. Ihre Gründer und Herausgeber (Flügge, Freitag, Rauch) arbeitete bis zur letzten Ausgabe im Juli 1999 gemeinsam an der neuen bildenden kunst.
[3] Noch ein Leben. Ludwig Rauch, hg. von Ulrike Kremeier für dkw. Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus, Berlin 2014, S. 177.
[4] Im Februar 1990 hatten Neonazis der Kleinstpartei Nationale Alternative (NA) ein Haus in der Ostberliner Weitlingstraße besetzt. Nach Verhandlungen mit der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) erhielten sie ein Ersatzgrundstück zugewiesen. Der Ort wurde für die folgenden Monaten zu einem Zentrum der ostdeutschen Neonaziszene, in dem sich auch Kader aus der Bundesrepublik wie Michael Kühnen und Christian Worch oder der Österreicher Gottfried Küssel. Siehe Dietmar Wolf, Berliner HausbesetzerInnen-Geschichte: Das Neo-Nazi-Haus Weitlingstraße 122 in Berlin-Lichtenberg, 18.2.2016, (zuletzt aufgerufen am 09.11.2019).
[5] Bela Ewald Althans war seit den 1980er Jahren in der Neonaziszene aktiv. Nach Kühnens Tod 1991 avancierte er zu einem führenden Kopf der Szene. Mehrere Dokumentarfilme befassen sich mit Althans. Wohl am bekanntesten ist Beruf Neonazi (D 1993) von Winfried Bonengel.
[6] W. Eugene Smith, Ailewen M. Smith, Minamata. Words and photographs, London 1975.