von Kathrin Meißner

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18. Januar 2022

*Dieser Text basiert auf einem Redebeitrag der Podiumsdiskussion „Neue Konzepte für ein altes Problem – befristete Verträge und Karrierewege“ zum Historikertag 2021. Dort wurde der Resolutionsentwurf „Die Berufswege promovierter Historikerinnen und Historiker in der Wissenschaft besser gestalten“[1] diskutiert, an dem die Autorin als Mitglied des VHD-Unterausschusses mitgearbeitet hat. Der Textbeitrag appelliert an die Verantwortlichen in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik aber auch an jede:n Wissenschaftler:in aktiv an der Neugestaltung der Arbeitsbedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses mitzuwirken.

 

Prekarität statt Exzellenz – der Status Quo

Das deutsche Wissenschaftssystem basiert trotz aller beschönigenden Selbstdarstellung auf unsicheren Beschäftigungsbedingungen und (im Falle von Lehraufträgen und Hochdeputatsstellen) auf Dumpinglöhnen. Es braucht ein Umdenken über Ziel und Sinn der Wissenschaftskultur und eine grundlegende Reform, um der Befristungsmisere ein Ende zu setzen.

Etwa 92% der in Universitäten und Hochschulen Beschäftigten[2] gehören zum sogenannten Akademischen Mittelbau, da sie keine Professur innehaben. Sie übernehmen den Großteil der Lehre, Studierendenbetreuung, akademischen Selbstverwaltung, Drittmittel- und Projektakquise sowie Forschungsaktivitäten. Die Mehrheit davon, etwa 80%, befindet sich dabei auf oder zwischen befristeten Beschäftigungsverhältnissen.[3] Sie arbeiten weisungsgebunden bei und für einzelne Professor:innen an Lehrstühlen und sind in ihrer akademischen Karriere von ihren Vorgesetzten extrem abgängig.
Diese hierarchischen Strukturen befördern nicht etwa Innovation, Kreativität und Qualität – wie der Wissenschaftsrat, die Allianz der Wissenschaftsorganisationen oder die Hochschulrektorenkonferenz nicht müde werden zu behaupten – sondern Frustration, dauerhafte Überlastung, Konkurrenzdruck und immer wieder auch den erzwungenen Abbruch der akademischen Karriere nach langjähriger, prekärer Beschäftigung.

Um den – so häufig gepriesenen – internationalen Wissenschaftsstandort Deutschland zu stärken, bedarf es weder des Ausbaus der Exzellenzstrategie, noch der Ausweitung staatlicher Mittel durch Konformitätsdruck und Wettbewerb durch das Drittmittelsystem von DFG & Co.[4] Es bedarf vielmehr der Investition dieser Gelder in die Grundfinanzierung der Hochschulen und der Einrichtung von Dauerstellen an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Langfristige wissenschaftliche Qualität – ob in der Qualifizierungsphase, Forschungs- oder Lehrtätigkeit – kann nur durch planbare, individuell zugeschnittene Karrierewege und Lebensplanung sowie eine wertschätzende und inklusive Wissenschaftskultur erreicht werden. Eine innovative und kreative Wissenschaftskultur bedeutet nicht Fluktuation, Flexibilität und Freiheit auf Kosten wissenschaftlicher und menschlicher Existenzen. Qualität von Forschung UND Lehre wächst erst unter Arbeitsbedingungen, die eine kritische Diskussionskultur, Diversität und wirkliche Wissenschaftsfreiheit  ermöglichen.

 

Stellschrauben der Transformation

Wie jedoch kann ein solch grundlegender Wandel erreicht werden?

Erstens muss das Sonderbefristungsrecht für Hochschulen – in Form des Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) – abgeschafft werden. Das aktuelle Gesetz legitimiert Dauerbefristung als Normalzustand, erzwingt beschäftigungslose Überbrückungsphasen beispielsweise durch ALG I, II oder persönliche Rücklagen und erzeugt real ein akademisches Beschäftigungsverbot nach einer Zeit von zwölf akademischen Arbeitsjahren. Mit einem neuen Gesetz muss die Entfristung nach der Promotion der Regelfall werden. PostDocs hätten dann die Möglichkeit, ihre Energie, Kreativität und Zeit in interessante, neue Forschungsansätze und Lehrinhalte zu stecken. Damit muss ein grundlegender Strukturwandel in der Hochschulfinanzierung einher gehen: Die Umstellung von Projektbetrieb auf den Ausbau der Grundfinanzierung bildet hierbei den zentralen Ansatzpunkt. Denn Drittmittelfinanzierung verstärkt Prekarität, ungewollte Mobilität und unwürdige Abhängigkeitsverhältnisse. Sie erschwert längerfristige Planungen, fördert Existenzängste und vergeudet Arbeitsressourcen in großem Ausmaß.

Zweitens reproduzieren die hierarchischen Lehrstuhlstrukturen im deutschen Wissenschaftssystem Abhängigkeiten. Der Dreh- und Angelpunkt ist hierbei die Fixierung auf die Professur als einzig reguläre Lebenszeitstelle im Hochschulbetrieb. Trotz des überproportionalen Anstiegs von Mittelbau-Stellen gegenüber der gleichbleibenden bzw. stagnierenden Anzahl von Professuren bestehen die steilen Hierarchien fort.[5]
Eine Demokratisierung der Strukturen würde zu einer Aufwertung der Arbeit vieler Wissenschaftler:innen wie auch selbstbestimmter Forschung und Lehre führen. Enthierarchisierung hieße auch, in Hochschulgremien eine paritätische Interessenvertretung einzuführen und Leitungsverantwortung an den Lehrstühlen personell aufzuteilen. Kurzum kann somit Machtkonzentration, Willkür und Abhängigkeitsverhältnissen entgegengewirkt sowie zu einer nachhaltigen wissenschaftlichen Arbeit und demokratischen Qualitätssicherung beigetragen werden.

Wie stark die deutsche Wissenschaft als Berufsfeld auf die professorale Karriereleiter ausgerichtet ist, zeigt drittens der Begriff wissenschaftlicher Nachwuchs. Dieser impliziert zum einen das Streben aller Wissenschaftler:innen nach einer Professur und legitimiert zum anderen das ewige Qualifizieren auf eine der wenigen, umkämpften Leitungsposition. Beides geht an den Wünschen der Beschäftigten und den Bedarfen für solides wissenschaftliches Arbeiten vorbei. Es reicht aber nicht, den Begriff lediglich durch einen anderen zu ersetzen. Vielmehr müssten strukturelle Änderungen angestrebt werden, die vielfältige Karrierewege zu verschiedenen Zeitpunkten und Phasen akademischer Tätigkeit eröffnen.

Viertens, die prekäre Stellensituation in der Wissenschaft hat weitreichende Konsequenzen für die Reproduktion intersektionaler Ungleichheiten. Denn auf befristeten Verträgen kann sich den Zugang zu einer wissenschaftlichen Karriere und das Durchlaufen langwieriger Qualifikationsphasen nur leisten, wer ohnehin ökonomisch und durch einen sicheren Aufenthaltstitel beziehungsweise die deutsche Staatsbürgerschaft abgesichert ist. Dies verlangt dringend verpflichtende Förder- und Antidiskriminierungsprogramme sowie strukturelle und diskursive Veränderungen – es genügt nicht sich mit Labeln wie Internationalität und Diversität zu schmücken, wenn die Strukturen der Ungleichheit weiterhin reproduziert werden.

 

Die Verantwortung haben stets die Anderen !?

Das erarbeitete Resolutionspapier des VHD formuliert Ansätze zur Verbesserung der Situation für Forschung und Lehre in der universitären wie außeruniversitären geschichtswissenschaftlichen Arbeit. Die Resolution bleibt bewusst allgemein, um die Anschlussfähigkeit für andere geisteswissenschaftliche Disziplinen und deren Verbände zu gewährleisten. Damit sich die Resolution jedoch nicht zum bloßen Papiertiger entwickelt, will ich – Vertreterin des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft und selbst Doktorandin der Geschichtswissenschaft – hiermit einen Appell an verantwortliche Akteur:innen und alle Wissenschaftler:innen richten.

Das Hamsterrad, in dem sich die bildungspolitisch Verantwortlichen von Bund und Ländern sowie Hochschulleitungen die Verantwortlichkeiten gegenseitig zuschieben und sich eigene Handlungsmöglichkeiten in der Befristungsmisere absprechen, muss gestoppt werden.

Wissenschaftspolitische Akteur:innen wie die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (GWK), der Wissenschaftsrat und die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), müssen stärker in die Pflicht genommen werden. Ihre bisherige Uneinsichtigkeit in die Ernsthaftigkeit der Situation und ihr Festhalten an Trends der unternehmerischen Hochschule und Exzellenzstrategie sind sehr frustrierend. Ihr Verständnis von Wissenschaftsfreiheit und Hochschulautonomie reproduziert und verschärft den liberalen Wertekanon von „Innovation, Wachstum und Entwicklung“ – der derzeit für die Befristungsmisere und den exklusiven Zugang zu Wissenschaft verantwortlich ist.[6] Ein Umdenken und ein verändertes Handeln sind an dieser Stelle dringend nötig: Der staatliche Bildungsauftrag muss Hochschulen und Forschungseinrichtung zu Orten der Chancengerechtigkeit machen. Die Verantwortung, zu einer inklusiven und offenen Gesellschaft beizutragen, muss sich in der Wissenschaftskultur und -struktur widerspiegeln.

Welche Möglichkeiten auf der Ebene von Landes- und lokaler Hochschulpolitik hinsichtlich der konkreten Erprobung von Entfristung, demokratischen Lehrstuhlstrukturen und neuen Karrieremodellen vorhanden sind, zeigen beispielhaft das Berliner Hochschulgesetz[7] und die Universität Bremen.[8] Vorhandene Umstrukturierungsmodelle zeigen konkrete Möglichkeiten kostenneutraler Entfristung auf. Die Behauptung, alle Alternativen zum Status Quo führen zur ‚Verstopfung des Systems‘ und finanziellem Mehraufwand – wie im Video des BMBF dargestellt, das #IchbinHanna den Namen gab – wurden bereits mit Rechenmodellen entkräftet![9]

Zugleich gilt: Immer nur auf die Leitungspositionen zu verweisen, reicht nicht. Welche Möglichkeiten jede:r einzelne Wissenschaftler:in hat, zeigte sich spätestens mit der #IchbinHanna-Debatte. Wir wollen und können nicht warten, bis die politischen Verantwortlichen ihre Zuständigkeiten wahrnehmen und Versprechungen ernsthaft umsetzen. Zum einen stärkt der Eintritt in eine Gewerkschaft, in einen Fachverband, eine Mittelbauvertretung oder Hochschulinitiative die solidarische Interessenvertretung gegenüber der bildungspolitischen und gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit.[10] Zum anderen ist eine Mobilisierung des akademischen Mittelbaus und eine statusgruppenübergreifende Solidarisierung aller Wissenschaftler:innen notwendig! Dabei geht es nicht nur darum, die individuelle, sondern vor allem auch die strukturelle Situation aufzuzeigen und außerhalb der starren, professoralen Schubladen Offenheit für neue Formen einer geistes- und geschichtswissenschaftlicher Arbeits- und Forschungskultur zu befördern.[11]

 


[1] Nach Mitgliederbeschluss des VHD am 8. Oktober 2021 angenommen und anschließend veröffentlicht.

[2] Vgl. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (Hg.), Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021. Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, Bielefeld: wbv 2021, S. 29.

[3] Vgl. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (Hg.), Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021. Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, Bielefeld: wbv 2021, S. 111.

[4] Gemeint sind hier neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) die vier Organisationen der außeruniversitären Forschung (Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft und Leibniz-Gemeinschaft), welche im Rahmen des Pakt für Forschung und Innovation IV u.a. durch stetige Leistungssteigerungen im (inter)nationalen Wettbewerb und Drittmittel-Konkurrenz die Prekarität von Wissenschaft reproduzieren.

[5] Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.), Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung, wbv: Bielefeld 2018, S. 160f.

[6] Vgl. die Positionen u.a. zur Rolle von Forschung sowie der Hochschulen im Wissenschaftssystem.

[7] Das im September 2021 verabschiedete Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) sieht u.a. eine „Anschlusszusage“ in Form einer verbindlichen Entfristungsoption für haushaltsfinanzierte Promovierte vor. Details zum Inhalt siehe Informationen des Land Berlin

[8] Bereits seit 2017 ermöglicht das Bremer Hochschulgesetz neue Berufwege für den akademischen Mittelbau an Universitäten, indem alternative Modelle zur professoralen Karriere als Senior Researcher, Senior Lecturer und Universitätslektor:in erprobt werden und somit gleichzeitig eine Enthierarchisierung und Demokratisierung der Lehrstuhlstrukturen stattfindet.

[9] Vgl. Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft, Personalmodelle für Universitäten in Deutschland. Alternativen zur prekären Beschäftigung, 2020.

[10] Gastbeitrag Ariane Leendertz „Hanna, die Historiker und die Frage, wie es jetzt weitergeht“.

[11] Siehe dazu ferner Kommentar Sebastian Kubon „Die Berufswege promovierter Historikerinnen und Historiker in der Wissenschaft besser gestalten“.