Im April 2003 veranstalteten das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) eine wissenschaftliche Tagung zum Thema "Der 17. Juni 1953 und die Krisengeschichte des ‚realsozialistischen' Systems". Die Tagungsbeiträge waren, wie so oft „durchwachsen“, manche waren spannend und viele langatmig, die Luft im Raum war knapp wie immer, es wurde meistens abgelesen. Nie jedoch werde ich den Eröffnungsvortrag Karl Schlögels vergessen. Durch die unglaublich brillante Sprache Schlögels wurde der Tagungsraum erfüllt mit Bildern, die von der Ost-Berliner Stalinallee über Budapest, Prag bis ins sibirische Norilsk reichten, wurden Thesen und theoretische Konzepte nicht an die Empirie gehängt, wie häufig, sondern miteinander verknüpft, die Möglichkeiten aber auch die Grenzen der Geschichtswissenschaft ausgelotet. Schlögel plädierte dafür die Komplexität und die Erfahrung der Unübersichtlichkeit der geschichtlichen Akteure ernst zunehmen, in ihren Erfahrungshorizont einzutreten um sich vielleicht als „Späterkommende, die wissen wie die Geschichte ausgegangen ist“ nicht zu überschätzen....
Wir veröffentlichen nur selten Texte von der Länge des vorliegenden Beitrags. Auf diesen Text, den wir aus Anlass des Jahrestages des 17. Juni 1953 veröffentlichen, haben wir jedoch den allergrößten Wert gelegt. Wir danken Karl Schlögel und dem Christoph Links Verlag für die freundliche Genehmigung für einen Reprint. Alle Fotos im Beitrag wurden von der Redaktion für den online Reprint in den Text eingefügt.
Annette Schuhmann
Der Text erschien im Jahr 2004 in: Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Hg. Von Henrik Bispinck u.a., Christoph Links-Verlag Berlin
Tagungsbericht von Henrik Bispinck und Mark Stuntz auf H/Soz/Kult (5.7.2003)
Der 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 war der Zeitpunkt, da man in Deutschland derer gedachte, die damals mutig und tapfer ihre Interessen und ihre Menschenwürde verteidigt haben – einige haben dafür sogar ihr Leben eingesetzt. Ihre Namen sind – bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa die der von den Ketten eines Panzerspähwagens zermalmten Person – bekannt. Da sind zum Beispiel Richard Kugler oder Wolfgang Röhling beide 15 Jahre alt, an der Sektorengrenze in Berlin-Tiergarten von Volkspolizisten erschossen, oder Dr. Oskar Pohl, 25 Jahre alt, oder Margot Hirsch, erschossen auf dem Marktplatz von Halle am 18. Juni 1953. Auch die Namen einiger standrechtlich erschossener Demonstranten sind bekannt: etwa der des Kraftfahrzeugschlossers Alfred Diener aus Jena oder der des Teigwarenfabrikanten Herbert Stauch aus Magdeburg. Ihre Namen sind in den Dokumentationen verzeichnet, aber man kennt sie in Wahrheit nicht. Sie alle erinnern uns daran, daß geschichtliche Bewegungen von Menschen, von Individuen gemacht werden, daß historische Prozesse Namen und Gesichter haben. Es gibt noch Zeitzeugen der Ereignisse vom Juni 1953, die aus eigener Anschauung berichten können, und wir sollten die Chance nutzen, die im Erzählen und Anhören liegt. Aber ihre Zahl nimmt ab, und die Ereignisse, die die Welt einmal in Atem gehalten haben, entschwinden aus dem Horizont und kommen gleichsam zu den Akten. Es ist schon die Frage, wer von den Teilnehmern der jährlichen Love Parade, die über die Straße des 17. Juni führt, noch weiß, worum es sich bei diesem Namen überhaupt handelt. Und seit der 17. Juni als Tag der deutschen Einheit ersetzt ist durch jenes künstliche Datum des 3. Oktober, diesem erfundenen Tag der deutschen Einheit, ist zu befürchten, daß das Datum selbst aus dem öffentlichen Raum verschwinden wird. Ereignisse, die über Jahrzehnte hin so sehr Teil der politischen Auseinandersetzung waren, wie das bei der Volkserhebung des Jahres 1953 gewesen ist, sind dabei, Geschichte zu werden. Das ist unvermeidlich, und so geht es mit allen historischen Ereignissen und Erfahrungen, auch solchen, die über die Geschichte hinauszuragen scheinen. Aber darin liegt auch eine Chance. Wenn man sagt, der nun ein halbes Jahrhundert zurückliegende 17. Juni 1953 sei dabei, Geschichte zu werden, dann meint man damit auch die Chance, auf diese Ereignisse anders zurückblicken zu können als die Zeitgenossen und Teilnehmer. Man kann die Ereignisse endlich jenseits der tagespolitischen Auseinandersetzung, jenseits der Polemik und auch jenseits ihrer Instrumentalisierung betrachten. Es passiert das, was man als »Historisierung« bezeichnet. In diesem Fall gilt dies in besonderem Maße, da die Konstellation, in der sich der 17. Juni ereignet hat, gänzlich aufgelöst ist, und die Formation, die ihn hervorbrachte, vergangen ist. Wir blicken gleichsam zurück auf den Sozialismus und auf die DDR nach dem Ende der DDR und nach dem Ende der Teilung Europas. In der Situation, die sich durch das Ende des Kalten Krieges, durch die Wiedervereinigung ergeben hat, liegen – wenigstens der Möglichkeit nach – eine Chance, ein neuer Blickwinkel. So wie es ein Privileg der Augen- und Zeitzeugenschaft gibt, so gibt es auch ein Privileg der historischen Distanz, des Blicks von der Seite oder vom Ende her. In beiden stecken ganz spezifische Erkenntnismöglichkeiten. Eine Gestalt der Erkenntnis ist alt geworden und die Eule der Minerva hat zu ihrem Flug in der Abenddämmerung angesetzt. Aber auch mehr als ein Jahrzehnt nach 1989 müssen wir feststellen, daß die Distanz nicht automatisch schon einen Zuwachs an Erkenntnis bringt. Das 20. Jahrhundert ist noch ganz nah; manche haben es vielleicht auch ein wenig zu früh enden lassen – am 9. November 1989, nicht am 11. September 2001. Diese Geschichte, auch die Geschichte des Sozialismus, die immer eine Kampf- und umkämpfte Geschichte war, ist immer noch nah. Selbst einem so umfangreichen Werk wie François Furets »Ende der Illusion« merkt man noch an, wie schwierig es ist, diese Geschichte politischer Leidenschaft in eine begriffene und material durchgeführte Geschichte umzusetzen. Und bei der Lektüre von Martin Malias brillanter »Soviet Tragedy« fragt man sich, ob es das gewesen sein kann: der Nachweis, daß das »sowjetische Experiment« von allem Anfang an hat scheitern müssen.[1] Vieles deutet darauf hin, daß die Arbeit an der Geschichte des 20. Jahrhunderts und speziell des sowjetischsozialistischen Anteils daran erst neu eingesetzt hat und wir uns auch Zeit lassen können.[2]
Ausgestattet mit dem Mehrwissen des Nachgeborenen, dessen, der weiß, wie eine Geschichte zu Ende gegangen ist, verfällt man sehr leicht in Vereinfachungen, Logismen, Konstruktionen und Sinngebungen. Es ist schwer zu akzeptieren, daß es möglicherweise Geschichten gegeben hat, die sich im Nichts, im Abseits, im Ergebnislosen verlaufen, daß sie in kein Resultat einmünden, nicht eine List der Vernunft darstellen und nicht die Durchgangsstufe zu etwas Höherem. In unserem Falle ist die Versuchung gegeben, die Geschichte der Krisen möglicherweise als Lernprozeß des Systems und die Geschichte des Widerstands zu einer Evolution der civil society umzudeuten. So etwas stiftet Ordnung in unserem Kopf, entspricht unserem Orientierungs- und Sicherheitsbedürfnis, hat mit den Peripetien, dem Ablauf einer Geschichte aber wahrscheinlich wenig zu tun. Schwieriger ist es, sich einzugestehen, daß Geschichten keinen Sinn haben können und daß es durchaus Geschichten ohne Happy-End gibt.
Wenn im Folgenden von Sozialismus die Rede ist, dann ist damit jene empirisch konstatierbare Formation gemeint, die aus der Oktoberrevolution hervorgegangen ist und sich in Rußland, später der Sowjetunion und im östlichen Block ausgebildet hat. Darunter wird also nicht ein ideologisches oder gesellschaftliches Projekt verstanden, das man, je nach Position, gut oder schlecht finden kann. »System« kann nicht der Weisheit letzter Schluß bei der historischen Aufarbeitung des Sozialismus sein. Geschichte, Prozesse, Aktionen werden nicht von Systemen oder Subsystemen getragen oder gemacht, sondern letztlich von Menschen in einer bestimmten Konfiguration, in einem bestimmten gesellschaftlichen Verhältnis zueinander. Der Terminus des »sozialistischen Systems« ist darüber hinaus so vage, so ubiquitär, daß er ohne analytische Stringenz ist. Wir haben beispielsweise einen deutschen, einen russischen, einen chinesischen, kubanischen, nordkoreanischen, italienischen Sozialismus, und jeder versteht darunter etwas anderes. Das, was man beschreiben oder erzählen möchte, kann auch ohne diesen Klarheit und Gewißheit suggerierenden Terminus beschrieben oder erzählt werden.[3] Dies soll im Folgenden in vier Schritten versucht werden.
Erstens: Die Eingangsschwierigkeit jeder historischen Arbeit ist es, einen Zugang zu der historischen Situation zu finden, von der die Rede ist. Man muß sich gewissermaßen der Schranken der historischen Perzeption vergewissern, man muß sich den historischen Raum erschließen, von dem wir als Nachgeborene in der Regel ausgeschlossen sind. Dieser Versuch, sich den historischen Raum zu erschließen, ist in gewisser Weise eine Metareflexion über die Erzählbarkeit historischer Ereignisse.
Zweitens: Der 17. Juni steht, so nehmen wir jedenfalls an, in einer langen Reihe, in einer Sequenz von Krisen, Konflikten und Erhebungen. Die Frage ist aber, ob es wirklich eine solche Linie, eine solche Entwicklungsgeschichte gibt oder ob dies nicht eine Konstruktion ex post ist. Zu unterschiedlich, zu weit voneinander entfernt sind Ereignisse, Schauplätze, Akteure. Ich werde versuchen, eine andere Matrix für die Analyse zu umreißen. Es liegt auf der Hand, daß es eine konstitutive Defizienz des Sozialismus, seiner Wirtschaftskraft, seiner Legitimität, seiner Attraktion gibt. Er trägt von Anfang an die Züge eines Notstandsregimes. Der Sozialismus, Kommunismus im 20. Jahrhundert ist der Sozialismus oder Kommunismus der Weltkriegsepoche und ist daher sensu strictu »Kriegs-Kommunismus«[4].
Drittens: Es gibt so etwas wie eine spezifische Phänomenologie, Typologie und Rhetorik des Konfliktaustrags und der Krise im Sozialismus und der sozialistischen Krisenbewältigung. Was sind – wenn man sich auf eine Typologie einläßt – die Grundzüge von Konfliktaustrag und Konfliktbewältigung unter sozialistischen Bedingungen?
Viertens: Wenn man diese Schritte hinter sich gebracht hat, wo findet dann der 17. Juni 1953 seinen historischen Ort? Wäre es nicht sinnvoller, ihn aus der Geschichte des sozialistischen Systems herauszulösen und ihn in die Geschichte der Weltkriegs- und Nachweltkriegsepoche zurückzuführen, wohin er gehört; weniger in den sozialistischen Krisenzusammenhang als in den der europäischen Teilungsgeschichte bzw. den Zusammenhang der »Systemkonkurrenz«? Und wohin gehört dann das geradezu lautlose Ende des Systems des realen Sozialismus?
Die folgenden Ausführungen stützen sich nicht auf eigene Forschungen zum 17. Juni 1953, sondern allenfalls auf Forschungen zur Krise des Spätstalinismus in der UdSSR.[5]
Der 17. Juni 1953. Eine Vergegenwärtigung.
Wenn ich vom 17. Juni spreche, dann habe ich vor mir: einen Schauplatz, eine Zeit, die dramatis personae. Im Zentrum ist Berlin, Ost-Berlin, aber nicht nur, sondern auch: Magdeburg, Leipzig, Halle, Leuna, Gera, Brandenburg, Dresden, Görlitz, später auch Rostock, Schwerin, auffälligerweise nicht Chemnitz, nicht Suhl. Ich denke nicht nur an den 16. und 17. Juni, sondern an eine längere Phase von vielleicht zwei bis drei Wochen mit dem 17. Juni als Ausbruch, präzise Artikulation, dramatische Zuspitzung der Bilder. Ort und Zeit sind wichtig – das ist so banal, so elementar wahr, daß man in der Regel nicht davon spricht. Aber darin ist bereits eine wichtige Auskunft enthalten. Der 17. Juni spielte nicht irgendwo, nicht im Abseits, nicht hinter einem Eisernen Vorhang, nicht in den Tiefen eines Reiches, sondern wie auf einer Bühne, im Zentrum des Kampfes rivalisierender Großmächte um Behauptung und Ausweitung ihres Einflusses und ihrer Macht und im Blickpunkt einer weltweiten Öffentlichkeit. Das ist wichtig für die Quellen- und Forschungslage, aber vor allem für den Verlauf der Ereignisse selbst. Ereignisse im Zentrum welthistorischer Rivalitäten und im Zentrum der Weltöffentlichkeit verlaufen anders als solche an einer Peripherie oder am Polarkreis. Es ist kein Zufall, daß wir viel, sehr viel über den 17. Juni in Berlin und in der DDR oder über Posen oder Budapest oder Prag wissen und nichts, fast nichts über die Aufstände in Workuta, in Dscheskasgan, Tajschet, Norilsk, Kingir, die fast zeitgleich stattfanden, oder sagen wir, von dem Aufstand in Nowotscherkassk im Jahre 1962, alles Aufstände, die die sowjetische Herrschaft in einem entscheidenden Augenblick zutiefst erschütterten: im Moment der Endkrise des Hochstalinismus bzw. im Moment des Scheiterns der Chruschtschowschen Reformen. Geschichtliche Ereignisse haben einen Ort, und die Ereignisse, von denen wir sprechen, haben zu tun mit der Geopolitik der Systemkonkurrenz. Und das ist wesentlich.
Der zweite Grund aber, weshalb ich mir Ort, Zeit, dramatis personae vergegenwärtigen möchte, ist ein anderer, nämlich das Problem, wie wir, die Nachgeborenen, die Unwissenden, in jenen Zeit- und Erfahrungshorizont eintreten können, der uns qua später Geburt verschlossen ist. Es geht hier nicht darum, wie man etwas erzählerisches Kolorit in die Sache hineinbringt, ein wenig Aroma, sondern um die systematische Erfahrung von Komplexität, um die Erfahrung der Unübersichtlichkeit der geschichtlichen Akteure im Unterschied zu den Späterkommenden, die wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Man muß, davon bin ich überzeugt, als Historiker noch einmal in diesen Erfahrungshorizont eintreten, wenn man ein bißchen mitreden können will. Man muß eine Komplexitätserfahrung machen, um bescheiden oder gar demütig zu werden, kurz: Man muß das Privileg, das man unverdient hat, etwas zurücknehmen. Es ist eine Frage historischer Hermeneutik. Hier hält es jeder anders, und ich halte es eben so. Damit sind einige Dinge impliziert, die ich hier nicht ausführen, sondern nur andeuten kann. Ich würde es beispielsweise für einen großen Erkenntnisgewinn halten, die wissenschaftliche Vergegenwärtigung und Reflexion mit der topographisch-räumlichen Erkundung des historischen Schauplatzes zu verbinden, weil man im Begehen des Schauplatzes Dinge versteht, die einem beim Lesen allein nicht auffallen.[6]
Die Geschichte des 17. Juni ist die Geschichte der Gruppen von Menschen, Personen, die sich entschlossen, zur Aktion überzugehen. Die meisten von ihnen taten dies zunächst nicht mit einem politischen Programm, politisch weitreichenden Forderungen, sondern in einer Art Nothandeln; sie hatten genug, sie wollten nicht mehr, die Grenze des Zumutbaren war überschritten. Wenn man dies versteht, dann begreift man, wie aberwitzig und lächerlich die Arbeiterbeschimpfung etwa von Fritz Selbmann ist, der von den Arbeitern am 18. Juni in Stalinstadt wie von kleinen Kindern forderte, sie sollten »das Spiel lassen«. Sie haben nicht gespielt, nicht experimentiert, sondern ihre Gesundheit, ihr Leben, ihr Glück aufs Spiel gesetzt. Ihr Einsatz war hoch. Wie alle großen Bewegungen beginnt auch der 17. Juni nicht aus Übermut, sondern als Bewegung elementarer Selbstverteidigung. Sie taten es unter ziemlich hohen Risiken, sie konnten die Konsequenzen nicht absehen.
Man kann diese Gruppe von Menschen identifizieren, viele haben einen Namen, viele bleiben namenlos, aber es handelt sich um Personen, die sich geäußert haben, von denen es Zeugnisse gibt. Ihre Lebensumstände sind bekannt, ihre Motivation läßt sich rekonstruieren. Es besagt schon etwas für einen Arbeiterstaat, wenn die Wismut-Kumpel in Gera auftauchen und zur Entwaffnung der Volkspolizei schreiten, wenn in Halle die Bergarbeiter von Mansfeld auftauchen. Wenn die Arbeiter des Kirow-Werkes in Leipzig oder die vom Waggonbauwerk Ammendorf in Halle auftreten. Wir sind ziemlich gut im Bilde. Wir haben ein differenziertes Bild. Wir wissen, wer in Berlin auf die Straße ging, wer in Magdeburg, in Leipzig, Görlitz oder Rostock. Der 17. Juni ist eine der am besten dokumentierten Massenbewegungen.[7]