von Sylvia Necker

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15. Januar 2019

Das Radio läuft in der Küche, BBC sendet ununterbrochen neue Nachrichten zum Fortgang der Diskussionen; im Wohnzimmer neben dem obligatorischen englischen Kamin läuft der Fernseher. Gebannt, nicht etwa mit Gurkensandwich, sondern mit Ciabatta in der Hand (ob ich das ab April noch in meiner Ladenstraße bekomme, oder wird es zusammen mit Wein, Schnaps, Autoteilen und USB-Sticks im Tunnel stecken bleiben?) beobachte ich die Debatte. Gewohnt temperamentvoll, eine Bundestagsdebatte ist dagegen ein echtes Schlafmittel, ringen die Abgeordneten im Unterhaus um eine Position in einer gelinde gesagt recht verfahrenen Situation.
Allenthalben ist die Rede vom historischen Tag, den Großbritannien heute durchlebt. Mit dem heutigen „Brexit Vote“ ist der Brexit allerdings nun endlich überall angekommen, konnte man in den letzten Monaten doch den Eindruck gewinnen, der geplante Austritt der Brit*innen aus der EU sei quasi vergessen worden. 

Mit Argumenten ist nichts zu holen

Besonders bei meinen akademischen Kolleg*innen – ob Brit*innen oder nicht – breitete sich eine Agonie und die Überzeugung aus, dass selbst oder gerade mit Argumenten in der Brexit-Sache nichts zu holen sei. Eine Beobachtung, die mittlerweile in vielen politischen Debatten in Europa verbreitet zu sein scheint. Auch ich, im Januar 2018 für ein dreijähriges Forschungsprojekt nach Nottingham gekommen, hatte es aufgegeben zu argumentieren. Weder dem Taxifahrer noch dem Elektriker oder der Verkäuferin im Supermarkt war der Leave-Vote und die Überzeugung auszureden, slave of Germany und der EU zu sein, was man im Falle eines Brexit dann nun nicht mehr sein würde. 

Wer weiß was?

So manche*r Akademiker*in machte Scherze über die Insulaner*innen, doch spätestens seit den eindringlichen E-Mails, die uns im Herbst 2018 von unserer Universitätspräsidentin und dem Home Office erreichten, verflog die Überheblichkeit. Wir wurden darüber aufgeklärt, an einem einzigartigen Pilotprojekt teilnehmen zu können, der uns im Rahmen eines EU Settlement Scheme über die Übergangsphase hinaus einen Aufenthaltsstatus und eine Arbeitserlaubnis sichern würde. Was im Falle eines Brexit ohne Deal passieren würde, malten sich nur die besonders ausgeprägten Pessimist*innen unter uns aus. Es konnte ja sowieso niemand Auskunft geben in den letzten Monaten. Jeden Morgen tönten andere Nachrichten aus dem Radio, obwohl die Uhr tickte. Kein Problem für die Brit*innen, denn man habe doch auch Churchill überlebt. Well. Langes Schweigen und Kopfschütteln der Zeithistorikerin. 

Wenn europäische Gewissheiten verloren gehen

Besonders prekär ist die Situation der Kolleg*innen, die im Moment in durch EU-Drittmittel geförderten Projekten an britischen Universitäten arbeiten, oder von Studierenden, die im Rahmen des Erasmus-Programms im Land sind. Wie im Falle eines wie auch immer gearteten Brexit – der Möglichkeiten gibt es gar viele, wie wir in den letzten Wochen vor Weihnachten nach dem Misstrauensvotum gegen Theresa May lernen konnten – eine Fortführung der Projekte möglich sein wird, kann keiner vorhersagen, trotz aller Beteuerungen der Universitätsverwaltungen, uns EU Citizens nach wie vor im Land behalten zu wollen. Immerhin übernahmen diese die Registrierungsgebühr von 65 Pfund für den Pilot und die meisten von uns halten nun ein Zertifikat des Home Office über ihren Settlement Status in Händen. Ob das Papier am Ende geduldig sein wird, weiß niemand. Man kann es für Eurozentrismus halten – nur wenige von uns haben sich je über ihren Aufenthaltsstatus Gedanken gemacht – , denn schließlich müssen sich alle Kolleg*innen aus Nicht-EU-Ländern um ein Visa bemühen. Doch sind die meisten, so wie ich auch, als EU-Bürger*in und vermutlich mit dem Glauben an eine stabile EU eingereist, oft lange vor dem Referendum 2016. Nun stehen wir vor der Unsicherheit, wie die nicht gerade als Bürokratieexperten ausgewiesenen Brit*innen diesen einmaligen politischen Akt mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen organisieren werden. Der Brexit-Vote heute wurde vor allem aus dem Grund, endlich eine
Entscheidung zu bekommen, herbeigesehnt. 

7 p.m. Ortszeit – Die Abstimmung(en)

Im BBC Fernsehen läuft jetzt der „Countdown to the Brexit Vote“, was nicht – wie etwa im Jahr 1990 im Beitrittsverfahren der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes – in einer Abstimmungsrunde erfolgt. Zunächst stimmen die Abgeordneten über verschiedene Zusatzanträge – Amendments – ab, bevor der Brexit Deal von Premierministerin Theresa May zur Abstimmung steht. Bis dahin verlassen und betreten die Abgeordneten in festgelegter Choreographie mehrfach den Raum (selten fand ich politische Performanz so spannend), und parallel dazu reden sich politische Runden im Fernsehstudio den Mund über die unzähligen Möglichkeiten fusselig, die nach dem heutigen Brexit Vote folgen könnten: Rücktritt Mays, Neuwahlen, zweites Referendum, weitere Verhandlungen mit der EU, Verlängerung der Übergangsphase? Kaum zu glauben, dass zweieinhalb Monate vor dem Brexit-Stichtag noch so viele Szenarien möglich sind.

Die Entscheidung, die keine ist

Um 19:40 ist die Abstimmung erfolgt, Mr. Speaker verkündet das Ergebnis. Theresa May konnte ihren Brexit Deal nicht durchsetzen. In ihrer Rede unmittelbar nach der Abstimmung verkündet sie die nächsten politischen Schritte, gleich morgen erfolgt die nächste Abstimmung im Parlament. Also wieder keine Entscheidung, sondern nur ein weiterer Baustein in einem Prozess, der 2016 begann und an den keine*r glauben wollte. Vermutlich folgen noch einige „historical days“ und Votes. Und so verschafft mir die Unentschlossenheit der Brit*innen ein aufregendes Leben als Zeitzeugin in einem – Brexit hin oder her –zweifellos wunderbaren Land. Sollen die Brit*innen doch die EU verlassen, ich bleibe hier.