von Konrad Jarausch

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10. Juni 2020

Mit dem Notruf aus einem Eckladen von „Cup Foods“ in Minneapolis begann die Konfron­tation am Abend des 25. Mai. Ein Verkäufer teilte mit, dass ein 46-jähriger schwarzer Mann namens George Floyd anscheinend beim Kauf von Zigaretten einen gefälschten 20-Dollar-Schein benutzt habe. Daraufhin stellten zwei herbeigeeilte Polizisten den früheren Sportler zur Rede, zerr­ten ihn aus seinem SUV, und legten ihm Handschellen an. Dann kam der erfahrene Ausbil­der Derek Chauvin mit einem weiteren Polizisten dazu und übernahm das Kommando. Als sich Floyd aus Klaustrophobie der Einsperrung in einen Streifenwagen widersetzte, hielten ihn die weißen Ordnungshüter am Boden fest und Chauvin drückte sein Knie auf dessen Nacken. Immer ver­zweifelter rief Floyd: "Ich kann nicht atmen“. Erst nach acht Minuten und sechsundvier­zig Sekunden ließ Chauvin davon ab, da sich der Mann nicht mehr regte. Zwar benachrichtigten die Polizisten jetzt einen Krankenwagen, aber er kam zu spät, um Floyd zu retten.

Die Nachricht dieses Todes löste spontane Proteste aus, die das Ende der Geduld mit der Ausübung von Polizeigewalt signalisierten, da diese bereits viele Opfer gefordert hatte. Zwar organisierten schwarze Bürgerrechtler*innen zunächst friedliche Proteste gegen den strukturellen Rassismus der Gesellschaft, die auch von liberalen Weißen unterstützt wurden. Aber schließlich entlud sich die Wut von diskri­minierten Jugendlichen in Angriffen auf die Polizei, Plünderungen von Ge­schäf­ten und Vandalismus im eigenen Viertel. Aufgrund von schock­ierenden Videobe­weisen breiteten sich die Proteste über die Städte des ganzen Landes aus und fanden sogar ein internationales Echo. Linke machten die Über­griffe der Polizei für den Aufruhr verantwortlich, während Rechte den Antifa-Chaoten die Schuld gaben. Dahinter steht ein Kulturkonflikt von sich bedroht fühlenden Weißen und benachteiligten Schwarzen, der die fundamentale Ungleichheit der amerikanischen Gesellschaft offenlegt.

Foto: 'I Can't Breathe' -Schriftzug auf der 38th St in Minneapolis, Minnesota, am Mittwoch, 27. Mai 2020, nach dem Mord an George Floyd am Montagabend. Quelle: Lorie Shaull via Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 2.0.

  Die Polarisierung der „(un-)vereinigten Staaten“ war von der Wahl des erratischen Aus­senseiters Donald Trump vertieft worden. Durch seine Medienerfahrung war es dem Immobilienspe­kulanten gelungen, das antiquierte Wahlsystem zu nutzen, um durch einen knappen Vor­sprung in drei Bundesländern des Mittleren Westens die Demokratin Hillary Clinton zu schlagen, obwohl diese 2,9 Millionen Stimmen mehr erhalten hatte. Seine Unterstützer und Unterstützerinnen waren eine para­doxe Mischung von „verärgerten weissen Männern“ und Evangelikalen, vor allem aus länd­lichen Gebieten, die durch Großunternehmen finanziert wurden und nun endlich eine Chance witterten, ihr rückwärtsgewandtes Weltbild durchzusetzen. Für den Präsidenten und seine harten rechten Anhänger*innen war die erste Priorität die Demontage des Erbes Obamas, da dieser als gebildeter Schwarzer all das repräsentierte, was sie hassten. Trumps Amtsführung im Sinne der „alterna­tiven Realität“ von Fox News machte Sexismus und Rassismus fortan wieder hoffähig.

Das liberale Gegenlager konnte nur versuchen, die progressiven Errun­gen­schaften demo­kratischer Aministrationen zu verteidigen. Ausgehend von den Großstädten an West- und Ostküs­te, den Universitäten und Medien wie National Public Radio, der New York Times, oder dem Nachrichtenkanal CNN, bemühten sich fortschrittliche Gruppierungen, die Rechte von Frauen, Schwarzen und Hispanics wenigstens lokal aufrechtzuerhalten. Zwar konnten sie die Re­form der Krankenversicherung, genannt Obamacare, weitgehend behaupten, aber sie vermochten eine riesige Steuersenkung für die Reichen nicht zu verhindern, die den ohnehin sehr beschränk­ten Sozialstaat weiter aushöhlte. Obwohl die Demokraten die Kontrolle des obersten Bundesge­richts verloren, gelang es ihnen in der Zwischenwahl von 2018 die Kongressmehrheit wieder zu erringen und mit Hilfe des öffentlichen Dienstes (dem „deep state“) das Schlimmste zu ver­hindern. Zumindest konnten schwarze Bürger*innen auf die Sympathie des liberalen Gegenlagers rechnen.

Der Fehlschlag der amerikanischen Bekämpfung der Corona-Pandemie trug außerdem zur Verunsicherung und Spaltung der Bevölkerung bei. Aufgrund der inkompetenten Führung von Präsident Trump fiel die US-Reaktion später, unzulänglicher und konfuser als in Deutschland aus und kostete bis dato mehr als 110.000 Todesopfer. Durch die unzureichende Krankenver­sicherung der Unterschicht und die fehlende Ausrüstung an Masken, Tests und Respiratoren sah sich ein sonst hochqualifiziertes Gesundheitssystem nicht in der Lage, die Bürger*innen adäquat zu schützen. Schwarze Amerikaner*innen waren davon mehrfach betroffen: Ihre medizinische Betreuung war schlechter als die der weißen Nachbar*innen; sie arbeiteten in Dienstleistungsberufen, die stärker der Ansteckung ausgesetzt waren; und unter den 40 Millionen Arbeitslosen waren sie deutlich überrepräsentiert. Schließlich wurde die Kampagne für die schnelle Wiederöffnung auch von den harten Rechten angeführt, denen Geld wichtiger als Gesundheit war.

Die Erfahrung von Polizeigewalt betrifft vor allem die schwarze Minderheit, da sie ihr besonders ausgesetzt ist. In Minneapolis sind nur 9% der Polizisten*innen schwarz, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung doppelt so hoch ist und 60% aller Polizeieinsätze Schwarze involvieren. Allein in den letzten Monaten wurden der Jogger Ahmaud Arbery in Georgia von weißen Nach­barn erschos­sen, Breonna Taylor in ihrem eigenen Bett in Louisville von der Polizei getötet und Tony Mc­Dade in Tallahassee von einem Polizisten umgebracht.
Diese Liste ließe sich beliebig ver­längern. Video-Aufnahmen von Zeugen belegen, dass die Ord­nungs­hüter nicht in Selbst­ver­tei­di­gung gehandelt haben, sondern selbst Gewalt anwendeten, ohne bedroht zu sein. Dadurch bröckelt auch langsam die „blaue Mauer des  Schweigens“, durch die Prozesse gegen Polizisten immer wieder mit ihrem Freispruch geendet haben. In Min­ne­apolis wurden die vier sofort aus dem Dienst entlassen und Chauvin des Totschlags und seine Kollegen der Beihilfe angeklagt.      

Neu an den Reaktionen auf George Floyds Tod ist die Breite der Proteste, die weit über die schwarze Subkultur hinausgehen und den Beginn einer Reformbewegung mar­kiert.
Die Kampagne „Black Lives Matter“, die nach dem Mord an Trayvon Martin im Jahre 2013 ge­grün­det wurde, war meist auf die Schwarzen selbst beschränkt. Aber als Präsident Trump warnte, „wenn geplündert wird, wird geschossen“, klagte die Sängerin Taylor Swift ihn an, Öl auf „die Feuer der weißen Vorherrschaft und des Rassismus“ zu gießen. Liberale Medien, Sportler*innen und Akademiker*innen dis­tan­zierten sich von Polizeigewalt und riefen zu einer fundamentalen Kritik des Rassismus in der Gesellschaft auf.
Eine schwarze Kollegin betonte die beson­dere Verantwortung von Historiker*innen: „Ich bin entsetzt und weiß, dass einige von Euch verärgert und unzufrieden sind, mit dem was in diesem Land passiert.” Schwarze Aktivist*innen und  demokra­tische Politiker*innen fordern daher eine „Entfinanzierung“ oder Abschaffung der Polizei.

Foto: US-Präsident Donald Trump geht unter hohem Sicherheitsaufkommen am Montag, 1. Juni 2020, vom Weißen Haus zur St. John's Episcopal Church, auch bekannt als Church of Presidents’s, die durch ein von Demonstrant*innen auf dem nahegelegenen LaFayette Square am Abend zuvor entfachtes Feuer beschädigt wurde. Quelle: Shealah Craighead/The White House via Wikimedia Commons, Lizenz: Gemeinfrei.

Noch ist das Verhältnis von Weißen und Schwarzen durch die Abfolge von Gewalt und Gegengewalt gekennzeichnet. Einerseits sind rassistische Übergriffe weißer Poli­zisten mit Todesfolgen ein Resultat gesellschaftlicher Vorurteile und unzureichender rechtlicher Folgen für die Täter, da sie von der Vermutung schwarzer Kriminalität ausgehen. Andererseits sind Angriffe auf die Polizei und Plünderung von Geschäften von schwarzen Jugendlichen ein elementarer Ausbruch von Ärger über jahrelange Diskriminierung, da sie die Polizei als Agenten der Unterdrückung sehen. Die periodische Wiederholung solcher Konfrontationen zeigt, dass beide Seiten in einer töd­li­chen Umarmung gefan­gen sind, aus der es keinen Ausweg gibt. Gut ­gemeinte Appelle an Toleranz und Aufrufe zur Polizeireform sind ein erster Schritt. Aber das gegenwärtige Er­schrecken ist nur hilfreich, wenn es zu radikalen Veränderungen führt, welche die sozio-ökonomischen Wurzeln des Rassismus ausreißen.

Wird die Wahl von 2020 endlich einen Durchbruch zur Beendung des Rassismus brin­gen? Noch ist der Ausgang ungewiss, weil beide Lager ungefähr gleichstark und die Zahl ihrer An­hänger*innen ziemlich stabil bleibt. Amtsinhaber Donald Trump bleibt indes gleichzeitig ein Held der harten Rechten und ein Problem wegen seiner Unberechenbarkeit, die sogar das eigene Militär wegen des geforderten Einsatzes gegen Demonstrant*innen erschreckt hat. Die demokratischen Herausfor­derer bieten eine breite Palette von Reforminitiativen, die von der Wiederherstellung des politischen Anstands bis zu einem „demokratischen Sozialismus“ reichen. Aber noch ist nicht klar, ob der großvä­ter­liche Spitzenkandidat Joe Biden diese Frustration kanalisieren kann. Nur wenn verfas­sungstreue Republikaner*innen sich vom Präsidenten absetzen und liberale Demo­krat*innen sich genügend engagieren, kann eine progressive Koalition entstehen, die das Gift des Rassismus endlich durch grundlegende Reformen überwindet.

 

Zum Weiterlesen

Mario Keßler, Die USA heute. Politik und Gesellschaft in Bewegung, in: Zeitgeschichte-online, Juni 2020.

Yves Müller und Dominik Rigoll, Rechtsextremismus als Gegenstand der Zeitgeschichte, in: Zeitgeschichte-online, Oktober 2019.

Niklas Krawinkel, „Opfer und Überlebende sind keine Statisten“. Das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt/M. thematisiert die Perspektive von Betroffenen rassistischer Gewalt , in: Zeitgeschichte-online, Februar 2019.

Charlotte Wittenius, BİZİM BERLİN 89/90 im Märkischen Museum in Berlin. Mauerfall und Wiedervereinigung aus deutsch-türkischer Sicht, in: Zeitgeschichte-online, September 2018.

Konrad Jarausch, Der Trump-Schock. Vier Wochen nach der Inauguration Donald Trumps - eine Bilanz , in: Zeitgeschichte-online, Februar 2017.

Bernd Greiner und Michael Wildt, Die ersten 100 Tage. Autokratische Machtsicherung im Vergleich, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2017.

Maria Alexopoulou, Blinde Flecken innerhalb der zeithistorischen Forschung in Deutschland. Eine Antwort auf Martin Sabrows Kommentar „Höcke und Wir“, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2017.

Martin Sabrow, Höcke und wir, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2017.

Annette Schuhmann und Christoph Plath (Hg.), Europa an der Grenze. Zeithistorische Anmerkungen zur „Flüchtlingskrise“, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2017.

Timothy Snyder, Americans are not wiser than the Europeans. 20 lessons from the 20th century, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2017.

René Schlott, The Day after in Washington. Eine Woche Konferenz- und Archivreise in den USA, in: Zeitgeschichte-online, November 2016.
Ariane Leendertz, US-Außenminister John Kerry und der Krieg. Essay über biographische Kontinuität und amerikanische Politik. Teil I: John Kerry und der 22. April 1971, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2016.

Sandra Vacca und David Christopher Stoop, „Bin ich Deutsch genug?“. Die Ausstellung „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ im Deutschen Historischen Museum, in: Zeitgeschichte-online, April 2016.

Sarah Czerney, Migration als Normalzustand. Eine Ausstellung im Dresdner Hygiene-Museum erzählt Geschichten von Einwanderer/innen und stellt Fragen zum Zusammenleben in Deutschland, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2014.

Bettina Greiner und Anne Kwaschik, „Einer muss es tun“ - Zur Effizienz der Folter in „Zero Dark Thirty“. (USA 2013) Regie: Kathryn Bigelow, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2013.

Konrad Jarausch, Auftakt für ein besseres Amerika? Gedanken zu Obamas Wahlsieg, in: Zeitgeschichte-online, November 2012.

Christoph Classen, Frost-Nixon, in: Zeitgeschichte-online, März 2009.