von Susanne Schattenberg

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1. Oktober 2016

Am 16. September 1971 empfing Leonid Breschnew Willy Brandt in Simferopol, bewirtete ihn dort mehrere Stunden, um ihn, wie Brandt der festen Überzeugung war, „unter den Tisch zu trinken“,[1] und fuhr dann mit ihm für ein ganzes Wochenende auf seine Regierungsdatscha Oreanda auf die Krim.
Breschnew holte nach, was ihm ein Jahr zuvor bei der Unterschrift der Moskauer Verträge verwehrt geblieben war, weil er „nur“ Generalsekretär der KPdSU, nicht aber Regierungsmitglied war: Brandt persönlich vom Flughafen abzuholen und sein alleiniger Gastgeber zu sein. Was es Breschnew 1971 ermöglichte, die Regierungsmitglieder auszuschließen, war für die westdeutsche Presse Stein des Anstoßes: Es war ein „inoffizieller Besuch“ ohne Protokoll, ein Arbeitstreffen, auf dem Brandt und Breschnew sich zwar in insgesamt 16 Stunden über alle aktuellen Probleme der Weltpolitik austauschten, außer einem gemeinsamen Kommuniqué aber nichts veröffentlichten.

Besonders anstößig fanden die Kritiker der neuen Ost-Politik, dass Brandt sich in legerer Freizeitkleidung zeigte, eine Bootspartie mit Breschnew unternahm und schließlich mit ihm gemeinsam in dessen Meerwasser-Schwimmbad stieg, Brandt also gleichsam vor Breschnew „politisches Striptease“ vollführte. Die Presse erfuhr zum Glück nicht, was Breschnews Fotograf Musaeljan berichtete: Breschnew lieh Brandt eine Badehose aus. Da die Öffentlichkeit ausgeschlossen blieb, sprachen nur die Fotos, die zwei Männer zeigten, die sich angeregt unterhielten und Kette rauchten, zusammen Boot fuhren und badeten und sich offenbar bestens verstanden. Für Breschnew war dies nicht nur ein Badewochenende, sondern eine „historisch wichtige Begegnung“, die in die „europäische Geschichte“ eingehen würde.
Diplomatisch war das Treffen auf der Krim eigentlich eine Kuriosität; der wichtige Vertrag über die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und damit der DDR war ein Jahr zuvor von Brandt und Ministerpräsident Kossygin unterschrieben worden. Aber Breschnew hatte seine eigene Agenda: Er wollte Europa um jeden Preis eine neue Friedensordnung geben. Dafür hatte er mit viel Aufwand den KSZE-Prozess in Gang gesetzt. Nun ging es darum, Vertrauen aufzubauen und sich selbst als „westlichen Staatsmann“ zu präsentieren.
Auf keinen Fall wollte er als Repräsentant des Kommunismus oder der „aggressiven Sowjetunion“ wahrgenommen werden, sondern als ein Mann, fast schon ein „Kerl“, der schnelle Autos und schöne Frauen liebte, der Wert auf gute Kleidung legte und die legere Gesellschaft suchte, die er, wie Brandt, schon mal mit antisowjetischen Witzen unterhielt.

Jede Geste, jeder „Look“ schien darauf ausgerichtet zu sein, den Blick auf sich als Mensch hin- und von dem System Sowjetunion wegzulenken. So baute Breschnew enge, persönliche Beziehungen – außer zu Brandt – zum französischen Präsidenten Georges Pompidou und zum US-Präsidenten Richard Nixon auf, der über dessen USA-Besuch 1973 urteilte: „Er benahm sich wie ein geschulter Schauspieler, der die Bühne für sich beanspruchte.“[2] Dass Breschnew bewusst daran arbeitete, sich ein westliches, lockeres Image zu geben, berichtet auch sein Fotograf Vladimir Musaeljan. Bevor Breschnew im Oktober 1971 das erste Mal in den Westen nach Paris zu Pompidou reiste, wählte er ein Bild aus, auf dem er im blauen Trainingsanzug, darunter ein weißes T-Shirt, lässig an der Bordwand seiner Yacht lehnend vor der Krim zu sehen war und eine Sonnenbrille trug, um es an die französische Presse zu schicken, die es tatsächlich druckte. Er selbst befand: „Ich sehe hier aus wie Alain Delon.“[3]

Breschnews Botschaft lautete auch damit: Seht, ich bin anders – anders als der Diktator Stalin und der Prolet Chruschtschow, aber auch anders als der miesepetrige Präsident Nikolai Podgorny oder der mürrische Premier Kossygin, die Breschnew nun am liebsten zu Hause ließ, und auch anders als der ihn begleitende, kühle Nein-Sager bzw. „Mister Njet“, Außenminister Andrej Gromyko. In dem Bestreben, nicht als Betonkopf zu wirken, übersah Breschnew aber mitunter, dass es für westliche Staatsmänner ein Comme-il-faut für würdiges Auftreten gab, das er mit seinen ungestümen Gesten immer wieder konterkarierte. Breschnew „überspielte“ gewissermaßen seine Rolle, indem er sich Freiheiten nahm, die nicht nur untypisch für einen Parteiführer waren, sondern auch jenseits des Benehmens eines Staatsmannes lagen. Berüchtigt waren seine Spritztouren, zu denen er Henry Kissinger und Richard Nixon einlud, um in halsbrecherischem Tempo die ihm geschenkten West-Karosserien über enge Straßen zu jagen. Nixon erinnert sich: „An einem Punkt gab es einen steilen Hang mit der Beschilderung ‚Langsam fahren – gefährliche Kurve‘, aber Breschnew fuhr seelenruhig mit mehr als 50 Stundenmeilen weiter, nahm die gefährliche Kurve mit quietschenden Reifen und überhörte tunlichst meine Mahnungen. Beim Aussteigen sagte er nur begeistert: ‚Wunderbarer Wagen – liegt einfach phantastisch in der Kurve!‘ – ‚Sie sind ein außerordentlich guter Fahrer‘, sagte ich. ‚Ich hätte es nie geschafft, diese Kurve mit dieser Geschwindigkeit zu nehmen.‘“[4]

Doch Breschnews außenpolitisch aktive und erfolgreiche Phase des gespielten westlichen Staatsmanns hielt nicht lange an: 1974 starb Pompidou überraschend im Amt, kurz darauf traten Brandt und Nixon zurück, und Ende 1974 brach Breschnew erstmals aufgrund seiner Tablettensucht zusammen. Die neuen „Big Four“ gab es nicht mehr. Die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 war kein Triumph Breschnews, sondern eine Zitterpartie seiner Ärzte, ob er die Zeremonie ohne weitere Zusammenbrüche durchstehen würde. Die Freundschaft und der enge Kontakt zu Willy Brandt hielten aber bis zu Breschnews Tod 1982 an.

 

[1] Willy Brandt, Berliner Ausgabe, hg. von der Willy-Brandt-Stiftung, Bd. 9, Bonn 2009, S. 385.
[2] Richard Nixon, Memoiren, Köln 1978, S. 584.
[3] Zitiert nach Vladimir Musaėl’jan, Brežnev, kotorogo ne znali, in: Kollekcija karavan, Nr. 7, Juli 2015, S. 134-163, hier: S. 149.
[4] Nixon, Memoiren, S. 584f.