Zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik entscheidet sich eine Wahl schließlich durch eine Stichwahl. Am 28. Mai 2023 werden die Wahlberechtigten in der Türkei noch einmal wählen. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise mit einer Inflationsrate von teilweise über 100%, einem katastrophalen Krisenmanagement nach dem Erdbeben am 6. Februar diesen Jahres, bei dem über 51.000 Menschen starben, trotz repressiver Beschränkungen der politischen Freiheiten und hunderten politischer Gefangener im Land, stellt sich die Frage, warum noch immer nahezu die Hälfte aller Türk*innen Recep Tayyip Erdogan wählen.
Diese Wahl ist so wichtig, wie keine andere Wahl der letzten 20 Jahre, sie entscheidet zwischen der Ein-Personen-Herrschaft und einem demokratischen Pluralismus, sie entscheidet darüber, ob es garantierte Rechte für Minderheiten geben wird, sie entscheidet zwischen Autokratie und Demokratie.
Unsere Autorin Elisabeth Kimmerle beschäftigt sich im folgenden Text mit der Entstehung und den Auswirkungen des transnationalen Wahlrechts in der Türkei, darum wie wichtig die Rolle, der in Deutschland lebenden Wahlberechtigten mit türkischem Pass ist.
Der Text erschien erstmals am 3. Mai in der taz. Wir veröffentlichen ihn hier mit freundlicher Genehmigung der taz-Redaktion.
Annette Schuhmann
Vor Wahlen in der Türkei wird Deutschland regelmäßig zur transnationalen Wahlkampfbühne. Mehr als 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass können in Deutschland wählen, und damit fast die Hälfte aller Wahlberechtigten im Ausland, die rund fünf Prozent der 64 Millionen türkischen Wahlberechtigten ausmachen. Bei knappem Wahlausgang könnten diese Stimmen entscheidend sein. Als im Januar der AKP-Abgeordenete Mustafa Açıkgöz in einer den rechtsextremen Grauen Wölfen nahestehenden Moschee in Neuss Wahlkampf machte und gegen die PKK und die Gülen-Bewegung hetzte, weckte das Erinnerungen an 2017. Damals hatten kurz vor dem Referendum über eine neue Verfassung in der Türkei im April 2017 Wahlkampfauftritte türkischer Politiker*innen in Deutschland schwere politische Spannungen ausgelöst. Zusammen mit der Inhaftierung deutscher Staatsbürger in der Türkei markierte die diplomatische Krise einen historischen Tiefpunkt in den Beziehungen der beiden Länder.
Im Juni 2017 verhängte die Bundesregierung ein Wahlkampfverbot für Abgeordnete aus Nicht-EU-Staaten drei Monate vor der Wahl und eine Genehmigungspflicht für Wahlkampfveranstaltungen außerhalb dieses Zeitraums. Auch diesmal lud das Außenministerium den türkischen Botschafter zum Gespräch und erklärte, Auftritte wie der in Neuss dürften sich nicht wiederholen, Hetze und Hassrede hätten in Deutschland nichts verloren. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte einen für Ende Januar geplanten Berlin-Besuch ab, weil man sich, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtete, nicht auf Themen und eine Uhrzeit für das Treffen mit Bundeskanzler Scholz einigen habe können.
Dass sich vor Wahlen in der Türkei der Blick der Politiker und der Gesellschaft auf die Wahlberechtigten mit türkischem Pass im Ausland richtet, ist nicht neu, sondern hat jahrzehntelange Tradition in der deutsch-türkischen Geschichte. Bereits vor 50 Jahren kam es in Frankfurt zu einem ähnlichen Zwischenfall wie jenem in Neuss. Ende Juli 1973 besuchte der Arbeitsminister Ali Naili Erdem von der konservativen Adalet Partisi („Gerechtigkeitspartei“, AP) Deutschland, um vor der Wahl in der Türkei am 14. Oktober 1973 mit Arbeitsmigrant*innen über ihre Probleme zu sprechen. 1973 lebten fast eine Million türkische Staatsbürger*innen in Westdeutschland und es bahnte sich ein politisch bewegter Spätsommer und Herbst an. In der Türkei sollten drei Monate später nach zwei Jahren Ausnahmezustand zum ersten Mal seit dem Militärputsch am 12. März 1971 wieder Wahlen stattfinden. In Deutschland würden nur wenige Wochen nach Erdems Besuch Arbeitsmigrant*innen mit wilden Streiks gegen schlechte Arbeitsbedingungen zuerst den Fabrikbetrieb bei Pierburg in Neuss und dann bei Ford in Köln lahmlegen. Vier Monate später, im November 1973, würde die Bundesregierung einen Anwerbestopp für Arbeitsmigrant*innen verhängen. Einige Historiker*innen sehen einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen, politische Aktivitäten von ‚Gastarbeitern‘ waren in Deutschland nicht erwünscht.
All das lag beim Besuch des türkischen Arbeitsministers Erdem im Juli 1973 in der Luft. Die Bundesregierung wollte nicht in den türkischen Wahlkampf verwickelt werden und hatte aus Sorge davor einen Besuch des Oppositionsführers Bülent Ecevit von der CHP auf einen Termin nach den Wahlen verschoben. Denn sie ging davon aus, dass die CHP die Wahl verlieren würde und ein Besuch Ecevits in Deutschland von der konservativen AP als Wahlkampfunterstützung verstanden werden könnte.
Ironischerweise sorgte wenig später der Auftritt des konservativen Arbeitsministers Erdem in Frankfurt dafür, dass Deutschland doch zur Bühne eines Eklats im türkischen Wahlkampf wurde. Denn Erdem wurde am 31. Juli 1973 in Frankfurt nicht von jubelnden Anhänger*innen begrüßt, sondern von linksgerichteten Arbeitsmigrant*innen. Nach der Veranstaltung in Frankfurt brach Erdem seine Deutschlandreise aufgrund von Sicherheitsbedenken vorzeitig ab und kehrte in die Türkei zurück. Der Nachrichtenagentur dpa gegenüber begründete er seine verfrühte Abreise damit, die Polizei habe nicht für seine Sicherheit garantieren können. Eine Gruppe von 70 bis 80 linksradikalen Migrant*innen habe die Versammlung wiederholt sabotiert, so Erdem. Die Frankfurter Polizei dementierte, dass die Sicherheit des Arbeitsministers gefährdet war.
Was an jenem Abend genau vorgefallen war, gab türkischen Zeitungen Anlass zu Spekulationen und ließ sich nicht zweifelsfrei aufklären. In der konservativen türkischen Presse kursierten Behauptungen, linksgerichtete Migrant*innen hätten Banner mit Hammer und Sichel im Saal aufgehängt, bei der deutschen Polizei sei ein anonymer Hinweis auf ein von türkeistämmigen Dissidenten geplantes Attentat oder eine Entführung durch die RAF eingegangen. Die CHP warf Erdem vor, aus einem heraufbeschworenen Eklat Kapital für den Wahlkampf schlagen zu wollen, und forderte seinen Rücktritt. Die kemalistische Tageszeitung Cumhuriyet spottete, der Minister habe wohl nicht damit gerechnet, in Europa mit linksgerichteten Migrant*innen konfrontiert zu werden.
Als Reaktion auf Erdems Anschuldigungen veröffentlichte die Föderation der Türkischen Sozialisten in Europa (ATTF), zu dieser Zeit der größte Zusammenschluss linksgerichteter Arbeiter*innen und Student*innen in Europa, eine Erklärung zu den Geschehnissen in Frankfurt. Diese, so die ATTF, seien frei erfunden. In Wirklichkeit sei Erdem durch die Fragen der Arbeiter*innen überfordert gewesen, die er nicht, wie in der Türkei gewohnt, zum Schweigen bringen konnte, und habe seine Reise deshalb abgebrochen. Auch die deutsche Botschaft kam am Ende zu dem vorsichtigen Schluss, es sei nicht undenkbar, dass der Arbeitsminister übertrieben habe, um aus dem Drohszenario der ‚linksextremen Indoktrinierung‘ von Arbeitsmigrant*innen im Ausland politischen Nutzen zu schlagen.
Unabhängig davon, was in Frankfurt genau passiert war, zeigt dieser Zwischenfall, dass türkische Politiker Arbeitsmigrant*innen in Deutschland bereits 1973 als relevante Wählergruppe erkannt hatten – oder zumindest als Wahlkampfthema. Denn aus dem Ausland wählen konnten Migrant*innen damals nicht. Sie konnten ihre Stimme nur abgeben, wenn sie zur Wahl in die Türkei reisten. Nach zeitgenössischen Schätzungen des Sozialwissenschaftlers Yılmaz Özkan hätten in Westeuropa lebende Migrant*innen aus der Türkei 25 bis 30 von 450 Parlamentsabgeordneten gewählt, wenn sie ihre Stimme aus dem Ausland abgeben hätten können. Dass sie nicht wählen konnten, bedeutete aber nicht, dass Migrant*innen nicht politisch aktiv waren.
Bereits 1973 forderten Migrant*innen aus der Türkei ein transnationales Wahlrecht und riefen alle Arbeitsmigrant*innen im Ausland dazu auf, sich mit Wahlkampagnen und Kundgebungen im Ausland am türkischen Wahlkampf zu beteiligen. Die ATTF kritisierte in einem Aufruf zur Wahl 1973, dass die türkische Regierung Arbeitsmigrant*innen die Möglichkeit vorenthielt, aus dem Ausland zu wählen. Der Grund war für die sozialistische Föderation klar: Die Regierung ging davon aus, dass viele Arbeitsmigrant*innen ihre Stimme nicht den konservativen Parteien, sondern linksgerichteten Parteien geben würden. „Dass sie uns kein Wahlrecht geben, bedeutet jedoch nicht, dass wir uns aus dem Wahlkampf heraushalten“, heißt es in dem Aufruf. „Als ATTF rufen wir alle unsere Bürger*innen auf, Wahlkomitees in ihren Städten zu gründen und bei den Wahlen die eigenen Forderungen zur Sprache zu bringen.“ Um aus dem Ausland Einfluss auf die Wahlen zu nehmen, forderte die ATTF Migrant*innen auf, Kundgebungen zu organisieren und Verwandten und Bekannten in der Türkei Briefe mit Wahlempfehlungen zu schicken.
An den Wahlen in der Türkei teilnehmen zu können, war für Migrant*innen nicht nur deshalb bedeutend, weil sie in Deutschland kein Wahlrecht hatten. Vor dem Anwerbestopp entwarfen viele Migrant*innen Pläne für eine Zukunft in der Türkei. Was in der Türkei politisch passierte, war demnach relevant für sie, auch wenn sie temporär nicht dort lebten. Weil der Anwerbestopp die Reisefreiheit von Drittstaatsangehörigen einschränkte, sahen sich viele türkeistämmige Migrant*innen vor die Wahl gestellt, in Deutschland zu bleiben oder in die Türkei zurückzukehren. Da sich auch die politische Gewalt in der Türkei im Laufe der 1970er Jahre immer weiter zuspitzte, holten viele ihre Familien nach Deutschland. Der Militärputsch am 12. September 1980 machte eine Rückkehr in die Türkei für viele Migrant*innen zunehmend unwahrscheinlicher.
Es sollten 41 Jahre vergehen, bis die türkische AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland Auslandswahllokale einrichtete. Mit der Einführung eines transnationalen Wahlrechts folgte Erdoğan einer ähnlichen Logik wie die Regierung 1973 unter umgekehrten Vorzeichen: Denn anders als diese ging er davon aus, mit der AKP im Ausland eine Mehrheit der Stimmen zu bekommen. Bei der Präsidentschaftswahl 2014 konnten türkische Staatsbürger*innen erstmals in türkischen Konsulaten im Ausland wählen. Dazwischen lagen Jahrzehnte voller politischer Umbrüche. Der Anwerbestopp 1973, der Militärputsch in der Türkei 1980, die Rückkehrprämie 1983, die Wende 1990, Mölln 1992 und Solingen 1993 markierten Zäsuren, die sich alle darauf auswirkten, wo sich türkeistämmige Menschen zugehörig fühlten, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebten und arbeiteten, aber nicht wählen durften.
Seit 2014 konnte die AKP durch Wahlkampfauftritte im Ausland viele Stimmen mobilisieren. Bei den Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 bekam die AKP in Deutschland 55,7 Prozent, die CHP 15,6 und die HDP 14,8 Prozent der Stimmen; bei der Präsidentschaftswahl am selben Tag lag Erdoğan mit 64,8 Prozent deutlich vor seinem Konkurrenten Muharrem İnce von der CHP, der in Deutschland 21,9 Prozent holte. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung von 2020 zeigt jedoch, dass die in Auslandswahllokalen abgegebenen Stimmen wegen des geringen Anteils an der Gesamtwählerschaft, der niedrigen Wahlbeteiligung und der relativ kleinen Unterschiede zu den Wahlergebnissen in der Türkei nicht wahlentscheidend waren.[1] In der deutschen und türkischen Öffentlichkeit blieben als wichtiger Faktor für Erdoğans Wahlsieg dennoch die Wahlergebnisse aus Deutschland in Erinnerung.
Türkische Wahlkampfauftritte im Ausland lenkten, vor allem, wenn sie skandalträchtig waren, immer auch von innenpolitischen Problemen ab. Doch nicht immer geht dieses Kalkül auf, wie ein Blick 50 Jahre zurück zeigt: Am 14. Oktober 1973 zumindest gewann nicht die konservative AP, sondern überraschend der Oppositionsführer Bülent Ecevit mit der CHP die Wahlen.
[1] Sevi, Semra, et al. "How do Turks abroad vote?." Turkish Studies 21.2 (2020): 208-230.