von Peter Jahn

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1. Mai 2005

Die großflächigen Reklametafeln an den Ausfallstraßen Moskaus fordern gewöhnlich mit eleganten Männern und schönen Frauen zum Konsum von Autos, Einbauküchen oder Edelschnäpsen auf. Im Herbst 2004 blickte von vielen dieser Tafeln ein blonder junger Mann in der Uniformbluse des Zweiten Weltkriegs ernst und konzentriert die Moskauer an, im Hintergrund Soldaten in Reih und Glied, darüber in großen Buchstaben: »SCHTRAFBAT« – Strafbataillon.
Mit diesem ungewöhnlichen Aufwand wurde für eine elfteilige Fernsehserie (Regie: Nikolaj Dostal) des Senders Rossija, des zweiten staatlichen Kanals, geworben, die am 20. September 2004 gestartet wurde und ein großer Publikumserfolg zu werden versprach. In allen Städten priesen die Händler schon vor dem Start die ganze Serie als DVD oder VHS-Kassette an. Nun nahm schon 2004 Jahr die große Erinnerungsmaschine an den 60 Jahre zurückliegenden Sieg über Hitlerdeutschland Bewegung auf, und diese Serie war keineswegs die einzige Fernsehproduktion des Herbstes zum Krieg. Die Erinnerung an Krieg und Sieg nimmt im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag einen zentralen Platz im öffentlichen Bewusstsein ein. In der von den Schrecken des Bürgerkriegs, der Kollektivierung, der »Säuberungen« und des Gulags, schließlich vom deprimierenden Niedergang der kommunistischen Herrschaft geprägten Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert ist die Erinnerung an den unter unsäglichen Opfern errungenen Sieg über den »faschistischen« Eroberer der einzige helle Punkt. Im Geschichtsbewusstsein der heutigen Russen steht die Erinnerung an diese kollektive Leistung quer durch die Generationen an erster Stelle. Und der Staat fördert auf der Suche nach integrierenden Momenten eines postsowjetischen Selbstbewusstseins diese Erinnerung.
Zugleich tendiert diese auf Integration ziel ende Betonung historischer Stärke und Gemeinsamkeit im Krieg noch heute dazu, Kritikwürdig es an den Rand zu schieben oder völlig zu negieren, Täter der stalinistischen Herrschaft und ihre Opfer unter dem Banner der Vaterlandsverteidigung zu vereinen. In der Regel wurde in den populären postsowjetischen Kriegsdarstellungen die im Krieg andauernde stalinistische Repression ausgeblendet, um auf den Triumph der Helden und Sieger keinen Schatten zu werfen.
Helden, die tapfer den deutschen Eindringling angreifen und ihr Leben jederzeit für das Vaterland einsetzen, gibt es auch in diesem Film in genügender Zahl. Und auch sonst folgt die Serie trotz vorzüglicher Schauspieler, einer eindrucksvollen Kamera und in vielen Details glaubwürdigen Szenen den überall gültigen ästhetischen Gesetzen des populären Kriegsfilms. Explosion und Kriegstod werden in Zeitlupe weichgezeichnet, der deutsche Feind, die »Fritzen«, sind in der Regel trottelig und verlieren natürlich regelmäßig in den Kampfszenen. Ein ein paar Liebesepisoden müssen zudem das düstere Thema aufhellen. Die Schwächen dieser Serie sind die Schwächen der meisten populären Kriegsfilme, nicht nur in Russland.
All das macht aber nicht den Film. Bereits das Thema, die Strafeinheiten der Roten Armee, ist für die russische Geschichtserinnerung ein außerordentlicher Tabubruch. Über Strafniki, die Soldaten der Strafeinheiten, sang in den siebzige Jahren der geduldete Außenseiter Wyssotzki, dessen Verse nur auf Schreibmaschinendurchschlägen verbreitet werden konnten. Anfang der neunziger Jahre gab es im Gefolge der Glasnost einen Dokumentarfilm über die Strafeinheiten – und das war es. Bis heute existiert keine umfassende militärhistorische Untersuchung zu diesem Thema. Dabei waren die Strafeinheiten alles andere als marginal in den sowjetischen Streitkräften. Mehrere hunderttausend Männer – Kriminelle, politische Gefangene, aufsässige Soldaten – sind in Strafeinheiten als erste Angriffswelle auf gut befestigte deutsche Stellungen oder durch Minenfelder geschickt worden, um unter enormen Verlusten den folgenden Einheiten den Durchbruch zu ermöglichen. Die Verluste bei solchen Kampfhandlungen werden auf ca. 80 Prozent geschätzt. Strafsoldaten, die zurückwichen, wurden von Sperrverbänden des NKWD zusammengeschossen.
In Schtrafbat stehen diese Schmuddelkinder des Sieges im Mittelpunkt, an erster Stelle der Kommandeur, Major Twerdochlebow, der in Gefangenschaft gerät und sich schwer verwundet zu den eigenen Truppen duchschlägt – wo ihm der Vernehmungsoffizier mit Folter ein Geständnis der Kollaboration abzupressen versucht, denn nach dem berüchtigten Befehl 270 vom 16. August 1941 war ja jeder sowjetische Kriegsgefangene erst einmal ein Vaterlandsverräter. So wird (anders als in der Realität, in der die Kommandierenden der Strafeinheiten besonders zuverlässige Offiziere waren) der Held der Serie zum Kommandeur eines Strafbataillons und der Zuschauer begleitet seine Entwicklung vom gläubigen Kommunisten zum desillusionierten Verzweifelten. Zu dieser Entwicklung gehört auch die nochmalige Inhaftierung durch den NKWD und der erneute Versuch, ihm durch Folter ein Geständnis erfundener Verbrechen abzupressen.
Ihm wird ein zweiter »Held« zur Seite gestellt, der brutale Raubmörder Glymow, die Autorität unter den Kriminellen des Bataillons. Für ihn wird der Kampf für die Befreiung des eigenen Landes immer stärker zu einem von ihm selbst akzeptierten Wert, dabei bleibt er aber Zyniker, der die Realität der eigenen Gesellschaft genauer erkennt als der gläubige Kommunist Twerdochlebow. Die Rolle der Schurken haben in diesem Drama nicht die Deutschen, sie sind den ganzen Film über einfach der Feind.
Als Schurke ist der NKWD-Major Chartschenko im Divisionsstab präsent bis zur vorletzte n Folge, der Feind der Strafsoldaten hinter der eigenen Front. Für ihn steht der innere Feind, die Soldaten der Strafeinheiten an erster Stelle. Dieser innere Konflikte bildet oft noch vor den Kampfeinsätzen den wesentlichen zweiten Handlungsstrang der Serie. Als NKWD-Major Chartschenko durch einen Spitzel von einem deutschen Vorratsbunker zwischen den Fronten erfährt, aus dessen Schätzen sich in stillschweigender Übereinkunft Strafniki und deutsche Soldaten bedienen, ohne auf einander zu schießen, kommandiert er einen Angriff auf den Bunker, um sich mit dessen Eroberung einen Orden zu verdienen. Dabei fällt ein Deutscher wie auch er selbst, der Bunker samt Vorräten wird anschließend durch Artilleriefeuer vernichtet. Als der Zyniker Glymow im Gespräche mit seinem Bataillonskommandeur den Tod des deutschen Soldaten bedauert und der Kommandeur dieses Mitgefühl mit dem »verfluchten Feind« zurückweist, sagt ihm Glymow – Volkes Stimme: »Chartschenko ist einer von uns – er ist schlimmer als der verfluchte Feind.«
Die Fernsehserie spricht immer wieder die Verb rechen des stalinistischen Systems gegen die eigenen Soldaten an, wenn der Kommandeur bei Neuzuweisungen regelmäßig nach den Gründen für die Verurteilung zum Strafdienst fragt. Hier ist der Film ganz dicht an der historischen Realität und er trennt damit konsequent die Erinnerung und Glorifizierung des berechtigten und an keiner Stelle zu bezweifelnden Kampfes gegen die deutschen Eroberer von der Legitimierung des stalinistischen Systems. So eindeutig und zugespitzt hat man das noch nicht gesehen – schon gar nicht in der populären Massenunterhaltung. Die buchstäbliche Lage des Strafbataillons zwischen zwei Feuern –des deutschen Kriegsgegners vor und der Sperrverbände des NKWD hinter ihm – wird zum Symbol für die Situation der Armee und der ganzen Gesellschaft im Krieg.
Und der Film hört auch nicht bei der Kritik am politischen Terrorapparat auf, sondern stellt auch kritische Fragen an die militärische Führung. Am Ende der Serie wird in einem düsteren Höhepunkt das gesamte Bataillon für einen Scheinangriff geopfert. Als das Bataillon schon fast vernichtet ist, schwenkt der Film hinüber zum Stab des deutschen Kommandeurs, der die Täuschungsabsicht durchschaut und konstatiert: »Sie haben über 1000 Soldaten geopfert. Die Freigiebigkeit der Russen weckt Bewunderung und Furcht. Wenn Deutschland so viele Soldaten hätte, würden wir sie nicht so vergeuden.«
Am Ende streift die Kamera über das Schlachtfeld und die Toten, deren Gesichter dem Zuschauer über elf Folgen vertraut geworden sind. Der Kommandeur sitzt schwer verwundet neben einem zerstörten Geschützes – Déjà-vu für den russischen Zuschauer: das Bild zitiert das bekannte Dokumentarfoto des deutschen Unteroffiziers, der nach der Schlacht von Kursk 1943 von sowjetischen Soldaten auf einem zerstörten Geschütz sitzend vorgefunden wurde – am Krieg irre geworden.
Aber nur Kritik – das ist für das Russland Putins dann doch zu viel. In der spät eingeführten Figur eines Popen, Vater Michail, muss dann noch „das Positive“ her: von übermenschlicher Größe als Kämpfer wie als Trostspender läßt sich vor dem letzten Kampf noch jeder von ihm segnen, selbst Kommunist, Jude und Muslim. Und sein letzter Gang über das Schlachtfeld wird von Engelschören und einer Marienerscheinung begleitet. In dem sonst so eindrucksvollen Film ist das nicht nur überschwere Schmalzkost, sondern auch als politische Botschaft nur schwer verdaulich. Orthodoxie als neue Staatsideologie? Allerdings: Wer die autoritäre Politk Putins kritisiert, sollte vorsichtig in der Wahl der Kategorien, vor allem mit dem so bequemen Schlagwort von der Restalinisierung sein. Denn diese Serie ist vom Staat gewollt und sie signalisiert einen eindeutigen Bruch mit dem Stalinismus.

Erstveröffentlichung in: Die ZEIT vom 7.10.2004 unter dem Titel „Strafsoldaten für die Front. Eine russische Fernsehserie über den Zweiten Weltkrieg handelt vom stalinistischen Terror bei der Roten Armee“