von Constanze Jaiser

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11. August 2010

Auschwitz, Dachau, Theresienstadt, Łódź – dies sind die Schauplätze eines Videokunstwerks, das die australische Künstlerin Jane Korman unter dem Titel „I Will Survive: Dancing Auschwitz“ aufgenommen hat. Jane Korman und ihre Familie, ihr 89-jähriger Vater Adolek (Adam) Kohn, ein Überlebender von Auschwitz und seine fünf Enkelkinder tanzen zu Gloria Gaynors bekanntem Hit aus den 1970er Jahren. Sie tanzen vor dem Stammlager, an der Rampe in Birkenau, aber auch in Łódź und in Dachau vor einem Denkmal und vor dem Eingangstor zur kleinen Festung im Ghettolager Theresienstadt. Der Film ist, entsprechend der Musik, als Tanzchoreographie vor den wechselnden Hintergründen geschnitten und wirkt wie ein Reisetagebuch mit improvisierten Einlagen.

Wenige Tage auf der Internetplattform YouTube eingestellt, war es bereits eine halbe Million Mal aufgerufen worden. Schon nach der Premiere im Dezember 2009 im Rahmen einer Kunstausstellung im australischen Melbourne waren die Reaktionen der Zuschauer gespalten. Fanden die einen Positives an dieser ungewöhnlichen Form der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, so empörten sich die anderen, weil der Auftritt der Tanzenden als respektlos gegenüber den Opfern empfunden wurde.

In einem Interview im Deutschlandfunk äußert die Aktionskünstlerin Jane Korman Verständnis für die ablehnende Haltung, macht aber deutlich, dass neben der familienbiographischen Bedeutung durchaus Provokation ein Ziel des Projektes war:

„Zunächst einmal tanzen wir einen Freudentanz, der nur an diesen Orten stattfinden konnte. Wenn wir irgendwo auf der Straße oder irgendwo in Israel getanzt hätten, wäre das lange nicht so wirkungsvoll gewesen, und es war mir sehr wichtig, dieses Kunstwerk über die Vergangenheit und über die Zukunft zu schaffen, für die nächste Generation, die nächste jüdische oder nicht-jüdische Generation, ganz egal, um an den Holocaust zu erinnern und daran, wie die Menschheit mit Vorurteilen solch ein Elend verursachen konnte. Wir müssen sehr sorgsam sein, was wir denken und was wir tun. Das ist die Botschaft und die Lektion, die ich der nächsten Generation mitgeben möchte. Die üblichen Bilder, die sie über den Holocaust sehen, haben sie schon oft gesehen, da sind sie abgestumpft. Ich wollte etwas schaffen, um sie wieder zu sensibilisieren, um zum Nachdenken anzuregen, und das passiert gerade.“[1]

Die Produktion der Performance will die Künstlerin in keiner Weise als lockere Spaßperformance verstanden wissen. Jane Korman berichtet an anderer Stelle über die zum Teil merkwürdigen und unangenehmen Gefühle und davon, wie schwierig es gewesen sei, an den Orten des Schreckens zu tanzen. Davon zeugen nicht zuletzt die mitunter unbeholfenen Bewegungen der Akteure zum eingängigen Rhythmus des Liedes – und die Tatsache, dass am Ende des Films nicht immer alle fünf Enkel auf dem Video zu sehen sind.

Kormans Mutter, ebenfalls Überlebende von Auschwitz, wollte gar nicht erst mitkommen auf die Reise nach Polen. Ihre Erinnerungen an den Antisemitismus, den sie als Schülerin erlebt hatte, schreckten sie ab, ebenso wie die Rückkehr an den Ort, an dem ihre Mutter umkam. Ihr Vater dagegen verteidigt das Projekt und meint, hätte ihm jemand vor 63 Jahren in Auschwitz gesagt, er würde eines Tages mit fünf Enkeln dorthin zurückkehren, er hätte ihn für verrückt erklärt. Auschwitz werde auch nach diesem Tanz Auschwitz bleiben, auch sie hätten die Erinnerung an die Toten im Herzen gehabt. Es vergehe kein Tag, an dem er nicht an seine ermordete Familie denke. Dennoch, er selbst sei lebendig, eine neue, wunderbare Generation sei aus seinem Überleben hervorgegangen.[2]

 

Provokation wider die Ästhetisierung der Trauer

Es ist erwähnenswert und Jane Korman als Betroffene berichtet darüber, dass vor allem Kinder von Überlebenden von dieser Form des Umgangs mit dem Familienerbe berührt sind und positiv auf das Video reagieren. 

Dass es Reaktionen aus dem rechtsextremen Lager gibt, ist nicht weiter verwunderlich. Indirekt weist die Debatte wohl auf das nicht fassbare, irrationale, das in dieser Kunstperformance liegt. Das Kunstprojekt verweigert sich dezidiert jeglicher Ästhetisierung und Choreographie und hebelt somit die Deutungshoheit einer homogen imaginierten Erinnerungsgemeinschaft aus, einer Gemeinschaft, die sich selbstgewiss als Hüterin eines ästhetisierten und leicht bekömmlichen Trauerkomplexes repräsentiert. Auffällig sind einige Aspekte in der gegenwärtigen Kontroverse über „Dancing Auschwitz“, die diese Sichtweise stützen:

Die Recherche im Internet zeigt etwa, dass die Aktion offenbar weltweit zur Kenntnis genommen worden ist. Vor allem aber zeigt sie, dass, egal ob auf deutschen, englischen, russischen, dänischen, spanischen oder chinesischen Websites vor allem Szenen der tanzenden Familie vor dem Auschwitztor zu sehen sind. Ob geschmacklos oder provokant, durchdacht oder einfach nur blöd, es handelt sich hierbei, wie laut vernehmbar diskutiert wird, um einen Tabubruch.

So titelt die BILD-Zeitung am 13. Juli 2010 „Darf man so ein Video drehen? Holocaust-Überlebender tanzt mit Familie vor KZ Auschwitz“. Das präsentierte Videostandbild zeigt das Tor zum Stammlager in Auschwitz mit dem berüchtigten Schriftzug „Arbeit macht frei“. Es ist anzunehmen, dass die Aufregung um das Video wesentlich geringer ausgefallen wäre, wenn die Familie vor dem für Nichtexperten schwer erkennbaren Hintergrund des Denkmals in Łódź oder am Eingang vor Theresienstadt getanzt hätte.

 

Das Auschwitztor als negative Ikone

Es geht um das Auschwitztor als eine Art negativer Ikone. Das Auschwitztor mit seiner Beschriftung steht für die Vergegenwärtigung des Massenmordes an den europäischen Juden. Da dieser im Vernichtungslager Birkenau stattfand, wird das Tor zumeist mit dem Ort der physischen Vernichtung verknüpft. Die Beschriftung deutet auf die Verhöhnung jener, denen das Leben jenseits des Tores zur Hölle gemacht wurde. Für diejenigen, die durch das Tor hindurchgehen mussten, war das Bild der Hölle ein passender Begriff. Eine zur mythischen Hölle aufgeladene Sichtweise und die erwünschte Ehrfurcht vor einer nicht nachvollziehbaren Erfahrung rücken das Ganze jedoch schnell in eine Sphäre der Erstarrung. Vor dem Auschwitztor darf danach nichts außer der Inschrift zu sehen und auch nichts zu hören sein – salopp gesprochen: Das Pendant zum Trauerkomplex lautet Grabesstille, die nebenbei bemerkt Auschwitzbesucher dort allerdings zu keiner Tageszeit finden. Alternativ darf der Bildungsbürger sich ein Schwarz-Weiß-Bild vergegenwärtigen, auf dem eine Kolonne ausgemergelter Häftlinge durchs Tor läuft.

Interessanterweise führt uns die BILD-Zeitung vor, was im schlimmsten Fall auf eine, in dieser Form „amputierte“ Erinnerung folgt. Das Blatt suggeriert, dass man mit „dem Andenken an sechs Millionen ermordete Juden nicht 'spielen'“ dürfe. Statt sich selbst zu positionieren, kommen drei prominente deutsche Juden zu Wort. Zwei von ihnen äußern sich eher positiv, jedoch gerät die Meinung des Dritten im Kontext der Berichterstattung in die Nähe eines altbekannten antisemitischen Stereotyps. Zitiert wird seine Vermutung, die Künstlerin habe am Ende vielleicht doch nur „Eigenwerbung“ betreiben wollen, mit dem Zusatz: „So etwas tut man nicht auf Kosten von Ermordeten.“

 

Gibt es eine richtige Erinnerung?

Offenbar geht es der Künstlerin nicht allein um das Erinnern an die Toten. Dies widerspricht etwa dem Bedürfnis eines anderen Überlebenden, dem 86-jährigen Kamil Cwiok, dessen Familie in Auschwitz umkam. Für ihn, so äußert er gegenüber dem Daily Telegraph vom 13. Juli 2010, trivialisiere das Video den Horror.

Die Zeitung hat außer dem bekannten Standbild vor dem Auschwitztor noch ein weiteres zu bieten. Bei dieser Aufnahme kann kein gewinnträchtiges Rumgehopse zur Discomusik vor „dem Symbol des Leidens von sechs Millionen“ unterstellt werden, vielmehr zeigen drei junge und ein alter Mensch verschiedene Gesichtsausdrücke. Das eigentliche Problem ist jedoch die Irritation, die den Betrachter erfasst, weil aus dem ebenfalls zur Ikone gewordenen Viehwaggon eine Familie schaut, die gerade nicht in den Tod fährt.

Schließlich vervollständigt die Online-Ausgabe des SPIEGEL vom 9. August 2010 das Triptychon „Falsches Erinnern an den Holocaust“, in dem der Hauptikone Auschwitztor außer dem Waggon das Krematorium beigefügt wird.

Erneut zeigt sich das irrationale, das den Trauerkomplex virulent macht. Adolek Kohn hat Auschwitz überlebt, T-Shirt und Pose drücken seinen Triumph darüber aus, dass er den deutschen Mördern entkommen ist. Kamil Cwiok, dessen Familie in diesen Öfen verbrannt wurde, wird, obgleich auch er überlebt hat, wohl nie auf einem solchen Bild zu sehen sein. Und wenn, dann wohl in einer Haltung, wie Trauernde sie auf einem Friedhof einnehmen. Das wäre seine Form des Umgangs mit seiner Erfahrung Auschwitz am heutigen Ort Auschwitz. Was für Adolek Kohn ein „historischer Moment“ ist, ist für Kamil Cwiok eine Trivialisierung seines erlebten Horrors. Wem wäre das Recht auf die richtige Erinnerungsform zuzusprechen?

Merkwürdig unkommentiert bleibt übrigens das für die Performance gewählte Lied, in dem schließlich eine gescheiterte Liebesbeziehung besungen wird und das damit den Tatbestand der Verharmlosung am ehesten erfüllt. Doch ähnlich wie das Auschwitztor und der Viehwaggon ist auch diese Popschnulze zu einer Chiffre erstarrt, bei der jeder beim Mitsingen seine eigene Interpretation von „I will survive“ hineinlegt.

Inzwischen gibt es zwei weitere Videoclips, die eine Ergänzung zur Performance sind und all jene widerlegen, die noch immer Profitgier wittern. Leider wird aufgrund ungeklärter Urheberrechtsfragen der Zugang zu Teil 2 verweigert.[3] Wunderbar hier Adolek Kohn, der sich ins Spiel im Viehwaggon hineinsteigert und immer wieder lacht über diesen ungewohnten Umgang mit seinen Erinnerungen. Selbst die Enkel sind überrascht.

Das eingefahrene ritualisierte Trauern wird von den Hütern des guten Geschmacks bei geringsten Verformungen angemahnt – nicht selten von jenen, die nicht auf familiäre Verfolgungsgeschichten zurückblicken müssen.

Es sieht fast so aus, als hätte Henryk M. Broder, der im SPIEGEL seine Rolle des spitzzüngigen Kritikers spielen darf, Recht, wenn er dem knapp viereinhalbminütigen Kurzfilm attestiert, er wäre am Ende „eine kluge Antwort auf die Frage, wie man an etwas erinnern kann, das im Steinbruch der 'Erinnerungskultur' längst zu historischem Schotter verarbeitet wurde“. Die Videoperformance von Jane Korman ist eine Lektion in Sachen Toleranz, eine Lektion nicht nur darüber, dass Intoleranz zum Holocaust führte, sondern auch darüber, dass das Erinnern an Auschwitz nicht nur eine Form kennen sollte.

 


[1] Aus der deutschsprachigen Transkription, zuletzt eingesehen am 11. August 2010.

[2] Aus dem BBC-Gespräch der Mitwirkenden, zuletzt eingesehen am 11. August 2010.  

[3] Teil 1 ist noch hier zu sehen, Teil 3 auf Youtube