von Anina Falasca

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1. November 2014

Griechische Tempel, Coca-Cola-Dosen, Lenin, Trabis, Pyramiden, der Taj Mahal, Zigaretten, die Berliner Mauer – die Ikonen unseres kulturhistorischen Gedächtnis fliegen auf einen zu, um in nächster Sekunde zerstört zu werden und auf dem Schutthaufen der Vergangenheit zu landen. Immer wieder zeigt sich ein Engel, der seinen Rücken der Zukunft zuwendet und immerfort vom Lauf der Geschichte weiter in die Gegenwart getrieben wird.
Den unaufhörlichen und unabwendbaren Lauf der Geschichte inszeniert Aura Rosenberg mit ihrem Werk The Angel of History als Schock, dem sowohl der Engel, als auch die Besucherin und der Besucher ausgesetzt sind. Dieses Werk ist richtungsweisend für die Ausstellung, in deren Zentrum das Nachdenken über die Geschichte steht.
Im Rahmen des 6. Europäischen Monats der Fotografie werden im Martin-Gropius-Bau vom 16. Oktober bis zum 15. Dezember 2014 fotografische und filmische Werke von 16 Künstler/Innen präsentiert. Sieben weitere europäische Städte nehmen am Monat der Fotografie teil. Die jeweiligen Kurator/Innen wählten aus einem Pool von 45 Künstler/Innen Werke für ihre Ausstellungen aus. In Berlin trägt die zentrale Ausstellung den Titel MemoryLab. Die Wiederkehr des Sentimentalen. Fotografie konfrontiert Geschichte.

Im Gropius-Bau beschäftigen sich die Künstler/Innen mit historischen Themen. Wobei das „Emotionale“ als spezifisch künstlerische Ausdrucksform verstanden wird, die zur Reflexion über Geschichte, Erinnern und Vergessen anregen soll. Diese Form der Vermittlung bietet zum einen eine Möglichkeit der Identifikation, zum anderen sollen die  Fotografien emotionale Reaktionen bei den Besucher/Innen hervorrufen, indem sie historische Ereignisse dekonstruieren, so der Kurator des MemoryLab Frank Wagner.
Dabei werden nicht, wie so oft bei historischen Themen, fotojournalistische Arbeiten ausgestellt, sondern künstlerische, inszenierte Werke. Dieses Konzept ist insbesondere für die Public History  interessant, die immer wieder nach neuen Methoden sucht, Geschichte einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Vermag die Unmittelbarkeit von Fotografie doch, den Betrachtenden direkt anzusprechen, zur Auseinandersetzung zu zwingen und gleichzeitig Zusammenhänge von Vergangenheit und Gegenwart aufzuzeigen.

Trotz dieses interessanten Ansatzes und hervorragenden Kunstwerken gelingt es hier jedoch kaum, eine Konfrontation mit historischen Themen durch Fotografie hervorzurufen und damit zur Auseinandersetzung mit der Geschichte zu bewegen. Die Geschichte hinter den Kunstwerken bleibt meist im Dunkeln. Grund dafür ist die kontextfreie Präsentation der Kunstwerke, die stattdessen, scheinbar wahllos, aneinandergereiht werden. Die Besucher/Innen laufen durch eine Ausstellung, die sie in der Tat mit unterschiedlichen emotionalen Geschichten konfrontiert, die allerdings nur angeschnitten und nicht zu Ende erzählt werden.

Ein gutes Beispiel für die fehlende kuratorische Kontextualisierung ist Nan Goldins Werk Scopophilia (griech. für „Lust des Schauens“). Ihr gelingt die Konfrontation von Fotografie und Geschichte. Alleine im Louvre fotografierte Goldin über zwei Monate hinweg Skulpturen und Gemälde, die sie mit privaten Bildern aus über vierzig Jahren zu einer Slideshow kompilierte. Mit Scopophilia begibt sich Goldin nicht nur im größten Museum der Welt auf die Suche nach „Schönheit“ – wie der Bildtext verkündet –, sondern sie thematisiert gleichzeitig Homo- und Intersexualität. Nan Goldin wurde oft Voyeurismus vorgeworfen, zeigen ihre Bilder doch häufig Menschen in ihren intimsten Momenten. Nackte, meist Frauen, gehören auch in Scopophilia zum Hauptmotiv: sich umschlingend in den Armen haltend, duschend, rauchend, lesend, schlafend. Allerdings umarmen sich nicht nur Nan Goldins Freunde nackt, sondern auch die Figuren der seit Jahrhunderten in den „heiligen Hallen“ des Louvre aufbewahrten Gemälde und Skulpturen.

The nap, Paris 2010.
Bildquelle: ©Nan Goldin, Courtesy/mit freundlicher Genehmigung: Matthew Marks Gallery.

Im Ausstellungstext wird Goldins Werk als ästhetisches Handeln bezeichnet. Die Künstlerin widme sich hier, so der Text, dem „begehrlichen Blick und dem erotischen Vergnügen“.
Ist es nicht zu kurz gegriffen, Goldins Auseinandersetzung mit den klassischen Bildern des Louvre und jenen aus ihrem eigenen Umfeld als reine Ästhetik-Studien abzutun? So erzählt sie etwa die Geschichte des schlafenden intersexuellen Hermaphroditos, Sohn von Hermes und Aphrodite, dessen Körper sich mit dem der Nymphe Salmakis verband. Damit spielt sie offenbar auf einen jahrtausendealten Gender-Diskurs an, der das soziale oder kulturelle Geschlecht naturalisiert hat und den binären Geschlechtercode als einzig wahres Einteilungsschema geltend macht, indem er die vielfältigen Körper in nur zwei mögliche Formen subsumiert.

Young hermaphrodite sleeping, Le Louvre 2010
Bilquelle: © Nan Goldin, Courtesy/mit freundlicher Genehmigung: Matthew Marks Gallery.

Es wäre interessant gewesen, mehr über Nan Goldins Haltung zum Thema Fotografie und Geschichte zu erfahren. In einem Künstlergespräch mit dem Kurator am 19. Oktober holte Goldin das nach und bezeichnet ihr Werk hier als „political and about gender“. Sie erzählte darin von ihren Problemen mit zeitgenössischer Fotografie, allen voran der Selfie-Kultur. Ganz nebenbei erklärt sie die Fotografie für tot: „Photography is dead. My medium is no longer available for me. I want to move away from photography as far as possible“. Bedient sie sich vielleicht deshalb der Kunst aus dem Louvre, weil Fotografie durch den Lauf der Geschichte zu einem Massenmedium wurde, das viel zu viele Bilder produziert?

Auch Anna Charlotte Schmids Werk beschäftigt sich in ihrer Serie The Other Side of Venus mit Homosexualität. Sie fotografierte queere junge Männer in Budapest, die sich der Kleidungssprache bedienen, um in einem repressiven Staat untereinander zu kommunizieren. An dieser Stelle misslingt es der Ausstellung, die Fotografie als Medium zu nutzen, um beispielsweise eine Geschichte der Geschlechter zu erzählen und zur kritischen Auseinandersetzung anzuregen. Es bleibt bei der Unmittelbarkeit der Bilder. Eine Verortung des Dargestellten in der Geschichte bleibt aus, die Fotografinnen konfrontieren die Besucher/Innen mit einer emotionalen Geschichte und dem jeweils individuellen Umgang mit Homosexualität. Angesichts der Lage sexueller Minderheiten in Ungarn bleibt es unverständlich, dass dieser Raum nicht genutzt wurde.

 

Anna Charlotte Schmid, Kolos und Gabor aus der Serie The other Side of Venus, 2011
aus der Ausstellung "MemoryLab" im Gropius-Bau, Oktober 2014 (Pressebild).
 

Das gesamte Kapitel „Terror“, in dem auch The Other Side of Venus verortet ist, ist beispielhaft für die fehlende Kontextualisierung der Kunstwerke. Im Ausstellungstext wird die Frage gestellt, wie Terror und Gewalt vermittelt werden können. Beantworten sollen die Frage vier unterschiedliche Werke.
Pablo Zuleta Zahrs Fotografien zeigen spielende Kinder in einem ehemaligen geheimen Untersuchungsgefängnis in Chile. Stephanie Kloss erzählt die Geschichte einer Freizeitanlage auf der Insel La Gomera, die zu einem Ort des Kindermissbrauchs wurde. Nasan Turs Fotoserie Bautzner Straße 112 zeigt in einem gesonderten Raum Fotografien von Zellentüren der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Dresden.

Ziel, so der Ausstellungstext, sei es, den Besucher/Innen ein „körperliches Unbehagen“ zu vermitteln. Eingebunden in eine Geschichte des DDR-Geheimdiensts hätten die Besucher/Innen die Möglichkeit, über die emotionale Konfrontation hinaus den historischen Zusammenhang zu verstehen.
Arwed Messmers grandiose fotografische Auseinandersetzung etwa, die ebenfalls im Rahmen des Monats der Fotografie im Haus am Kleistpark gezeigt wird, wäre hier wesentlich ausdrucksstärker gewesen. Messmer beschäftigt sich in seiner Arbeit Reenactment MfS  ebenfalls mit dem MfS.

Obgleich MemoryLab mit einem interessanten Thema startet, ist das Ergebnis enttäuschend. Das angekündigte Versprechen, das Emotionale in den ausgestellten Fotografien als kommunikatives Werkzeug zu nutzen, um eine Diskussion mit den Besucher/Innen über Geschichte zu führen, wird leider nicht eingelöst. Die Geschichte hinter den Fotografien wird nicht erzählt.