Zeitgeschichte-online im Gespräch mit dem neuen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München Andreas Wirsching über das verlorene Vertrauen im deutschen Wissenschaftsbetrieb, die Sehnsucht nach Kulturgeschichte, das Auseinanderdriften von Wissenschaftsmanagement und Forschung, sowie über mögliche und unmögliche Zukünfte des Instituts.
zeitgeschichte-online: Herr Wirsching, Sie sind seit zwei Monaten Direktor des Instituts für Zeitgeschichte. Vor zwei Wochen erschien auf H-Soz-u-Kult das erste Call-for-Papers Ihrer Amtszeit zum Thema „Enttäuschung“. Auf der Homepage des IfZ ist dieses Projekt mit einem dezidiert kulturgeschichtlichen Ansatz angekündigt. Vielleicht könnten Sie das Projekt etwas näher erläutern?
Das Enttäuschungs-Projekt hat verschiedene Wurzeln. Dazu gehört zunächst die Tatsache, dass ich mich schon länger mit dem Gedanken trage, ein solches Thema zu bearbeiten. Ich habe mich intensiv mit dem Umbruch von 1918/19 beschäftigt. Der Gedanke und das Empfinden von Enttäuschung spielen in der deutschen Arbeiterbewegung eine zentrale Rolle. Ich bin der festen Überzeugung, dass man ohne eine eigene analytische Kategorie von Enttäuschung die Folgen des Umbruchs von 1918/19 nicht verstehen kann. Radikalisierung und Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen sind ohne den Begriff der Enttäuschung nicht zu verstehen.Was zeitgenössisch passiert ist und was dann sehr lange Zeit das Forschungsinteresse bestimmt hat, waren Fragen nach den Fehlern der Akteure. Diese Fragen haben ihre Berechtigung, aber ich halte sie für ein wenig unterkomplex, da sie die subjektive Wahrnehmungsebene zu wenig berücksichtigen. Ich glaube, dass Enttäuschung in modernen sozialen Systemen eine notwendige Begleiterscheinung ist. Wenn sich Erwartungshorizonte pluralisieren, umgekehrt aber politische und soziale Willensbildungsprozesse immer komplexer werden, führt das zwangsläufig zu Dissonanzen zwischen Erwartungshaltung und Willensbildungsprozessen in Politik und Gesellschaft. Insofern ist das ein neuer Ansatz, der sich verbinden lässt mit gegenwärtig aktuellen emotionsgeschichtlichen Fragestellungen. Man denke etwa an die Forschungen zu Vertrauen oder Angst.Es ist ein Versuch, die Geschichte des 20. Jahrhunderts unter dieser Fragestellung zu beobachten. Angefangen haben die Überlegungen mit der Analyse postrevolutionärer Situationen oder Umbruchsituationen. Wenn man genauer darüber nachdenkt, braucht man das keineswegs nur auf politische Zusammenhänge zu beschränken. Man kann das Phänomen der Enttäuschung in vielen Bereichen finden, beispielsweise in sozialen Bewegungen, wie in der zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre. Hier kam es zu Enttäuschungen und damit zu einem Utopieverlust, aber eben auch zu Prozessen von Neuverhandlungen: Positionen also, die sich in diesem dissonanten Kontext von Erwartung und Willensbildungsprozessen neu justieren müssen.Insofern halte ich Enttäuschung für einen wichtigen, in der Geschichte des 20. Jahrhunderts bedeutsamen Begriff, dem ich analytisch und in den Quellen nachgehen will. Ich freue mich, dass dies durch den Start hier nun vielleicht umgesetzt werden kann. Und nicht zuletzt haben wir einen Mitarbeiter hier im Hause, der bereits angefangen hat, über Enttäuschung von den 1960er bis hin zu den 1980er Jahren im deutsch-französischen Vergleich zu forschen.
zeitgeschichte-online: Ist die Wahl einer kulturgeschichtlichen Methodik ein Nebenweg, oder können wir uns das als Signal für eine neue methodische Ausrichtung des IfZ vorstellen?
Die Welt besteht natürlich auch aus Signalen, würde man kulturwissenschaftlich informiert sagen. Für mich selbst ist dies keine Zäsur, wobei mir klar ist, dass es institutionell vielleicht so aussehen kann. Ich selbst war - ohne mich dezidiert als Kulturhistoriker positioniert zu haben – immer sehr an der Kulturgeschichte interessiert, zumal ich glaube, dass sie gleichsam eine tiefe Sehnsucht befriedigt hat oder ihr entgegen gekommen ist. Ich kenne sehr viele Wissenschaftler aus meiner Alterskohorte, die während ihrer Studienzeit der Meinung waren, dass die damals vorherrschende Polarisierung zwischen Politikgeschichte und Ideengeschichte auf der einen, Struktur- und Sozialgeschichte auf der anderen Seite wenig sachadäquat sei, sondern vielmehr aufgeladen wurde durch eine Vielfalt von zunftpolitischen Subtexten.Statt methodischer Polarisierung sollte es vielmehr darum gehen, Integration zu schaffen wie es etwa die damals aktuelle Mentalitätsgeschichte anstrebte, die einen integrativen Ansatz vertrat. Mentalitätsgeschichte ist Teil der Kulturgeschichte, wenn man es weit fasst. Und die neue Kulturgeschichte, die ja – wenn man von Vorläufern wie E. P. Thompson absieht – erst richtig in den 1970er Jahren begann und sich in den 1980er Jahren bestätigte, die kam dem Bedürfnis entgegen, Dinge ganzheitlich zu sehen. Zu dieser Auffassung von Geschichte gehört ein subjektiver Faktor, aber auch der ganze Bereich der symbolischen Kommunikation. Ob das nun die Sprache ist – linguistic turn –, ob es Bilder sind und so fort, ist dann eine zweite Frage. Für mich selbst, existiert hier kein methodischer Bruch oder Zäsurcharakter, wobei mir klar ist, dass es sich für das IfZ um einen neuen Ansatz handelt, der aber nach meinem Eindruck bisher sehr positiv aufgenommen wird.
zeitgeschichte-online: Das IfZ hat sich, wenn auch verhalten, an gesellschaftspolitischen Debatten beteiligt. Sie selbst haben vor ein paar Wochen einen Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht zum Thema Islam in Deutschland….
In Europa.
zeitgeschichte-online: Oder in Europa. Westeuropa.
Ja. Westeuropa muss man sagen. Es geht um die sogenannte Neue Islamische Präsenz in Westeuropa. Es geht nicht um Balkanfragen, sondern um Westeuropa.
zeitgeschichte-online: Zeichnet sich auch hier eine neue Tendenz ab? Wird sich das IfZ in Zukunft aktiv an gesellschaftspolitischen Debatten beteiligen? Oder bleibt es bei der gewohnten Zurückhaltung?
Ja, das ist eine gute Frage, die man nicht endgültig beantworten kann. Dieser Artikel ist daraus entstanden, dass ich an der Endredaktion eines Manuskripts über die Geschichte Europas seit 1989 sitze. Darin spielen Fragen sowohl der Migration als auch der kulturellen Identität eine ganz zentrale Rolle. Schließlich hat sich in diesem Bereich innerhalb der letzten 25 Jahre extrem viel verändert. Als Religion ist der Islam bis in die 1980er Jahre gar nicht sonderlich thematisiert worden. Es ging vor allem um Probleme der Migration, aber die religiöse Komponente wurde nicht dezidiert thematisiert. Das hat sich seitdem sehr deutlich verändert und natürlich auf Grund vieler Einflüsse auch verschärft. Insofern war der Artikel eine persönliche Stellungnahme. Für ein Forschungsinstitut zur Zeitgeschichte wäre ich im Ton etwas zurückhaltender gewesen. Was die Wortmeldungen zu aktuellen tagespolitischen Fragen oder sagen wir zu feuilletonistisch diskutierten tagespolitischen Fragen betrifft, sollten wir natürlich nur Wortmeldungen bringen, die auf halbwegs gesicherten Forschungsergebnissen basieren. Was diesen SZ-Artikel zum Beispiel betrifft: Es ist ein Meinungsartikel, das ist ganz klar. Der Artikel beruht zwar auf einer vertieften Beschäftigung mit der Materie, erhebt jedoch keinen Anspruch auf ein quellengestütztes objektives Ergebnis. Da wäre ich schon zurückhaltender, was aber nicht ausschließt, dass der Zeithistoriker oder die Zeithistorikerin oder eben auch ein Forschungsinstitut in gegenwärtigen politischen Debatten oder kulturellen Debatten ihre Stimme erheben sollten. Das könnte man sogar häufiger tun, als es in der Regel passiert, wenngleich dies nicht zu den Kernaufgaben eines historischen Forschungsinstituts gehören dürfte. Als individuelle Person würde ich dagegen schon sagen, dass Zeithistoriker das tun sollten. Es fällt auf, wenn man sich aktuelle politische Debatten anschaut, ob das den Ethikrat, die PID (Präimplantationsdiagnostik, zol), oder Umweltfragen, den Atomausstieg usw. betrifft, dass Historiker wenig daran beteiligt sind - eigentlich fast gar nicht.
zeitgeschichte-online: In Deutschland!
In Deutschland.An den Diskussionen sind die normalen gesellschaftlichen Gruppen beteiligt, Parteiproporz usw. Aber das, was wir mittlerweile historisches Erfahrungswissen nennen können, wird relativ wenig abgerufen. Das halte ich für falsch. Ich glaube zwar nicht, dass man direkt aus der Geschichte lernen kann und wir uns anwendungsbezogene Konzepte für alle möglichen Situationen deduzieren können, das gelingt natürlich nicht. Aber in einen Diskurs über Fragen, wie die eben erwähnten, historisches Wissen einzuspeisen, das halte ich für wichtig, und das ist der Hintergrund für den Islam-Artikel, von dem Sie sprechen. Denn die Geschichte zeigt ja, dass es solche kulturellen Wandlungsprozesse, wie ich sie hervorhebe, gibt und dass auch Migration nichts Neues ist. Es wäre daher falsch, dichotomische kulturelle Gegensätze aufzubauen, sondern man sollte die Chance, die das westliche System im Sinne der individuellen Freiheit bietet, auch in der Begegnung mit dem Islam nutzen. In diesem Zusammenhang bin ich in der Tat der Meinung, dass Historiker, zumal Zeithistoriker, sich stärker einmischen sollten.
zeitgeschichte-online: Ein wenig knüpft die nächste Frage daran an. Im November 2010 haben Sie sich auf einer Tagung zum Stand der Forschung der deutschen Zeitgeschichte und den Forschungsdesiderata geäußert und erklärt, dass die deutsche Zeitgeschichtsforschung an einem „normativen Überschuss“ leide. Vielleicht können Sie das ein wenig erläutern? Was meinten Sie damit?
Meines Erachtens neigen die deutsche Geistesgeschichte und damit auch die Wissenschaftsgeschichte in höherem Maße dazu, als dies in anderen Wissenschaftskulturen der Fall ist, Kopfgeburten zu produzieren. Die deutsche Tradition neigt zu einer sehr normativen Präsentation ihrer Forschungen, nicht selten bedingt durch außerwissenschaftliche Prioritäten. Das ist nicht zuletzt in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts erkennbar. Diese sehr stark auf Fortschritt – Fortschritt im Sinne der nationalen Entwicklung – hin orientierte Tradition produzierte einen normativen Überschuss, der dann in der politischen Kultur massiv eingefordert wurde und diese politische Kultur maßgeblich prägte. Zwar gibt es das in anderen Ländern auch, wenn man etwa an die Whig Interpretation of History in England denkt oder an die Revolutionsgeschichte und ihre Rückwirkungen in Frankreich, ganz abgesehen von amerikanischen Sendungsmodellen. Ich glaube dennoch, dass diese Normativität, häufig verbunden mit Theorielastigkeit, in der deutschen Tradition relativ stark verankert ist. Und damit geht die Gefahr einher, dass in den Geisteswissenschaften der ‚Griff nach der Deutungsmacht‘, wie das Heinrich A. Winkler formuliert hat, besonders stark ausgeprägt ist: der ‚Griff nach der Deutungsmacht‘ insofern, als historisches Denken, historische Ergebnisse eben normative Geltung erhalten sollen. Da sehe ich gewisse Kontinuitäten – bis heute. Ein Großteil dieser geschichtspolitischen Debatten, die wir beobachten, steht in diesem Zusammenhang. Diese Debatten bekommen durch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine – auch im internationalen Vergleich – neue Dimension und werden noch einmal zusätzlich normativ aufgeladen. Aber auch wenn man an die marxistische Geschichtswissenschaft denkt oder an nationalistische Setzungen, gibt es in der deutschen Tradition eine besondere Affinität zur Theorielastigkeit und damit verbunden zum Anspruch auf normativ verstandene Deutung.
zeitgeschichte-online: Was wäre die Alternative? Der Rückzug ins Archiv und der blinde Glaube an die Empirie...?
Ich würde historische Forschung gerne verstanden wissen als den Versuch, einen analytischen Befund herauszuarbeiten, ohne daraus Konzepte ableiten zu müssen. Ich glaube, dass trotz der Bedeutung und der Wichtigkeit von konstruktivistischen Ansätzen ein regulatives Postulat der Objektivität notwendig ist, nicht zuletzt, um intersubjektive Kommunikation bewahren und herstellen zu können. Das wäre auch nach wie vor mein ideales Gegenmodell zu einem normativen Überschuss in verschiedenen historischen Traditionen. Wie das in der Praxis aussieht, ist eine andere Frage. Schließlich spielen hier viele außerwissenschaftliche Faktoren eine Rolle. Dieses Ideal eines regulativen Postulats der intersubjektiven Vermittelbarkeit hieße dann allerdings auch: Zuhören, was andere sagen, oder lesen, was andere schreiben, und das, wenn möglich, rückkoppeln an die eigene Arbeit. Das finde ich sehr wichtig. Wenn das die Historiker und Zeithistoriker nicht immer wieder versuchen, dann sägen sie an dem Ast, auf dem sie sitzen. In dem Augenblick, wo eine Wissenschaft nicht mehr in sich kommunizierbar ist, verliert sie an gesellschaftlicher Relevanz.
zeitgeschichte-online: Sieht man sich auf der Homepage des IfZ die Forschungsprojekte der Abteilung Berlin an, wird eine starke Konzentration auf die DDR-Geschichte deutlich - das war ja auch beabsichtigt. Es scheint, als ob sich die Laufzeit vieler der dort bearbeiteten Projekte ihrem Ende nähert. Was sind die Pläne für die Abteilung Berlin?
Es ist richtig, dass etliche Projekte ausgelaufen sind, wie etwa das Projekt zur Geschichte der Außenpolitik der DDR von Hermann Wentker, die Grotewohl-Biographie von Dierk Hoffmann und anderes mehr. Das Profil der Abteilung, das sich auf die Erforschung der DDR-Geschichte richtet, wird sich nicht grundsätzlich ändern, und wir sind schon dabei neue Themen zu entwickeln. Im Moment ist es noch zu früh, um ins Detail zu gehen. Allerdings nehmen wir die Gefahr der Verinselung der DDR-Geschichte sehr ernst. Wir sollten versuchen, ihr durch Projekte entgegenzuwirken, die sich zwar auf die DDR beziehen, sie aber auch in ihre deutsch-deutschen, internationalen und europäischen Bezüge stellen. Ich stelle mir vor, dass durch kulturhistorische Fragestellungen wie etwa zu Enttäuschungsprozessen Synergiepotenziale zum Beispiel auch durch diachron vergleichende Perspektiven mobilisiert werden können. Das Thema Enttäuschung ist für die Zeit nach 1989 ein großes Thema. In jedem Fall ergibt sich zwanzig Jahre nach dem Beginn der neueren DDR-Forschung eine Situation, in der man darüber nachdenken muss, wie man DDR-Geschichte eigentlich erforschen sollte. Ich bin nicht der Auffassung, das halte ich sogar für eine ausgesprochen problematische Tendenz, im Sinne einer deutschen Nationalgeschichte mit dem Fluchtpunkt 1989/90 die DDR zur Fußnote zu degradieren. Das ist, wenn Sie sich die neuen Gesamtdarstellungen anschauen, ein durchgängiges Phänomen. Das halte ich für sehr problematisch. Nebenbei gesagt, ich habe bei der DVA den Schlussband über die Geschichte der alten Bundesrepublik geschrieben. Die DVA wollte eigentlich damals zwei, drei Bände über die DDR-Geschichte in Auftrag geben. Das ist gescheitert aus Gründen, die ich nicht genau kenne. Aber es ist kein Zufall, dass man dieses Projekt nicht mehr weiter verfolgt hat. Es wäre vielleicht - wenn man davon ausgeht, dass diese sechs Bände alte Bundesrepublik-Geschichte bereits für sich stehen und ein wichtiges Gesamtdokument darstellen - ein interessantes Signal gewesen, zwei oder drei DDR-Bände gleichen Umfangs in derselben Aufmachung, also reich bebildert, zu produzieren. Das ist nicht so. Das ist sicherlich kein Zufall. Also, was tun? Ich würde sagen, Spezialforschung zur Geschichte der DDR ist nach wie vor wichtig und legitim. Das wird auch nicht aufhören. Vierzig Jahre DDR-Geschichte und Diktaturerfahrung werden so schnell nicht ausgeforscht sein. Konzeptionell jedoch und was die größeren Interpretationslinien betrifft, ist man zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR in einer Phase der Neuorientierung. Mein Ziel wäre es, die internationale Dimension der DDR-Geschichte mit gesellschaftlich, kulturell und innenpolitisch geprägten Fragestellungen zusammenzubringen. Im Ergebnis sollte dann auch ein neuer Blick auf den Umbruch von 1989/90 und den Weg zu einem neuen Europa stehen. Das heißt dann auch, dass man die Zeitgeschichte seit 1990 zunehmend bearbeiten kann.
zeitgeschichte-online: Hauptforschungsgebiet des Instituts ist die Geschichte des Nationalsozialismus. Was sind Ihrer Meinung nach neue Fragen in diesem Feld?
Es ist nicht zutreffend, dass die NS-Geschichte das Hauptforschungsgebiet des IfZ ist. Sie ist nach wie vor ein wichtiges Forschungsgebiet und von entscheidender Bedeutung für die Arbeit des Instituts. Sie ist ein wichtiges Rückgrat, steht jedoch nicht mehr im alleinigen Zentrum der Forschungsarbeit. Dazu gibt es inzwischen viel zu viele Mitarbeiter, die ganz andere Sachen machen.Zum Stichwort: neue NS-Forschung. Das ist ein weites und auch schwieriges Feld. Es ist schwierig, neue NS-Projekte zu entwickeln, die nicht alten Wein in neue Schläuche gießen. Wir sind dabei, neue Ideen zu entwickeln, aber ich muss um Verständnis bitten dafür, dass ich noch nicht ins Detail gehen kann. Es gibt auf der einen Seite, gruppiert um die Arbeit an der großen Dokumentation zur Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, die Idee, weiter nach Ostmitteleuropa zu gehen, weil da einfach der Neuigkeitswert der Quellen enorm ist. Das ist schwierig, weil es spezifische Sprachkenntnisse braucht und der Forschungsaufwand groß ist. Am Institut wird gerade eine Arbeit vorbereitet über die Wirtschaftsverwaltung des Warschauer Ghettos. Da gibt es spannende und bislang wenig erforschte Fragen, die im Feld der Holocaustforschung wichtig sind und die weiterbearbeitet werden müssen. Das ist eine Richtung: der Versuch die Besatzungsgeschichte, die Geschichte des Vernichtungskriegs in Osteuropa wie auch die Holocaustgeschichte als das wesentliche Feld zu betrachten und neue Quellen und damit auch neue Themen zu entdecken. Das ist ein Prozess, der im Gange ist.
Eine andere Strategie ist die Betrachtung der deutschen Gesellschaft und der Herrschaftsstrukturen des NS-Regimes - und das ist ebenfalls ein sehr weites Thema. Dazu gehören neue Fragen, wie sie etwa kürzlich von Michael Wildt und Frank Bajohr unter dem Stichwort "Volksgemeinschaft" gestellt worden sind. Das finde ich sehr interessant und wichtig, selbst wenn der Komplex ‚Herrschaft und Gesellschaft‘ seit den 1970er Jahren ein intensiv erforschtes Thema ist.Ich selbst interessiere mich besonders für Probleme der Verwaltungsgeschichte. Bei der Frage danach, wie die Mehrheit der Deutschen, die nicht zu den Opfergruppen gehörte, dem Regime begegnete, halte ich nach wie vor den Bereich der Bürokratie für unterschätzt. Das ist kein völlig neues Thema. Ich habe selbst zum Thema kommunale Verwaltung geforscht beziehungsweise in Projekten gearbeitet, die sehr ertragreich waren aus meiner Sicht. Wenn man davon ausgeht, dass 70-80% der Verwaltung auf der kommunalen Ebene stattfindet, dem Bürger somit direkt begegnet, dann ist es erstaunlich, wie lange dieses Thema mehr oder minder unbehandelt geblieben ist, wenn man von frühen Studien wie Horst Matzerath absieht. (Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970; Anm. zol) Inzwischen handelt es sich um ein blühendes Forschungsfeld, in dem sich viele versucht haben. Wolf Gruner etwa war ein wichtiger Autor, der in den 1990er Jahren über Judenverfolgung und Kommunalverwaltung geforscht hat. Das ist nur ein Beispiel, wie man neue Themen generieren kann, die dann sehr ertragreich werden, bis hin zur Geschichte der Ministerien. Es sind ja nun nicht nur Forschungen über das Auswärtige Amt initiiert worden, sondern auch das Finanzministerium wird erforscht, und über das Wirtschaftsministerium wird debattiert. Das sind große Themen, die noch nicht schlüssig bearbeitet sind. Insofern hängen Herrschaft, Verwaltung, Gesellschaft und die kulturellen, die kulturgeschichtlichen Aspekte, die sich dazwischen gruppieren, zusammen und bieten nach wie vor ein großes Forschungsfeld. Mein Ziel wäre, dass das IfZ, nachdem das große und überaus erfolgreiche Wehrmachtsprojekt abgeschlossen ist, einen neuen Impuls setzen könnte.
zeitgeschichte-online: Wenn Sie phantasieren könnten: Es gibt keine Evaluationen, es gibt kein Geldproblem, es gibt keine Auflagen zur Art der Beschäftigungsstruktur der Wissenschaftler/innen. Wie würden Sie sich dieses Institut vorstellen? Wie würde das IfZ aussehen in fünf Jahren, ohne Auflagen ohne Zwänge, ohne Geldprobleme?
Die Zwänge sind natürlich schon in der Ressourcenbegrenzung gegeben. Das ist genau der Punkt. Es geht um Stellen, es geht um befristete und unbefristete Stellen, um damit verbundene Motivationen und Zwänge für die Mitarbeiter. Jedes Drittmittelprojekt hat a priori eine Fülle von Zwängen, die man gerne mal vergessen möchte. Das ist völlig richtig. Um es grundsätzlich zu formulieren: Ich glaube, dass unser Wissenschaftssystem an einem erheblichen Verlust an Vertrauen leidet, ein Prozess, der auf fast jeder politisch-gesellschaftlichen Ebene zu beobachten ist. Das Wissenschaftssystem ist da ja nur ein Segment eines größeren gesamtgesellschaftlichen Prozesses. Damit verbunden ist eine Tendenz zur bürokratischen Reglementierung und letztlich zur Kontrolle. Und darunter leiden wir ja alle, denke ich. Da wüsste ich keinen, der das nicht so empfände. Der eine mehr, der andere weniger. Wie gesagt, das ist kein Spezifikum der Wissenschaftsorganisation, denken Sie an das Gesundheitswesen, an das Bankenwesen, wo man allerdings sehr stark an den falschen Stellen kontrolliert und an anderer Stelle die Kontrolle abgebaut hat. Aber das ist ein anderes Thema.Es wäre also wünschenswert, mehr Freiheit zu haben. Das hieße, dass man die zur Verfügung stehenden Ressourcen, ohne sachfremde Faktoren beachten zu müssen, einsetzen könnte. Dann würde ich in der Tat die Zahl derer versuchen zu erhöhen, die ausschließlich reine Forschungsprojekte machen, aber eben nicht auf Drittmittelbasis, sondern als Individuen. Ich würde Forscher/innen um die drei Schwerpunkte gruppieren, die ich für die Institutsarbeit setzen würde. Dazu gehören die Geschichte des Nationalsozialismus, ihre Vorgeschichte und die Zwischenkriegszeit; dazu gehören vergleichende diachrone Untersuchungen, die Erforschung von Kontinuitätslinien unter kulturhistorischen Fragestellungen und schließlich der Weg zu einem neuen Europa. Diese drei Schwerpunkte würde ich stärker ausbauen, und zwar durch individuelle Förderung. Ich bin nicht der Meinung, dass die in den letzten beiden Jahrzehnten erkennbare Tendenz zur überwiegend reinen Projektförderung richtig ist. Ich glaube, wichtig ist das Individuum, seine Kompetenz, seine Motivation. Zumindest in den Geisteswissenschaften muss man individuell fördern und hierfür ist die Projektförderung nicht unbedingt das beste Instrument. Das weiß jeder. Mittel, Projekt und Person konvergent zu machen zu einem bestimmten Zeitpunkt, das ist die Quadratur des Kreises. Irgendwas klappt da nicht oder verschiebt sich usw. Diese Reibungsverluste könnte man vermeiden, wenn man die Normaletats – auch bei den Universitäten – erhöhen würde. Dann hätte man vor Ort mehr Möglichkeiten, und dies in eigener Verantwortung, Stichwort: Vertrauen. Dass es natürlich Kontrolle geben muss, ist selbstverständlich, und diese Kontrollinstanzen gibt es ja. Aber man könnte, mit mehr Eigenverantwortung viel mehr individuelle Akzente setzen und würde durch individuelle Arbeit, die nicht solchen Systemzwängen gehorchen muss, wahrscheinlich sogar effizienter arbeiten. Und das würde ich hier im Institut in das geschilderte Profil versuchen einzubringen.
zeitgeschichte-online: Und Sie glauben nicht daran, so habe ich das verstanden, dass Druck von außen und zeitliche Begrenzung mehr Effizienz bringen und ein Wachstum an Kreativität, Zwangskreativität sozusagen?
Zumindest meine ich, genügend Erfahrung zu haben, um auch die Kehrseite zu kennen. Natürlich haben Sie recht: Wenn man ein Institut oder irgendeine Einrichtung betrachtet, das kann auch eine Behörde sein, die nur mit entfristeten Stelleninhabern besetzt ist, dann ist das nicht unbedingt der effizienteste Weg. Ich glaube, es geht um die Mischung. Das Problem ist die Definitionshoheit darüber, welche Mischung für eine Institution die beste ist. Doch wurde diese zunehmend den Institutionen genommen. Dafür gibt es viele Beispiele. Ich würde mir wünschen, dass die Definitionshoheit dafür, was das Beste ist für die Institution, stärker bei den verantwortlichen Wissenschaftlern liegt, als bei letztlich anonymen Institutionen, die evaluieren oder auch fördern. Die Gewichtungen haben sich verschoben in eine Richtung, die man offenbar nicht ändern kann, mit der man sich aber auseinandersetzen muss, da sie nicht den optimalen Weg darstellt.
zeitgeschichte-online: In der „Zeit“ erklärten Sie in einem Ihrer Einstandsinterviews, ich glaube, Alexander Cammann hat Sie befragt, dass Sie eigentlich sehr glücklich sind, am Schreibtisch allein. Das ist, denke ich, vorbei auf lange Sicht. Wie stellen Sie sich Ihre (Forschungs-)Arbeit in Zukunft vor?
Auch an der Universität ist es zunehmend vorbei mit der Forschungsarbeit. Das war für mich persönlich eine wichtige Erfahrung. Ich glaube, dass man gerade im Bereich der Neuesten Geschichte den Sogkräften öffentlicher Nachfragen nicht entkommt: ein Lehrstuhl ist immer auch ein öffentliches Amt. Hinzu kommen Belastungen durch die neuen Studiengänge, durch die Bürokratisierung innerhalb der Universität usw. Die reine Schreibtischarbeit ist an der Universität ganz schwer zu verteidigen. Das hat zur Folge, dass die vielen Beurlaubungsmodelle Konjunktur haben. Ob das wiederum den Universitäten so gut tut, ist eine andere Frage. Insofern gibt es für mich jetzt keinen völligen Paradigmenwechsel vom Elfenbeinturm zum Wissenschaftsmanagement. Trotzdem haben Sie natürlich recht. Die selbstbestimmte Zeit wird hier deutlich weniger, noch deutlich weniger, als es an der Universität der Fall war. Das war mir vorher klar, und trotzdem hoffe ich, dass diese Zeit nun nicht völlig verschwindet.Ich glaube, dass es für die Leitung eines Instituts wie diesem wichtig ist, sich auch selbst nahe an der Forschung zu bewegen. Sicher werde ich in der nächsten Zeit keine großen Grundlagenstudien schreiben, aber ich hoffe, doch immer wieder schreiben und lesen zu können, um am Ball zu bleiben. Denn sonst wird diese Arbeit schnell zum reinen Management oder sogar zu einer Managementtätigkeit, die sich vom Gegenstand, mit dem sie es eigentlich zu tun hat, zu entfernen droht. Das ist eine große Gefahr, die mit funktionalen Prozessen zu tun hat, mit Zeitbudgets, mit der zunehmenden Komplexität unserer Wissenschaftswelt. Trotzdem hoffe ich persönlich, da etwas gegensteuern zu können, zumindest nicht zu weit dem Auseinanderdriften zwischen Administration und Forschung zu erliegen. Das bedeutet, man braucht ein Minimum, um sich wirklich auch an den Schreibtisch setzen zu können – sei es dieser hier, sei es der häusliche.
zeitgeschichte-online: Wir werden es beobachten.Danke für das Gespräch, Herr Wirsching.
Das Gespräch führte Annette Schuhmann am 25. Mai 2011 im Institut für Zeitgeschichte in München.