von Charlotte Wittenius

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13. September 2018

 

Die Fotoausstellung „BİZİM BERLİN 89/90“ läuft noch diese Woche im Märkischen Museum in Berlin. Am 16. September um 12 Uhr findet eine Finissage in Kooperation mit der Bürgerstiftung Neukölln statt.

 

Die Geschichtswissenschaft sucht stets nach neuen Perspektiven auf ihre Forschungsgegenstände. Perspektiven, die neue Deutungen eröffnen, Schwerpunkte verschieben und etablierte Erzählgewohnheiten aufbrechen. Einen solchen Perspektivwechsel auf die deutsch-deutsche Wiedervereinigung – insbesondere in Berlin kurz nach dem Mauerfall 1989 – versucht seit April 2018 das Märkische Museum mit der Ausstellung „BİZİM BERLİN 89/90“. Der Titel kommt einer Ansage gleich: „Unser Berlin 89/90“ beschäftigt sich mit der türkischen Community Berlins im Frühjahr 1990 und der Frage nach ihrer Sicht auf die Wiedervereinigung der Stadt. Der Einführungstext im ersten Ausstellungsraum stellt das ehrgeizige Projekt und seinen Ausgangspunkt vor: Betrachtungen und Deutungen des Wiedervereinigungsprozesses seien in der Geschichtswissenschaft sowie in gesellschaftlichen Erzählungen von Anfang an durch das Aufeinandertreffen zweier deutscher Bevölkerungen geprägt worden, so die Einschätzung des KuratorInnenteams. Doch auch für die türkische Bevölkerung Westdeutschlands sei die Wendezeit von Veränderungen, Chancen und Bedrohungen geprägt worden. Kurz: Die deutsch-türkische Perspektive auf Mauerfall und Wiedervereinigung stelle eine wichtige Erweiterung des Diskurses dar. Eine Erweiterung deshalb, weil sie bisher noch nicht erforscht wurde. Für die Berliner Stadtgeschichte hat das Team des Märkischen Museums einen interessanten Quellenbestand aufgetan, der diese historiographische Lücke füllen könnte. Die Arbeit zur Kontextualisierung der Quellen und der Aufruf zur Mithilfe werden dabei gleichwertig mit den Quellen ausgestellt.

 

Fotografien als Hinweise auf ungeschriebene Geschichte

1989/90 bereiste der türkische Fotograf und Journalist Ergun Çağatay die Bundesrepublik Deutschland, um türkische EinwanderInnen der zweiten Generation aufzusuchen und ihre Lebenswelten fotografisch zu erkunden. Im Auftrag der französischen Fotoagentur Gamma sollte daraus eine Reportage entstehen, die jedoch nie zustande kam, da Çağatay seine Reise aus finanziellen Gründen vorzeitig abbrechen musste. Trotzdem brachte das Projekt eine Reihe von Fotografien aus den Städten Berlin, Bonn, Duisburg, Hamburg, Köln, Werl und Wuppertal hervor. Eine Auswahl davon wurde 2016 erstmals in der türkischen Botschaft in Berlin ausgestellt, wo das Team des Märkischen Museums auf sie aufmerksam wurde und beschloss, sich mit den Berliner Motiven näher auseinanderzusetzen. Es begann ein Rechercheprozess zu den auf den Fotografien dargestellten Orten und Menschen, dessen Ergebnisse in der Ausstellung unter dem Begriff der „Spurensuche“ mit ausgestellt werden.

Die 35 Aufnahmen der aktuellen Ausstellung zeigen Berlin im April 1990. Çağatay fotografierte teils inszenierte Portraitaufnahmen von Menschen in ihrem Alltagsleben, teils Straßenszenen oder Orte; alle spiegeln die Lebenswelten türkischer EinwanderInnen und ihrer Familien dar: eine Gruppe Frauen auf dem Weg zum Gebet in eine Hinterhofmoschee, ein Arbeiter in den Berliner Stahlwerken, Mitglieder der berüchtigten Jugend-Gang „36Boys“ am Kottbusser Tor, eine Familie vor ihrem Obst- und Gemüseladen in der Bergmannstraße.

 

Lebensmittelgeschäft in der Bergmannstraße, April 1990
Beschreibung: 

Foto: Ergun Çağatay. Lebensmittelgeschäft in der Bergmannstraße, April 1990 © Ergun Çağatay.

 

Ein interessantes Motiv ist beispielsweise der Türkische Basar, der zwischen 1980 und 1993 im damals stillgelegten oberirdischen U-Bahnhof Bülowstraße nach Vorbild des Großen Basars in Istanbul existierte. Besonders für MuseumsbesucherInnen, die mit der U2 aus Richtung Ruhleben anreisen, bietet dieses Motiv einen netten Wiedererkennungseffekt. Die Gleise hatte man dafür bedeckt, und an beiden Seiten fanden 40 Läden Platz. Manche von ihnen waren Ableger von Istanbuler Basarständen. Alle boten ihrer überwiegend türkischen Kundschaft Waren, die in Deutschland schwer zu bekommen waren. So etwa Videokassetten mit türkischen Filmen. Neben Einkäufen machten Einrichtungen wie das Musiklokal Gazino den Basar auch zu einem beliebten Freizeitort.[1]

 

Türkischer Basar, U-Bahnhof Bülowstraße, April 1990
Beschreibung: 

Foto: Ergun Çağatay. Türkischer Basar, U-Bahnhof Bülowstraße, April 1990 © Ergun Çağatay.

 

Döner-Verkauf in der Cafeteria im Hauptgebäude der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, April 1990
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Foto: Ergun Çağatay. Döner-Verkauf in der Cafeteria im Hauptgebäude der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, April 1990 © Ergun Çağatay.

 

„Spurensuche“ zu den Motiven der Fotografien

Die Ausstellung ist als Rundgang aufgebaut und startet mit einer Vorstellung des Fotografen und seines Projekts. Çağatays Fotografien bilden den Rahmen der Ausstellung und werden direkt zu Beginn des Rundgangs im Großformat präsentiert. Die Fotostrecke kann als eigener, in sich geschlossener Rundgang gelten, denn viele der Fotos werden auf einem Aufsteller in der Mitte des Raumes präsentiert, den die BesucherInnen ganz umschreiten, um schließlich wieder am Eingang anzukommen. Vom ersten Ausstellungsraum aus gelangt man in vier weitere Räume, die zeigen, was das KuratorInnenteam in seiner „Spurensuche“ zur Kontextualisierung der Fotografien herausgefunden hat. Über diverse Objekte, Sound- und Videoinstallationen werden hier ZeitzeugInneninterviews, Musik türkischer KünstlerInnen zur Wendezeit und die Hintergrundgeschichten einiger türkischer Geschäfte präsentiert.

Im letzten Raum des Rundgangs findet das partizipative Konzept der ‚wachsenden‘ Ausstellung Platz: In eigenen Vitrinen und an einer großen „Mosaikwand“, einer Pinnwand, für deren Gestaltung Karten und Stifte bereitgestellt werden, können BesucherInnen selbst etwas zur Ausstellung beisteuern. Sei es eine eigene Geschichte, Informationen zum Ausstellungsinhalt oder Kommentare jeglicher Art.

In den Begleitordnern, die in den Ausstellungsräumen ausliegen, sprechen die KuratorInnen über Schwierigkeiten dabei, Informationen über Çağatays Fotografien und über die Geschichte der türkischen Community Berlins herauszufinden. Die Begleittexte enden daher mit offenen Fragen, die sich an die BesucherInnen richten und den Dialog eröffnen wollen. Das KuratorInnenteam fragt hier zum Beispiel nach Veränderungen im Lebensgefühl in Bezirken wie Kreuzberg seit der ‚Wende‘ oder in den Treffpunkten deutsch-türkischer Communities. Grundtenor in den Begleittexten ist die Annahme, dass die Maueröffnung für die türkische Community einerseits Hoffnungen auf offene Grenzen und eine tolerante, pluralistische Gesellschaft eröffnete und außerdem für türkische Unternehmen Expansionsmöglichkeiten im Osten bereithielt. Gleichzeitig seien aber durch die städtischen Entwicklungen der 1990er Jahre vor allem in Kreuzberg viele türkische Lebenswelten verloren gegangen.

 

Leben an der Mauer in Kreuzberg am Leuschnerdamm, hier bemalt von dem Graffiti-Künstler Indiano (Jürgen Große), April 1990
Beschreibung: 

Foto: Ergun Çağatay. Leben an der Mauer in Kreuzberg am Leuschnerdamm, hier bemalt von dem Graffiti-Künstler Indiano (Jürgen Große), April 1990 © Ergun Çağatay.

 

Narrative zur türkischen Community in Berlin

Die Hintergrundtexte in den Begleitordnern zur Ausstellung zeichnen insgesamt ein ‚rundes‘ Bild der türkischen Lebenswelten in Berlin über die 1970er bis 1990er Jahre: Türkische ‚GastarbeiterInnen‘ lebten in den frühen Jahren des Gastarbeiterabkommens in Gemeinschaftsunterkünften. Diejenigen unter ihnen, die ihre Familien nach West-Berlin holen konnten, ließen sich in den Wohngegenden nieder, in denen die Mieten günstig waren. In der Regel waren dies Gegenden in Kreuzberg und dem Wedding in unmittelbarer Nähe der Mauer. Hier fristeten unsanierte Altbauten ihr Dasein, die weder Bäder noch Zentralheizungen zu bieten hatten, aber bezahlbar waren. Die Nähe zur Mauer schien dabei symbolisch zur Lage der türkischen EinwanderInnen: Sie hatten eine geschlossene Grenze stets im Winkel ihres Blickfelds und wohnten dort, wo die meisten Deutschen nicht leben wollten. Neben den zweifelhaften Lebensbedingungen in den Kiezen ergaben sich im Laufe der frühen 1970er Jahre Probleme im Lebensentwurf vieler Gastarbeiterfamilien und der Aufstellung von Bildungsangeboten und Perspektiven für die zweite Generation, die Kinder der Arbeitenden breit: Schulen waren überfordert mit der Aufgabe, fremdsprachige Kinder und Jugendliche zu unterrichten und zu fördern, Kindertagesstätten füllten sich und hatten bald keine Plätze mehr zu vergeben. Da der klassische ‚GastarbeiterInnen‘-Lebensentwurf bedeutete, unter Entbehrungen zu arbeiten und schließlich finanziell abgesichert im Herkunftsland ein neues Leben zu beginnen, war die Zukunft der Kinder ohnehin nicht in Deutschland geplant. Kinder und Jugendliche dieser Kieze blieben oft auf sich gestellt und schufen sich in Jugendzentren oder auf der Straßen Bezugsgruppen, die zu einer Art Ersatzfamilie wurden und unter anderem als Rückhalt gegen ausländerfeindliche Angriffe von Neonazis funktionierten. Aus diesen Gangs heraus entwickelten sich ab den 1980er Jahren außerdem Bands und MusikerInnen, die den aufkommenden Hip Hop zum Selbstausdruck nutzten. Andere migrantische Netzwerke entstanden durch türkische Unternehmen, etwa den im Berliner Stadtbild bekannten Obst- und Gemüseläden, oder gemeinschaftliche Orte wie Moscheen oder Cafés.

Der Fall der Berliner Mauer stellte rein geographisch für die BewohnerInnen der West-Berliner Randbezirke eine Veränderung dar: Plötzlich wohnten sie nicht mehr am Rand einer geteilten Stadt, sondern geradezu im Herzen des neuen, vereinigten Berlins. Damit wurde der Wohnraum dieser Bezirke zur begehrten Ware. Gentrifizierungsprozesse setzten ein und vertrieben viele ehemalige (türkische) AnwohnerInnen. Mit ihnen schwanden Lebenswelten, die sie sich dort geschaffen hatten. Çağatays Fotografien zeigen diese Welten, die schon im Wandel begriffen sind.

Die Begleittexte sind anschaulich und empathisch geschrieben. Informationen, die sich auf die Fotografien anwenden lassen, sind in den Texten erkennbar gemacht und bieten einen soliden Kontext zu einzelnen Motiven. Allerdings beschreiben die Texte hauptsächlich das Leben türkischer EinwanderInnen in West-Berlin vor dem Mauerfall. Daher erklären sie in Bezug auf Çağatays Fotografien auch eher, wie das Dargestellte entstanden ist, und sind Interpretationen der Zeit der Wiedervereinigung und ihrer Veränderungen. Als Ausnahme kann das in der ‚Spurensuche‘ und im Begleittext portraitierte Musikduo gelten, das auf einer Çağatay-Fotografie zu sehen ist. Das Paar wurde für die Ausstellung interviewt und sprach über die Hoffnungen, die der Fall der Berliner Mauer für sie auslöste, sowie über Erfahrungen mit Alltagsrassismus im wiedervereinigten Berlin.

 

Hält die Ausstellung, was sie verspricht?

Mit BİZİM BERLİN 89/90 hat das KuratorInnenteam des Märkischen Museums sich ein schwieriges Projekt vorgenommen. Die Fotografien Çağatays sind ein unerforschter Quellenbestand, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Um eine repräsentative Darstellung der türkischen Community im Berlin des Frühjahres 1990 und der Grundstimmung hinsichtlich der beginnenden urbanen und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen des Wiedervereinigungsprozesses zu zeichnen, müsste die „Spurensuche“ der KuratorInnen daher viel breiter angelegt werden. Das ist ihnen allerdings auch sehr bewusst, was sich an den Bemerkungen hierzu im Begleitordner sowie generell im partizipativen Konzept der Ausstellung zeigt.

Trotzdem verspricht die Ausstellung, eine neue Perspektive auf die deutsch-deutsche Wiedervereinigung darzustellen, und hierin liegt das Problem: Die Ausstellung steht zwischen zwei Ansprüchen. Einerseits soll sie ein neues, unerforschtes Thema eröffnen und die BesucherInnen dazu auffordern, sich an der Entwicklung der Ausstellung zu beteiligen. Andererseits ist sie auch als in sich geschlossene Erzählung angelegt. Beides gelingt daher nur eingeschränkt. Während die Begleittexte mehrfach auf die „Spurensuche“ der KuratorInnen hinweisen, sehen die BesucherInnen davon nur ausgewählte Ergebnisse. Der Rechercheprozess und alle Erkenntnisse, die damit einhergingen, bleiben unsichtbar. Als geschlossene Erzählung funktioniert die Ausstellung daher nicht, denn die Kontextualisierung der Fotografien hat einige Lücken, was teilweise etwas sprunghaft wirkt, und ist thematisch stark auf einzelne Themenbereiche fokussiert. Zuletzt fällt außerdem auf, dass die Eingangsfrage nach der türkischen Perspektive auf den Fall der Berliner Mauer unbeantwortet bleibt. Die Ausstellung bleibt stark in Erzählungen türkischen Lebens im West-Berlin der 1970er und 1980er Jahre verhaftet und deutet nur stellenweise an, wie der Mauerfall auf diese Situationen einwirkte. Bis auf wenige, generell gehaltene Aussagen aus ZeitzeugInneninterviews fehlen auch deutsch-türkische Stimmen zum Thema.

Unstrittig ist, dass BİZİM BERLİN 89/90 ein sehr relevantes Thema aufgreift. Perspektiven gesellschaftlicher Minderheiten werden immer noch nicht selbstverständlich in die Forschung aufgenommen, und es sagt viel über die gesellschaftliche Relevanz der Institution Museum aus, dass hier solche Themen angesprochen werden. Auch das partizipative Konzept der Ausstellung ist ein wichtiger Schritt hin zur Öffnung eines Wissensnetzwerks, das offen für neue Lesarten der Geschichte ist. Dennoch wäre die Ausstellung überzeugender, wäre das KuratorInnenteam transparenter mit seiner „Spurensuche“ umgegangen. Ebenso spannend wie die Ergebnisse der Recherche wäre schließlich der Prozess des Nachforschens selbst. Wo hat das Team gesucht? Wie hat es abgebildete Orte oder Menschen aus den Fotografien wiedergefunden? Was konnten sie nicht herausfinden? So ließen sich auch die thematischen Schwerpunktsetzungen besser erklären, die in der Gestaltung der Ausstellung nicht weiter begründet werden. Außerdem wäre damit die Einladung an die BesucherInnen, selbst nachzuforschen und die Ausstellung zu erweitern, noch etwas bestärkt worden, indem die Methodik der KuratorInnen sichtbar geworden wäre.

Trotz aller Kritik ist ein Besuch der Ausstellung aber definitiv den Ausflug wert, und es bleibt abzuwarten, wie sich das Projekt in Zukunft entwickeln wird.

An dieser Stelle möchten wir außerdem auf den Beitrag von Julia Wolrab auf Visual History hinweisen: BİZİM BERLİN 89/90. Fotografien von Ergun Çağatay im Märkischen Museum Berlin

BİZİM BERLİN 89/90

Märkisches Museum / Am Köllnischen Park 5, 10179 Berlin

Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr / Eintritt: Frei

Die Ausstellung läuft noch bis zum 16. September 2018.

 

 

[1] Erinnerungen an den Basar hält eine ehemalige Besucherin im renk Magazin fest. (Zuletzt aufgerufen am 7.9.2018)