von Annette Weinke

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18. März 2019

Auch heute, knapp drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der DDR und dem Beitritt des kleineren ostdeutschen Staates zur größeren Bundesrepublik hat sich die Zeitgeschichte noch kaum mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich das, was seit 1990 auf dem Boden des nunmehr voll-souveränen Deutschlands entstand, in geschichtswissenschaftlicher Perspektive erfassen, verstehen und einordnen lässt. Für die These, dass es sich bei der nach Osten erweiterten Bundesrepublik nicht bloß um eine Fortsetzung von Altbekanntem, sondern teilweise um etwas Neues handelte, sprachen neben dem radikal gewandelten internationalen Kontext schon aus zeitgenössischer Sicht die besonderen Bedingungen des politischen Umbruchs in der spätsozialistischen DDR.

Verglichen mit den kommunistischen Nachbarstaaten waren die Umwälzungen in Ostdeutschland durch ein besonders hohes Tempo geprägt. Binnen weniger Monate kollabierte ein politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System, welches sich bis dahin – trotz vielfältiger Anpassungsschwierigkeiten und Krisenerscheinungen – durch einen bemerkenswerten Grad an Stabilität und Selbstbewusstsein ausgezeichnet hatte. Neben dem schlagartigen Zerfall des SED-Staats stellte die schnelle Übertragung des politischen und sozioökonomischen Modells der Bundesrepublik die zweite große Besonderheit dar. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird dieser Vorgang wahlweise als eine „von therapeutischen Maßnahmen bereinigte Schocktherapie“, als „natürliches Experiment“ oder als „electric chair therapy“ bezeichnet: Mit dem erklärten Ziel, innerhalb kürzester Zeit eine vollständige Angleichung an westdeutsche Produktivitäts-, Lohn-, Konsum- und Rechtsstandards zu erreichen, wurden sämtliche institutionellen Arrangements der alten Bundesrepublik in die neuen Bundesländer transplantiert. Die Geschwindigkeit, Totalität und Radikalität, in der sich diese Veränderungsprozesse vollzogen, setzten wiederum verschiedene Dynamiken in Gang, für die Jürgen Kocka seinerzeit den Begriff der „Vereinigungskrise“ geprägt hat.

 

Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften

Bis heute halten viele historische Darstellungen, die sich mit der Vorgeschichte unserer Gegenwart beschäftigen, an solchen zeitdiagnostischen Terminologien fest. Deren umstandsloser Verwendung als Analyserahmen und Epochenbezeichnung steht jedoch zum einen entgegen, dass die 1990 angestoßenen Veränderungen vielfach durch Entwicklungen überlagert wurden, die zwar bis in die Siebziger und Achtziger zurückreichten, deren Wahrnehmung aber durch das unerwartete Verschwinden des Kommunismus für längere Zeit in den Hintergrund gedrängt wurde. Erst vor kurzem hat die Bundesrepublik-Forschung damit begonnen, den Umbruch von der Hochmoderne zur Zweiten Moderne genauer auszuleuchten und dabei nach den möglichen Folgen für die deutsch-deutsche Vereinigung zu fragen: In den Blick traten dabei die typischen Verschleiß- und Abnutzungserscheinungen von Institutionen und Strukturen, die bis dahin zu den Markenkernen des „Modells Deutschland“ gezählt hatten: Föderalismus, Sozialstaatlichkeit, ein weitgehend stabiles Parteiensystem sowie nicht zuletzt die Gewissheiten einer vornehmlich aus den USA importierten Modernisierungsideologie. Die Tatsache, dass sich ein System, das bereits vor 1989 erkennbar an seine Grenzen geraten war, nach 1990 noch einmal zu unerreichter Leistungskraft und Aufgabenallokation aufschwang, zählt zu den vielen erklärungsbedürftigen Paradoxien des deutsch-deutschen Transformationsprozesses, der aus soziologischer Sicht wie eine Apotheose modernisierungstheoretischer Planungs- und Steuerungsroutinen wirken musste.

Als heuristisches Konzept erscheint „Vereinigungskrise“ aber auch deshalb eher ungeeignet, weil damit wichtige Prozesse und Dynamiken ausgeblendet bleiben, die durch die seit 1990 einsetzenden Diskurse um eine Re-Nationalisierung und Globalisierung angestoßen wurden. Zu den bis heute spürbaren Langzeitfolgen dieser Epoche gehören etwa die zeitgenössischen Reaktionen auf die territoriale Entgrenzung von Kapital und Arbeit, internationale Fluchtbewegungen und (Arbeits-)Migrationen und das verstärkte Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen in mehreren europäischen Ländern. Von Vertreter*innen der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung wurde deshalb vorgeschlagen, den Untersuchungsraum geographisch auf das gesamte Deutschland und das übrige Europa zu erweitern, indem man von „doppelten Transformationen“ oder neoliberalen „Ko-Transformationen“ ausgeht. Doch die Frage bleibt, ob sich die Zeitgeschichte mit der Adaption solcher sozialwissenschaftlicher Termini nicht vor allem neue Probleme einhandelt. Denn selbst wenn man unterstellt, dass der Transformationsbegriff bereits durch das Säurebad des poststrukturalistischen Denkens hindurchgegangen ist und dadurch seine Zielgerichtetheit verloren hat, besitzt er Eigenheiten, die ihn als modifizierte Variante eines grand récit ausweisen. So folgt der Begriff einem nach 1989 aufkommenden Bedürfnis nach neuer Geschichtlichkeit, dessen Signum ausladende, anonym bleibende Gesamterklärungen sind, bei denen das Verhältnis von Ursachen und Folgen im Ungefähren verbleibt und kausale Verknüpfungen eher unterstellt als empirisch gezeigt werden.

 

„Einheitsmythen“ als Thema der Zeitgeschichte

Eine Zeitgeschichtsforschung, die das oft erhobene Postulat ernst nehmen will, die deutsch-deutsche Vereinigung als jüngste Vorgeschichte der Gegenwart zu erforschen, kann sich nicht damit begnügen, das Jahr 1989/90 zum Flucht- und Angelpunkt ihrer Erzählungen zu machen. Weder lassen sich die gegenwärtig diagnostizierten Probleme monokausal auf die politischen und sozioökonomischen Umwälzungen der frühen Nachwendezeit zurückführen noch sind darin ausschließlich Langzeitfolgen des Staatssozialismus oder des Strukturbruchs der Siebziger zu sehen. Gefragt ist dagegen eine Neukonzeptionalisierung der jüngeren Zeitgeschichte, die den konsequenten Weg eines epochenübergreifenden und integrierenden Zugangs beschreitet, ohne dabei in die Teleologien modernisierungstheoretischer oder postmoderner Auf- und Abstiegserzählungen abzugleiten. Eine zentrale Herausforderung für die Geschichtswissenschaft dürfte nicht zuletzt darin liegen, die überwältigende Fülle an sozialwissenschaftlicher „Ostdeutschland“-Forschung inhaltlich und methodisch zu durchdringen, ohne deren Historizität aus dem Blick zu verlieren. So können die Historiker*innen zwar einerseits von der ungeheuren Produktivität der Transformationsforschung profitieren. Doch besteht andererseits auch die Gefahr, dass der Konstruktionscharakter und die lebensweltliche Plausibilität sozialwissenschaftlicher Begriffsschöpfungen historische Erkenntnisziele prädeterminieren.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat die Probleme des vereinigten Deutschlands mit einem angeblichen Defizit an politischen Mythen und Großerzählungen zu erklären versucht. Eine kritische Historisierung der Umbruchsphase, die sich über die von Münkler untersuchte Ebene nationaler Symbole und äußerer Repräsentationen hinausbewegt, dürfte aber im Gegenteil ergeben, dass gesamtdeutsche Mythenbildungen für den Vereinigungsprozess eine herausgehobene Rolle spielten. Ob es die von Marcus Böick analysierte Erzählung einer „entfesselten Dynamik freier Märkte“, Oskar Lafontaines Kassandrarufe vor einer Masseneinwanderung in westdeutsche Sozialnetze oder die Polemik staatsnaher Eliten gegen eine vermeintliche „Kolonisierung“ Ostdeutschlands waren – die Umwälzungen des Jahres 1989/90 begünstigten das Aufblühen zahlreicher wirkmächtiger „Einheitsmythen“ (Helmut Wiesenthal), deren zähes Nachleben sich heute vor allem im öffentlichen Raum bemerkbar macht. Für die Zeitgeschichte, zu deren Kerngeschäft die Zerstörung von Geschichtsmythen gehört, bleibt also bis auf Weiteres genug zu tun.