Portrait eines Rechten – revisited
Von Robert Mueller-Stahl
Das Foto ist schon älter. Man sieht es ihm an. Die Jacke, die Hose, die Pose, das ganze Setting, all das wirkt nicht mehr zeitgemäß. Auch nicht für Neonazis. Es zeugt also von etwas Vergangenem. Nur ist der zeitliche Abstand, der aus der Aufnahme spricht, nicht erleichternd, sondern bedrückend. Er schafft ein Unbehagen, weil sein Gegenstand so hochaktuell ist, und heute doch oft so anders aussieht.
Was aber kann uns ein Foto wie dieses überhaupt erzählen über ein Phänomen, dass durch den Terroranschlag in Halle oder den Mord an Walter Lübcke, aber auch weit darüber hinaus, an alarmierender Aktualität gewonnen hat? Um es gleich zu sagen: Über seinen Protagonisten, Basti, ist nicht viel bekannt. Er ging noch zur Schule, als die Fotografin Bettina Flitner ihn für ihre Serie „Ich bin stolz, ein Rechter zu sein“ ablichtete und er erklärte, dass „irgendjemand […] sich um unser Land ja kümmern“ müsse. Heute, da sein Portrait nochmals in der ZEIT abgedruckt wurde, um unter dem Hashtag #baseballschlaegerjahre[1] die Erfahrungsgeschichte alltäglicher Gewalt durch die extreme Rechte der 90er Jahre zu illustrieren, ist er wohl 35. Was aus ihm geworden ist, bleibt ungewiss. Nichts ist da, außer das Portrait und die angeheftete Aussage.
Dennoch bin ich verleitet, allerhand hineinzulesen in dieses Foto. Ich möchte wissen, woher derart hasserfüllte Haltungen kommen, und schaue auf die Haltung, in die Augen, auf seinen Blick. Das ist natürlich widersinnig, denn Gesichtszüge sind bekanntlich nur wenig belastbare Quellen. „Physiognomy is of limited use”, schreibt Teju Cole. “I am not my face.”[2] Für Rechte gilt das gleichermaßen.
Und doch hat mich das Bild gefesselt. Denn mehr noch als das Abbild eines jungen Rechtsextremen beschreibt es eine soziale Situation, einen Moment des Vertrauens zwischen der Fotografin und dem Portraitierten, wie sie heute wohl kaum mehr möglich wäre.
Einerseits hat die extreme Rechte längst ihre eigenen Netzwerke der Repräsentation. Einer derart kritischen, auch noch weiblichen Fotografin wie Bettina Flitner würde sie sich wohl nicht mehr anvertrauen, wie Basti und 14 Gleichgesinnte es getan haben. Auch das Setting wäre heute vermutlich ein anderes. Die Plattenbauten stehen zwar immer noch, bilden aber längst nicht mehr die Fixpunkte neonazistischer Selbstdarstellung. Ihre Hallräume heißen heute eher 4Chan und vk.com. Das Portrait ist dem Avatar gewichen, das Posieren vor der Kamera dem mörderischen Livestream.
Andererseits aber gibt es auch aus fotografischer Sicht gute Gründe, von Bildern wie diesen abzusehen. Ihre Wirkungen sind kaum kontrollierbar. Sie suggerieren gleichsam Stärke und Verletzlichkeit, schüren Angst und Sympathien. Das bloße Portrait, kurzum, ist immer nah an Propaganda. Zwar wird dieser Effekt schnell eingefangen, durch den Baseballschläger, mehr aber noch durch das weitaus eindeutigere Zitat. Dennoch, was bleibt von der Betrachtung des Portraits außer der (wenig weiterführenden) Einsicht, dass auch Nazis letztlich Menschen sind?
Vielleicht aber ist es gerade das. Das Bild stellt etwas heraus, ohne es zu erklären. Es schafft eine Verknüpfung zum Hier und Jetzt, die ebenso unklar wie unheimlich ist. Gegenwärtiger aber könnte es kaum sein.
Die Serie „Ich bin stolz, ein Rechter zu sein“ war 2003 in einer Ausstellung des Bündnisses „Bunt statt Braun“ im Anklamer Theater zu sein. Weitere Arbeiten von Bettina Flitner auf ihrer Website.
Grenzenlose Aussicht
Gedanken zu Kontrolle, Überwachung und Freiheit
Von Josephine Kuban
An einem kühlen, aber sonnigen Tag im Mai 2019 stieg ich die Leiter im engen und grauen Ostsee-Grenzturm in Kühlungsborn hoch, mehr aus Abenteuerlust als aus Wissensdurst. Oben angekommen hatte ich einen herrlichen Panoramablick über die raue Frühjahrssee und die von Sonne und Tourist*innen überflutete Strandpromenade. Der Turm wurde durch den Ostseegrenzturm e.V. restauriert und ist heute ebenso wie das kleine angrenzende Museum für Besucher*innen geöffnet. Von 1971 bis 1990 standen 27 dieser Türme entlang der Ostseeküste. In Kühlungsborn beobachtete die sechste Grenzkompanie in diesem Zeitraum die Seegrenze der ehemaligen DDR und spürte mit Suchscheinwerfern und einer Hundestaffel Menschen auf, die die DDR über die Ostsee zu verlassen versuchten. Der historische Kontext zur DDR und seiner Grenze war mir durchaus bewusst, trotzdem schien ich von einem unbekümmerten und friedvollen Urlaubsgefühl durchflutet zu sein. Erst als ich noch einmal das Treiben auf der Promenade beobachtete, realisierte ich, wie unbemerkt ich von hier oben die Urlauber*innen studieren, wie weit ich über Küste und Meer blicken konnte und wie mir dies im beschriebenen Kontext allmählich unangenehm wurde.
All das geschah, bevor im Sommer 2019 die Proteste in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong ausbrachen. Als die Demonstrationen gegen das umstrittene Gesetz über flüchtige Straftäter und Rechtshilfe in Strafsachen begannen, war mir noch nicht klar, wie viele interessante und aufwühlende Gespräche ich über die Kultur und Politik Chinas, staatliche Kontrolle und Überwachung, aber auch das Recht auf freie Meinungsäußerung und Widerstand führen würde. So wie ich also mit einem gemischten Gefühl aus Dankbarkeit für ein nahezu grenzenloses Europa, in dem ich aufwachsen durfte, und Nachdenklichkeit gegenüber Begrenzungen, Einschränkungen und Kontrolle im Frühjahr den Ostsee-Grenzturm in Kühlungsborn hinunterkletterte, so verlasse ich persönlich wohl auch das Jahr 2019 mit einem veränderten und nachdenklichen Blick auf Themen wie Freiheit und Überwachung.