Ist das Voyeurismus?
Von Lucia Halder
September 2019, Ausstellungseröffnung in einer Kölner Galerie. Gezeigt wird die jüngste Serie des südafrikanischen Fotografen Pieter Hugo. Für eine Gruppenausstellung sollte der Fotograf Werke zum Thema „Sex und Tod“ beisteuern. Herausgekommen ist die Serie „La Cucharacha“, aufgenommen in Oaxaca, Mexiko. Während es draußen auf der Straße immer grauer wird, geschieht im Galerieraum das Gegenteil: Hugo hat eine Serie voller Farben, Menschen und Symbolen aufgenommen. Ich schlendere an den großformatigen Fotografien entlang, bin fasziniert von der Eindringlichkeit christlicher Ikonographie in einigen Bildern und rätsle über die Symbolik anderer. Und plötzlich stehe ich vor diesem Bild: Eine junge Frau vor einer türkisfarbenen Wand, nackter Oberkörper, feuchtes Haar, nasse, ölige Haut, ihr Haupt gekrönt von einem prächtig bunten, leicht schief sitzenden Blumenkranz. Ihr Kopf ist im Halbprofil leicht zur Betrachter*in geneigt, der Blick geht in die Kamera. Ihr kräftiger unbekleideter Körper hat eine starke Wirkung auf mich, ebenso ihr schwer zu deutender Blick. Ist sie gelangweilt oder trotzig? Fühlt sie sich wohl oder unwohl? Ist sie Objekt des Fotografen oder Subjekt ihrer Inszenierung? Minutenlang verharre ich vor dem Bild und frage mich, was mich daran so fasziniert. „Ist es die starke Präsenz der Abgebildeten?“, frage ich mich und trete einen Schritt näher an das Bild. Ich deute ihren Blick zunächst als selbstbewusst. Neben mir unterhalten sich zwei Betrachter einstweilen leise über die technischen Details. In der Tat weist das Bild eine extreme Genauigkeit auf, die Kontraste sind messerscharf. Ich teile meine Gedanken über die Frau mit den beiden Besuchern, sie widersprechen mir und echauffieren sich über die entblößte Zurschaustellung der ihrer Meinung nach eindeutig zum Opfer gemachten Frau. „Ist es Voyeurismus?“, frage ich mich beschämt und trete einen Schritt zurück. Plötzlich erscheint mir ihr Blick unbehaglich. Mir kommen Fotografien aus dem 19. Jahrhundert in den Kopf – Fotografien aus Tahiti und Samoa. Mythische Inszenierungen vermeintlich sanfter „Südseeschönheiten“, die mehr über kaiserzeitliche Sehnsüchte und Erotikvorstellungen aussagten als über die Realität vor Ort. Diese Fotos zeigen oftmals Mädchen und Frauen mit Blumenkränzen im Haar, ganz ähnlich der Mexikanerin auf dem Foto von Pieter Hugo. Ich spreche den anwesenden Fotografen auf die Aufnahme an und frage ihn, wie das Bild zustande gekommen sei und ob der Blumenkranz eine besondere Bedeutung in Mexiko habe. Pieter Hugo erklärt mir, dass er die Inszenierung alleinig aus seinen persönlichen Bildern im Kopf arrangiert habe. Das finde ich spannend: sind die ‚Bilder im Kopf‘ doch jene tradierten Muster historischer Bildwelten, die sich als ‚Rahmen‘ in unseren Gedächtnissen ablagern und die mit jeder Generation neu gefüllt werden. Vielleicht ist dieses Bild also gar nicht so weit weg von den Südsee-Bildern in meinem Kopf. Vielleicht hatte auch Pieter Hugo beim Inszenieren des Motivs ähnliche Bilder vor seinem unterbewussten Auge.
Jedes Mal wenn ich dieses Bild anschaue, sehe ich etwas anderes – eine andere Frau, eine andere Aufnahmesituation, ein anderes Machtgefälle, eine andere Stimmung. Ich finde es immer wieder aufs Neue großartig, wie viele Deutungen, Bedeutungen und Geschichten einer einzigen Fotografie innewohnen können. „Es ist Fotografie, es wirkt wie Dokumentarfotografie, aber es ist nicht die Wahrheit.“[1], sagt Pieter Hugo. Das letzte Wort müsste jedoch eigentlich die Frau auf dem Foto haben.
Ein Leben ohne Grenzen, eine Freedom zu verschenken
Von Pia Kleine
Mit dem Europa-Pass hat die österreichische Popband Bilderbuch in diesem Jahr für Aufsehen gesorgt. Auf ihren Instagram-Profilen riefen die Bandmitglieder dazu auf, der „European Family“ beizutreten. Hierfür gestalteten sie vor den Europawahlen im Mai, im Zuge ihrer Album-Veröffentlichung „Vernissage my Heart“ und des Songs „Europa22“ eine Website, auf der ein eigener fiktiver Ausweis erstellt werden konnte. Nach dem Einfügen des Namens, des Geschlechts (male, female, unisex), des Geburtsjahres und eines Bildes erhält man einen Pass, der „∞“ gültig ist und die europäische Staatsangehörigkeit ausweist.
An der Aktion nahmen innerhalb des ersten Tages 70.000 Menschen teil. Der Moderator Jan Böhmermann, die Autorin Sophie Passmann, die Politiker*innen Katharina Barley und Martin Schulz (Unterschrift auf Instagram: Dafür, dass es diesen schönen Pass eines Tages wirklich geben wird, kämpft die SPD seit 1925) ließen sich das Dokument beispielsweise ausstellen. Unter dem Hashtag #Europa22 sind zahlreiche Beispiele zu finden.
Die Aktion wurde als ein Statement für Europa in Zeiten von Brexit und aufstrebendem Nationalismus, für Offenheit und Toleranz gefeiert. Es sind vor allem junge Menschen, die an dieser Aktion teilgenommen haben. In den sozialen Medien traten auch kritische Stimmen zutage, die den Ausweis als PR-Coup einordneten und einen anderen Blickwinkel einnahmen: Das Europäer*in-Sein blende alles außerhalb Europas aus und signalisiere eine bewusst abgrenzende Haltung.
Mit dem Europa-Pass erschaffen die Musiker von Bilderbuch ihr (oder ein) Bild von Europa. Für mich ist die symbolhafte Handlung der Band und dieses Bild von einem positiv konnotierten Europa ein wichtiges Zeichen gegen aufstrebende rechtspopulistische Tendenzen in diesem Jahr gewesen. Ich sehe es als eine Solidarisierungsaktion, die in Erinnerung gerufen hat, welchen Stellenwert Europa für uns hat: Wir können frei reisen, Netzwerke aufbauen und haben gemeinsam die Möglichkeit, für Anliegen einzutreten.
Im Pop- und HipHop-Musikgenre, das in meiner Wahrnehmung häufig entweder sehr glatt geschliffen ist, oder sich in Teilen sogar rückständig äußert – beispielsweise in Form von sexistischen Lyrics – hat die Band sich dagegen mit diesem Europa-Bild vor ihre Generation gestellt. Maurice Ernst, der Sänger, möchte als Künstler Verantwortung übernehmen. Mit der Aktion möchte er bewusst machen, dass Europa so „leiwand“ und nicht selbstverständlich ist. Es bedarf des Investments, um sich dieses zu erhalten.[2]
Zu Asche, zu Staub
Von Hanno Hochmuth
Am 28. September 2019 feierte das „Metropol“ in Berlin seine spektakuläre Wiedereröffnung. Das Theater am Nollendorfplatz wurde nach langer Pause wiederbelebt. Hier hatte Erwin Piscator bereits Ende der 1920er-Jahre Aufsehen erregt. Passend dazu wurde das Haus nun im Stil der „Goldenen Zwanziger“ mit einem Konzert des Moka Efti Orchestras wiedereröffnet, das seit dem Erfolg der Serie „Babylon Berlin“ durch die Republik tourt. Der Star des Ensembles ist die litauische Schauspielerin Severija Janušauskaitė, die in den ersten beiden Staffeln der Serie die mysteriöse Gräfin Sorikina spielt und den einprägsamen Titelsong „Zu Asche, zu Staub“ singt.
Ich erlebte das Lied am Abend der Wiedereröffnung aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Im umgebauten „Metropol“ verläuft der zweite Rang nicht nur oberhalb des Zuschauerraums, sondern auch oberhalb der Bühne. Von hier oben machte ich den Schnappschuss, der Severija Janušauskaitė in ihrer Federboa zeigt. Sie weist mit ihrem Arm auf das Publikum im Parkett, dass sich tanzend in die 1920er-Jahre zurückversetzt und dabei im Chor „Zu Asche, zu Staub“ mitsingt.
So viel Zwanziger gab es lange nicht mehr. Das liegt nicht nur am Rhythmus der hundertsten Jahrestage, der inzwischen beim Beginn der Weimarer Republik angekommen ist. Das neue Interesse an den Zwanzigern erklärt sich auch aus den vermeintlichen Analogien zur fragmentierten politischen Kultur der Weimarer Republik. Die Krise der Demokratie und das Erstarken des Rechtspopulismus erinnern viele an die Spätphase der ersten deutschen Demokratie, auch wenn bei solchen historischen Vergleichen Vorsicht geboten ist, denn Geschichte wiederholt sich nicht.
Das Faible für die „Goldenen Zwanziger“ gründet zugleich auf dem großen Freiheitsversprechen einer ungezügelten Freizügigkeit, die als Projektionsfläche für den Hedonismus der Gegenwart dient und global vermarktet wird. Berlin wird als Stadt der Freiheit inszeniert, deren Zerstörung immer gleich mitschwingt. Das Lied „Zu Asche, zu Staub“ spielt mit dieser Lust am Untergang und fordert auf zum Tanz auf dem Vulkan, mit dem Berlin in der Weimarer Republik oft beschrieben wird. Doch wir taumeln nicht in die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, sondern haben es an der Schwelle zu den neuen Zwanzigern selbst in der Hand, unsere Demokratie zu bewahren.
Ein Seestück
Von Sylvia Necker
Im Museumsalltag passiert es ganz selten, dass Bilder, Fotos oder Gemälde einen vollkommen verschlucken oder in den Bann ziehen. Zu gewöhnlich wird das Sehen zum Tagesgeschäft. Jede*r Cineast*in und jede Leseratte wird dieses Phänomen der Abnutzung von ästhetischer Erfahrung bestätigen können. Als mir meine Kolleg*innen vom LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster den Katalog zur aktuellen Turner-Ausstellung in die Hand drückten, geschah genau diese Seltenheit: Ich blieb auf einer Katalogseite kleben, die ein Boot in höchster Seenot zeigt, eingefangen in einen Wetterstrudel, von dem nicht klar ist, ob es sich um Nebel, Sturm oder Schnee handelt. Erst die Bildunterschrift löst die Szene auf: Ein Dampfer im Schneesturm, in den, wie im Katalog nachzulesen ist, Turner selbst geraten war und den er in diesem Seestück aus der Erinnerung festhielt. Es handelt sich also um eine authentische Bildszene, was mich in diesem Zusammenhang jedoch nicht weiter interessiert. Mir geht es um den emotionalen Strudel, den das Bild in mir auslöste.
Seestücke haben mich schon immer fasziniert. Besonders jene Gemälde, die die Gefahr der Meere zeigen, das Ausgeliefertsein. Viele dieser Gemälde wirken wie eine Zeitlupe, als könnten wir eine Sekunde mitten auf dem Deck stehen, umtost von Wetter und See, mit unklarem Ausgang der Szene. Und obwohl ich gar nicht an der See aufgewachsen bin, war für mich mit 17 bei meinem ersten Besuch in Hamburg klar: diese Stadt fasziniert mich so sehr, dass ich bald nach Schulabschluss hierherziehen würde. Von dort ist es nicht weit zur „richtigen“ See und in den letzten 25 Jahren zog es mich immer wieder an Nord- und Ostseeküste.
Anziehung war auch bei dem Gemälde von Turner im Spiel, dass ich zunächst nur als Abbildung und dann auch im Original in der Ausstellung sah: Wie ein Sog zog mich dieses Bild von Turner an und ich habe mich darin verheddert; ich habe es sehr persönlich genommen, dieses Bild. Es spülte mich direkt in vergangene Monate, die ich an der Universität Nottingham in England verbrachte – erst vor fünf Monaten bin ich nach Deutschland zurückgekehrt. Genauso schwankend wie der Dampfer fühlte ich mich, als ich im Januar 2018 dort ankam. Schon die Überfahrt war ein Abenteuer. Die Fähre, mit der ich von Calais nach Dover übersetzte, konnte nur mit großer Verspätung starten, weil die See zu aufgewühlt war. Die Destination „England“ dann endlich erreicht – völlig unklar, wie lang ich dort verbringen sollte und welche Aussichten damit verbunden waren (ich hatte nur einen Vertrag für ein dreijähriges Forschungsprojekt in der Tasche) – zog ich in der Nähe der Universität in ein beschauliches englisches Haus. Doch die Beschaulichkeit war ein äußerer Zustand, in mir tobte ein Sturm wie auf Turners Bild. Ich war der (Mutter-)Sprache verlustig gegangen, mit der ich sonst alles mit großer Souveränität regeln kann, und nun war ich eingeschlossen in einen Wort- und Sprachstrom, aus dem einzelne Wörter herausstachen, die ich – je nach Kontext – radebrechend verstand. Wortfetzen umnebelten mich besonders im akademischen Kontext. Der Rest: Sprachfremde und die Faszination, wie schön die englische Sprache klingt. Indeed: Der Sturm legte sich nach einiger Zeit, so wie bei Turner auch. Sprühnebel verzogen sich, das Wetter klarte auf, die Sprachsicht wurde deutlicher und das (akademische) Leben in England ging in ruhigere Gewässer. Als ich dieses Jahr im Juli meine Zelte im überschaubaren Wollaton abbrach und im Begriff war, mich mit Sack und Pack auf den Weg zur Fähre machen, toste wie zum Abschied ein Jahrhundertsturm über den East Midlands. Die BBC berichtete am nächsten Morgen von der blitzreichsten Nacht der letzten Jahrzehnte und der Regen unterspülte die Straßen. Die Fähre verpasste ich – doch finally: jetzt bin ich in Minden gestrandet.
Sprechende Steine
Von Christine Bartlitz
Jedes Jahr versuche ich aufs Neue, mir diese Frage nicht zu stellen. Denn ich weiß ja, dass das Ende des Jahres am 31. Dezember eine willkürliche Setzung ist. Vor der Kalenderreform durch Julius Caesar begann das Jahr am 1. März, eigentlich ein viel passenderer Zeitpunkt für das Neue. Aber all das Wissen darum hilft nicht. Irgendwann in den letzten Dezembertagen ist sie wieder da: die Frage „Was bleibt?“ Was bleibt vom vergangenen Jahr? Und: Was bleibt vom Leben?
Vor zwei Jahren ist meine Schwiegermutter gestorben. Sie war mit 89 Jahren ins Pflegeheim gekommen, ihre Wohnung hatte ich bereits aufgelöst. Nun war sie tot, mit 90 Jahren. Alles war ausgeräumt, das Zimmer im Heim fertig zur Übergabe. Um mich herum standen noch drei große blaue Müllbeutel. In eine kleine Tasche legte ich das, was ich behalten wollte: ein paar Fotos und Briefe von ihr. Alles andere wanderte in die Müllbeutel: die Zeugnisse eines langen Lebens. Bevor ich das Zimmer verließ, ging ich noch einmal zurück und holte doch den kleinen braunen Teddybären aus dem blauen Sack heraus, ein Spielzeug aus Rumänien, wo sie herkam. Jetzt sitzt er zu Hause im Bücherregal. Was bleibt?
Im Sommer 2019 war ich ein paar Tage auf Föhr. Dort (wie auch auf Amrum) gibt es sprechende Grabsteine. Sie sind bis zu 400 Jahre alt und erzählen vom Leben der Inselbewohner*innen – allerdings mehr von den Männern als von den Frauen. Der älteste Stein datiert aus dem Jahr 1604. Die Grabdenkmäler wurden aus Sandsteinplatten gefertigt. Ihre Herstellung war aufwändig; nur reiche Insulaner*innen konnten sie sich leisten. Sie berichten von der Ehe und den Kindern, dem Beruf. Viele Männer von der Insel heuerten auf Schiffen in Hamburg an, um im Nordmeer als Harpuniere Wale zu jagen. Das Leben war hart, manche blieben für immer auf See.
Um möglichst viel Leben auf den Grabsteinen unterzubringen, wurde auch mit Symbolen gearbeitet: Vater und Söhne sowie Mütter und Töchter finden sich auf einigen Steinen in Form von Blumen wieder: tulpenförmige symbolisieren die Männer, sternfömige die Frauen – eine geknickte Blüte verweist auf bereits Verstorbene hin, meistens Kinder.
Anfang des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Grabkultur auf Föhr und Amrum: Auch hier setzten sich nun die Steine nur mit Namen und Lebensdaten durch. Vielleicht ließe sich solch eine Tradition wiederbegründen? Denn die sprechenden Steine erfreuen nicht nur Historiker*innen im Urlaub. Sie sind auch tröstlich bei der Beantwortung der Frage „Was bleibt?“ – Geschichte!
[1] Interview von Damian Zimmermann mit Pieter Hugo. Zuletzt abgerufen am 30.12.2019.
[2] Vgl. Maurice Ernst im Interview mit Salwa Houmsi, in: Diffus Titelstory (Youtube). Zuletzt abgerufen am 30.12.2019.