von Frieder Günther

  |  

7. August 2020

„Niemand darf wegen [...] seiner Rasse [...] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Als die Frauen und Männer des Parlamentarischen Rates vor gut 70 Jahren dies in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes formulierten, waren sie der Überzeugung, ein wirksames rechtliches Mittel geschaffen zu haben, damit sich etwas Ähnliches wie der Holocaust in Deutschland nicht wiederhole. Diese Konsequenz aus der jüngsten Vergangenheit zu ziehen ergab sich zwangsläufig aus der dezidiert antinationalsozialistischen Grundhaltung des Parlamentarischen Rates und aus dem in Art. 1 Abs. 1 festgelegten Gedanken der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Dabei dürfte der Rückgriff auf den Rassebegriff kaum auf Bedenken gestoßen sein, da dieser dem Erfahrungshintergrund der Versammlungsmitglieder entsprach: Die Nationalsozialisten hatten die Juden ausgegrenzt, verfolgt und ermordet, nicht weil sie als eine ethnische, religiöse oder kulturelle Minderheit wahrgenommen wurden, sondern – auf der Basis der damals verbreiteten pseudowissenschaftlichen Rassentheorien – als eine homogene, minderwertige Rasse und als ein natürlicher Feind des deutschen Volkes. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates das Rasseverständnis der Nationalsozialisten zwangsläufig teilten oder von der Existenz eindeutig abgrenzbarer Menschenrassen überzeugt waren, sondern dass sie eine Diskriminierung auf seiner Grundlage für die Zukunft verhindern wollten, eben weil die dahinter stehende Ideologie sich in einer Weise als menschenverachtend und -vernichtend erwiesen hatte, die bis dahin als unvorstellbar galt.

Screenshot: Gesetze im Internet. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art 3. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz/ Bundesamt für Justiz.

Mit einem solchen Ansatz war der Parlamentarische Rat nach dem Zweiten Weltkrieg nicht allein. Mit eindeutig antinationalsozialistischer Ausrichtung verabschiedete bereits 1948 die UN-Generalversammlung die Genozidkonvention und definierte in Art. 2 Völkermord als den Versuch, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe“ zu zerstören. Ebenso einigte sich der Europarat 1950 auf Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach die in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten „ohne Diskriminierung insbesondere […] wegen der Rasse […] zu gewährleisten“ seien. Im Jahr 1952 folgte der bundesdeutsche Gesetzgeber und legte in §1 Abs. 1 des Bundesentschädigungsgesetzes fest, dass, wer „aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung […] durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist“, Anspruch auf Entschädigung hat.
Aktuell von zentraler Bedeutung ist etwa die Richtlinie 2000/43/EG des Rates der Europäischen Union, welche sich „die Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ zum Ziel setzt und damit noch heute explizit auf den Rassebegriff zurückgreift.

Wer meint, das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse habe in der Nachkriegszeit primär eine symbolische Bedeutung gehabt, hat weit gefehlt. Auch wenn öffentlich tabuisiert, waren etwa antisemitische und antizigane Vorurteile und Stereotype in der deutschen Gesellschaft weitverbreitet und beschränkten sich keineswegs auf rechtsradikale politische Gruppierungen. Bei der Polizei und in anderen staatlichen Behörden lässt sich eine Verwaltungspraxis nachweisen, bei der Menschen aus rassistischen Motiven weiterhin diskriminiert wurden.[1] Dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung bis heute kaum auf den Rassebegriff zurückgegriffen hat, dürfte somit eher mit einer allgemeinen Unterschätzung des gesellschaftlichen Phänomens des Rassismus als mit fehlenden Anwendungsfällen zu tun haben.

Historisch lässt sich der Rassebegriff im Grundgesetz also überzeugend herleiten.
Wenn heute Forderungen nach einer Ersetzung oder gar Streichung des Begriffs aus dem Grundgesetz auftauchen, spiegeln sich darin veränderte Wahrnehmungen und Sensibilitäten im Hinblick auf die Sprache, mit der wir die soziale Wirklichkeit beschreiben. Dabei geraten vor allem Begriffe, die von den Nationalsozialisten verwendet und missbraucht wurden, in die Kritik und erfahren eine entsprechend negative politische Aufladung. Somit wäre es falsch, eine Änderung des Wortlauts von Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes von vornherein auszuschließen, denn dies hieße, die symbolische Bedeutung und die damit einhergehende Steuerungsfunktion unserer Verfassung zu unterschätzen. Dennoch plädiere ich bei einer Formulierungsänderung für Bedachtsamkeit und Sorgfalt, um die weite Schutzwirkung der Regelung gegen alle Formen von Rassismus nicht unwillentlich zu begrenzen.
 

Erstens würde eine bloße Streichung des Begriffs dem Anliegen der Befürworter*innen sicher nicht gerecht, da die in der Bestimmung sonst genannten Verbote der Diskriminierung etwa wegen Abstammung oder Herkunft keinen gleichwertigen Schutz bieten.

Zweitens handelt es sich bei dem Begriff Rasse im Grundgesetz um einen Rechtsbegriff, der im Lichte anderer, oben erwähnter nationaler, europäischer und internationaler Rechtstexte sowie einer mittlerweile ausgefeilten Rechtsprechung von Gerichten zu interpretieren ist und somit einen besonders wirksamen Schutz bedeutet. Eine Änderung der Formulierung müsste also so gefasst werden, dass das, was durch diese weitreichende rechtliche Aufladung des Rassebegriffs erzielt wurde, nicht verloren geht.

Zum Dritten wäre es hilfreich, sich stärker bewusst zu machen, dass es sich bei Rechtsbegriffen – besonders deutlich wird dies beim Geschlecht oder der Hautfarbe – häufig nicht um direkte Abbilder von Wirklichkeit, sondern um soziale Konstrukte handelt, die im Lauf der Zeit neue Konnotationen erhalten können. Vor diesem Hintergrund wäre zu überprüfen, inwiefern sich der Begriff der Rasse im Grundgesetz mittlerweile ein Stück weit aus seinem ursprünglichen postnationalsozialistischen Kontext gelöst und zusätzliche neue Bedeutungsinhalte erhalten hat. Jüngste Anregungen könnten etwa von der „Black Lifes Matter“-Bewegung in den USA ausgehen, die auf die vielfältigen Formen rassistischer Diskriminierung im Alltag aufmerksam gemacht hat und hierbei den englischen Begriff „race“ für unverzichtbar hält. Dabei handelt es sich in den USA um eine Kategorie, die auf das Aussehen, die Kultur, die familiäre Abstammung, die nationale Zugehörigkeit vor der Einwanderung, aber auch auf die eklatante soziale Ungleichheit anspielt und die das Denken und Handeln eines großen Teils der Amerikaner*innen bis heute maßgeblich prägt.[2]

Die rechtshistorische Perspektive verhilft uns somit zu der Einsicht, dass sich die Tagespolitik in der aktuellen Debatte vor allzu überhasteten Schritten hüten sollte. Eine Ersetzung des Rassebegriffs in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes durch eine neue Formulierung wie „Diskriminierung aus rassistischen Gründen“ sollte selbstverständlich nicht ausgeschlossen sein, muss aber breit diskutiert und im Vorfeld juristisch genau geprüft werden.

 

[1] Vgl. z.B. Imanuel Baumann u.a.: Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011, S. 249-285; Frieder Günther: „Die Möglichkeit der sofortigen Abschiebung ausnutzen“. Das Bundesinnenministerium und die jüdischen DPs im Lager Föhrenwald, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2016.
[2] Vgl. besonders Cengiz Barskanmaz/Nahed Samour: Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse, in: Verfassungsblog, 16.06.2020.