von Florian Peters

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28. August 2020

Als die Arbeiter:innen der Danziger Leninwerft am 14. August 1980 als Reaktion auf eine Erhöhung der Fleischpreise ihre Arbeit niederlegten, sah es zunächst danach aus, dass ihr Ausstand ebenso rasch vorbei sein würde wie die Streiks in vielen anderen polnischen Betrieben, deren Belegschaften in den Wochen zuvor gegen die schlechte Wirtschafts- und Versorgungslage protestiert hatten. Die Forderungen der Werftarbeiter:innen wurden von den lokalen Autoritäten nach drei Streiktagen erfüllt, und die Arbeiter:innen waren bereits dabei, das besetzte Werftgelände zu verlassen. Dem beherzten Einsatz einer kleinen Gruppe von Frauen (und der situativen Intuition des Streikführers Lech Wałęsa) war es zu verdanken, dass der Streik auf der Werft als Solidaritätsstreik weitergeführt wurde – denn nur mit der Verhandlungsmacht der Werftbelegschaft im Rücken hatten auch andere Danziger Betriebe Chancen auf Realisierung ihrer Streikforderungen.
 

Der weitere Verlauf ist ebenso bekannt wie atemberaubend: Angesichts der politischen Schwäche der polnischen Parteiführung (und ihres ernsthaften Bemühens um Gewaltfreiheit) gelang es den Streikenden, den Kommunist:innen die Gründung einer „unabhängigen und selbstverwalteten“ Gewerkschaft abzuringen. Innerhalb weniger Monate entstand die mit knapp zehn Millionen Mitgliedern größte Massenbewegung in der jüngeren Geschichte Europas. Ihr Name war Programm: Solidarność – Solidarität. Als die Bilder aus Polen in den folgenden Monaten um die Welt gingen, boten sie Linkssozialist:innen und Alternativbewegten eine ebenso dankbare Projektionsfläche wie gläubigen Christ:innen und Kalten Krieger:innen.

Was vor 40 Jahren in Danzig begann, war ohne Zweifel eines der großen Ereignisse der europäischen Zeitgeschichte. Dennoch fällt es bis heute schwer, die Solidarność historisch einzuordnen: Handelte es sich um eine basisdemokratische Erneuerung der Arbeiterbewegung, die dem erstarrten Staatssozialismus der späten Breschnew-Ära endlich ein menschliches Antlitz geben würde, oder um einen frömmelnden Mummenschanz unter ideeller Führung des polnischen Papstes Johannes Paul II.? Erlebte Polen das Erwachen einer pluralistischen Zivilgesellschaft oder schlicht eine nationale Revolution gegen die sowjetische Fremdherrschaft? Es war das Schicksal der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, dass sie solche Fragen nicht mehr mit eigener Stimme beantworten konnte, nachdem General Jaruzelski sie mit der Einführung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 zum Verstummen brachte.

Die Geschichte der Solidarność ist die Geschichte gescheiterter Hoffnungen. Denn anders als der liberale Flügel der einstigen Oppositionellen gerne behauptet, war sie kein unmittelbarer Vorläufer der demokratischen Revolutionen von 1989. Zwar gab damals erneut Polen den entscheidenden Anstoß, der die kommunistischen Regime im östlichen Europa zum Einsturz brachte und die Teilung des Kontinents beendete. Doch die Gewissheiten der industriellen Moderne und das für die Solidarność von 1980/81 so charakteristische Vertrauen in die Wirksamkeit kollektiven politischen Handelns waren inzwischen Vergangenheit. Im Jahr 1989 kämpften die meisten Pol:innen nicht mehr dafür, ihre Welt gemeinsam besser zu machen, sondern sie waren auf halblegalen Handelsrouten und „Polenmärkten“ zwischen Westberlin und Istanbul unterwegs, um zumindest individuell über die Runden zu kommen.

Der Christdemokrat Tadeusz Mazowiecki, der 1980 die Danziger Werftarbeiter:innen bei ihren Verhandlungen mit der Regierungskommission beraten hatte und nach dem Erdrutschsieg der Opposition in den teilfreien Wahlen vom 4. Juni 1989 zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten östlich der Elbe gewählt wurde, mochte noch von einer „sozialen Marktwirtschaft“ träumen – sein Finanzminister Leszek Balcerowicz setzte jedoch alles daran, Polen mit einer radikalen Schocktherapie zum Vorreiter des neoliberalen Umbaus im östlichen Europa zu machen. Die sozialen Verwerfungen und Enttäuschungen der Transformationszeit werfen einen langen Schatten auf das Vermächtnis der Solidarność. Entsprechend ist dieses in Polen bis heute heftig umstritten. Deshalb sind auch alle Versuche, seine Bedeutung im europäischen Bewusstsein stärker in den Vordergrund zu rücken, bislang nicht von Erfolg gekrönt gewesen.

Nichts spricht dafür, dass der diesjährige 40. Jahrestag daran etwas ändert. Während die wiedergegründete Gewerkschaft Solidarność sich zum treuen Bündnispartner der rechtspopulistischen PiS-Regierung entwickelt hat, gilt das Europäische Solidarność-Zentrum in Danzig, das seit 2014 auf dem ehemaligen Werftgelände an die Geschichte von damals erinnert, als Prestigeprojekt der liberalen Bürgerplattform von Donald Tusk und des vor anderthalb Jahren ermordeten Danziger Bürgermeisters Paweł Adamowicz. Ebenso wie andere historische Museen in Polen steht es deshalb seitens der staatlichen Geschichtspolitik unter Druck. So versuchte das Kulturministerium wenige Monate vor dem 40. Jahrestag, dem Solidarność-Zentrum eines seiner wichtigsten Exponate abspenstig zu machen, nämlich die zum UNESCO-Weltdokumentenerbe zählende Originaltafel mit den 21 Forderungen des Danziger Streikkomitees. Indessen feiert die nationalkonservative Rechte in diesem Sommer ohnehin lieber den 100. Jahrestag des „Wunders an der Weichsel“, des polnischen Sieges über die Rote Armee vor Warschau im August 1920 – auch wenn von dem seit Jahren geplanten pompösen Museum am Ort des Geschehens, anders als in Danzig, bisher nicht mehr als ein Bauschild zu sehen ist.

Der heftige innerpolnische Streit um die Erinnerung an die Solidarność verweist darauf, dass die Historisierung der spät- und postsozialistischen Transformation auch in Polen, trotz der seit Jahren intensiv betriebenen Forschung zu Detailfragen der Oppositionsgeschichte, noch am Anfang steht. So bleibt das Vermächtnis der Auguststreiks von 1980 und der daraus entstandenen Solidarność-Bewegung auch nach 40 Jahren noch ein Gegenstand in höchstem Maße gegenwärtiger Reflexion. Denn auf die von der Gewerkschaftsbewegung auf die Tagesordnung gesetzten Fragen nach Solidarität und Würde, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit gibt es auch nach der Implosion des osteuropäischen Staatssozialismus keine einfachen Antworten – weder in Polen noch anderswo.