von Kristina Meyer

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6. Dezember 2020

Am 7. Dezember 2020 jährt sich der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto zum fünfzigsten Mal. Zu Recht gilt er als bedeutendste Geste eines bundesdeutschen Politikers der Nachkriegszeit; seit zwanzig Jahren wird ihm auf dem nun nach Brandt benannten Platz am Ort des einstigen Ghettos sogar mit einem eigenen Denkmal gedacht. Die Fotografie des Kniefalls ist zur Ikone geworden, zum „Erinnerungsort“, ja zum universellen und beinahe zeitlosen Markenzeichen einer deutschen „Vergangenheitsbewältigung“, die allzu gerne als „Erfolgsgeschichte“ mit Vorbildcharakter gepriesen wird.

Monument to Willy Brandt in Warsaw, 14.07.2013, Foto: Adrian Grycuk, via: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0 PL.

Zu diesem runden Jahrestag ist es aus vielen Gründen unerlässlich, erneut an den Kniefall zu erinnern, mit dem Willy Brandt 25 Jahre nach Ende des Krieges und der NS-Diktatur ein unnachahmlich demutsvolles und im besten Sinne schlichtes Zeichen der Anerkennung einer Schuld setzte, die er selbst nicht trug. Auch wenn die Corona-Pandemie wie schon am 8. Mai eine große öffentliche Gedenkzeremonie unmöglich macht: Politik, Medien und Wissenschaft werden Brandts Kniefall zwar nicht in der gewohnten Form, jedoch vermutlich mit altbekannten Formeln würdigen. Wenn der 7. Dezember 2020 aber in einer Weise begangen werden soll, die einen produktiven Beitrag zu gegenwärtigen geschichts- und erinnerungskulturellen Debatten liefert, dann wäre es enorm wichtig, die Geste in Gedenkreden, in der politischen Bildung und medialen Berichterstattung aus ihrer Starre einer fast ahistorischen Ikone zu lösen, anstatt sie zu jedem runden Jahrestag noch einen Deut abstrakter als zuvor zu einem universellen Abziehbild des historischen Verantwortungsbewusstseins der Deutschen zu stilisieren.

 

Rezeption und Resonanz

Im Jahr 2005 versuchten Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher, in einem mit „Denkmalsturz?“ betitelten und passagenweise arg polemischen Buch, den aus ihrer Sicht grundsätzlich hochachtungswürdigen Kniefall gleichsam vom Sockel zu holen. Um der „mythischen Überhöhung“ des Kniefalls „die historische Wahrheit an die Seite [zu] stellen“, wählten sie allerdings mit „Wie spontan war Brandts Kniefall?“[1] eine Frage, die weder erkenntnisfördernd noch originell ist: Das Mutmaßen über Spontaneität, Intention und Adressaten der Geste begleitet die jahrzehntealte Deutungsgeschichte des Kniefalls schon seit Hermann Schreibers legendärer Spiegel-Reportage „Ein Stück Heimkehr“ vom 14. Dezember 1970.[2]  Weitaus aufschlussreicher und interessanter als ein erneuter Anlauf, Brandts Psyche und Strategie zu erkunden oder den Kniefall als Höhepunkt seiner medialen Inszenierung zu analysieren[3], scheint es da, sich mit der komplexen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Geste, mit ihrem Resonanzraum und ihrem historischen Kontext zu befassen.

Willy Brandt auf dem Spiegel-Cover vom 14. Dezember 1970, Ausgabe Nr. 51/1970.

Der Kniefall war eine stellvertretende Geste, wenngleich es ausgerechnet ein vielfach als „Vaterlandsverräter“ verunglimpfter Emigrant und Widerstandskämpfer war, der für die von seinen Landsleuten begangenen Menschheitsverbrechen niederkniete. Stellvertretend war auch der Ort, an dem die letzten Bewohner*innen des Warschauer Ghettos zu einem Zeitpunkt verzweifelten Widerstand geleistet hatten, als die Mehrheit der 350.000 dort seit 1940 Eingesperrten längst in den Vernichtungsstätten der SS ermordet worden war. Nicht nur die Medien deuteten Brandts Kniefall als Geste, mit der er an einem besonders symbolischen Ort allen Opfern der deutschen Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik gedenken wollte, auch der Kanzler selbst bestätigte dies im Nachhinein. Einen repräsentativeren Ort für eine solche Geste hätte es 1970 in Warschau auch gar nicht gegeben. So wichtig seine universelle, allen Opfern gewidmete Botschaft war, so wichtig wäre es heute aber auch, den Blick auf die verschiedenen Opfergruppen, ihre unterschiedlichen Schicksale vor und nach 1945 und ihren jeweiligen Stellenwert in den „kollektiven Gedächtnissen“ der Zeit um 1970 zu richten – nicht um einer Rangfolge willen, sondern zwecks besseren Verständnisses der damaligen Situation und Rezeption, aber auch, um auf weiterhin bestehende Wissenslücken aufmerksam zu machen.

„Wir dürfen nicht vergessen“, so erklärte Brandt in seiner Ansprache für das deutsche Fernsehpublikum am Abend des 7. Dezember, „daß dem polnischen Volk nach 1939 das Schlimmste zugefügt wurde, was es in seiner Geschichte hat durchmachen müssen“. Dieses „Schlimmste“ hat die Geschichtswissenschaft seither zwar im Detail erforscht, es ist aber bis heute kaum in das Bewusstsein und Alltagswissen der Deutschen vorgedrungen. Mit welcher Brutalität und Geschwindigkeit der deutsche Vernichtungskrieg in Polen seinen Anfang nahm, wurde rückblickend allzu oft und schnell in Geschichtsbüchern und Gedenkreden übergangen. Adam Krzeminski spricht von einem immer wieder verdrängten „Warschauer Komplex“ der Deutschen: Neben den von Deutschen erlittenen Schicksalen durch Bombenkrieg und Vertreibung schienen die Erfahrungen der polnischen Bevölkerung zwischen 1939 und 1945 „nebensächlich und unbedeutend“ zu sein.[4] Und auch Brandts Kniefall löste in der Bundesrepublik kein verstärktes gesellschaftliches Interesse an den deutschen Besatzungsverbrechen in Polen aus. Im Fokus der öffentlichen Meinungsbekundungen stand vielmehr die Frage, ob die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und mit ihr die demütige Geste des Kanzlers der richtige Schritt oder eine voreilige und unterwürfige Verzichtserklärung war. Bekanntermaßen betrachteten nur 41 Prozent der unmittelbar nach dem 7. Dezember befragten Bundesbürger*innen den Kniefall als „angemessen“ – fast die Hälfte lehnte ihn als „übertrieben“ ab.[5]

Aber auch von einer verstärkten Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit für das Schicksal der einstmals dreieinhalb Millionen polnischen Jüdinnen und Juden konnte in der Folge des Kniefalls keine Rede sein. Weder kam es Anfang der siebziger Jahre zu einer breiten Debatte über die von Deutschen verübten Massenverbrechen, noch über die Situation der winzigen in Polen verbliebenen jüdischen Gemeinschaft, die sich nach einer antisemitischen Kampagne der kommunistischen Regierung im Frühjahr 1968 und einer dadurch ausgelösten Emigrationswelle noch einmal stark dezimiert hatte. Letzteres war wiederum ein heikles Thema, das Brandt – der sich des Problems durchaus bewusst war – mit Rücksicht auf die ohnehin schwierigen Verhandlungen mit der polnischen Seite nicht offen ansprechen konnte.[6] Auf den Antisemitismus und die Ausblendung einer explizit jüdischen Erinnerung im kommunistischen Polen hinzuweisen, hätte in der Bundesrepublik wiederum denjenigen in die Hände gespielt, die sich die Judenfeindlichkeit in anderen Staaten allzu gerne zur schuldabwehrenden Relativierung des von Deutschen verübten Völkermords zu Nutze machten.[7]

 

Konkretion statt Universalisierung

Brandts Kniefall hätte damals als Initialzündung zu einer verstärkten Beschäftigung mit der Beteiligung „ganz normaler Männer“ an den Verbrechen gegen die polnische und jüdische Bevölkerung und damit auch zu einem neuen Anlauf in der Selbstverständigung der Deutschen über Fragen von Schuld und Mitverantwortung verstanden werden können. Das weitgehende Ausbleiben solcher Debatten spricht jedoch dafür, dass die stellvertretende Geste von beträchtlichen Teilen der westdeutschen Gesellschaft vornehmlich als „moment of closure“ mit erleichternder, wenn nicht entlastender oder gar erlösender Wirkung wahrgenommen wurde, wie Christoph Schneider dies in seiner detaillierten Analyse des Kniefall-Narrativs in der Bundesrepublik hervorgehoben hat.[8] Entscheidender aber als diese nur schwer zu ergründende sozial- und individualpsychologische Entlastungswirkung der Geste ist die Tatsache, dass in Reaktion auf den Kniefall eben kein Gespräch über die Schicksale der Opfer folgte. Dass die siebziger Jahre in der Bundesrepublik kein Jahrzehnt waren, in dem die Auseinandersetzung mit der Gesellschafts- und Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus bemerkenswerte Fortschritte machte, ist hinlänglich bekannt: Nach der „Hitler-Welle“ und ihrer Fixierung auf die vermeintliche Faszinationskraft der NS-Führungsfiguren gelang es erst der Fernsehserie „Holocaust“, am Ende der Dekade eine Welle des öffentlichen Interesses an den Opfern deutscher Verbrechen auszulösen.

Auch wenn dies ganz gewiss nicht Brandts Absicht entsprach: Die seit 1970 in Deutschland zu beobachtende Universalisierung und Ikonisierung seiner großen Geste behinderte die Konkretion der NS-Verbrechen in Polen und damit auch notwendige Prozesse der Selbstreflexion in der bundesdeutschen Gesellschaft. Wer Brandts Vermächtnis gerecht werden will, sollte sich auch 2020 vor allem mit dem historischen Kontext und dem gesellschaftlichen Resonanzraum des Kniefalls befassen.

 

Wir möchten unsere Leser*innen außerdem auf die Konferenz der Bundeskanzler Willy-Brandt-Stiftung aufmerksam machen: 
Versöhnungspolitik 
Online-Konferenz zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags

10. Dezember 2020, Beginn: 14:00 Uhr

Die Veranstaltung wird als Live-Stream übertragen, um Anmeldung wird gebeten unter: veranstaltungen-berlin@willy-brandt.de, um vorab Zugang zu den Thesenpapieren zu erhalten.

 


[1] Michael Wolffsohn/Thomas Brechenmacher, Denkmalsturz? Brandts Kniefall, München 2005, S. 19.

[2] Hermann Schreiber, Ein Stück Heimkehr, in: Der Spiegel, 14.12.1970.

[3] Vgl. Daniela Münkel, Willy Brandt und die „vierte Gewalt“. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt am Main 2005, S. 153.

[4] Adam Krzeminski, Der Kniefall, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 638-653, hier S. 639 f.

[5] Vgl. „Kniefall angemessen oder übertrieben? Umfrage über Willy Brandts Totenehrung am Ehrenmal im früheren Warschauer Getto“, in: Der Spiegel, 14.12.1970, S. 27.

[6] Vgl. Wolffsohn/Brechenmacher, S. 72.

[7] Reaktionen dieser Art blieben dennoch nicht aus: Ein Redakteur der Rheinischen Post empörte sich über „den neuen Antisemitismus der polnischen Machthaber, der sie nicht daran hindert, uns ständig die jüdischen Opfer Hitlers vorzuhalten und den Rest der polnischen Juden als ‚Zionisten‘ aus dem Land zu treiben.“ P. W. Wenger im Rheinischen Merkur, 11.12.1970, in: Alexander Behrens, „Durfte Brandt knien?“ Der Kniefall in Warschau und der deutsch-polnische Vertrag. Eine Dokumentation der Meinungen, Bonn 2010, S. 96 f.

[8]Vgl. Christoph Schneider, Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, Konstanz 2006.