von Annette Schuhmann

  |  

18. Februar 2022

Von der ersten Einstellung an, beobachten wir den Tanz der Roboter in geradezu meditativen und unglaublich berückenden Bildern. Der spanische Regisseur Gerard Ortín Castellvi hat mit Agrilogistics einen Ballettfilm komponiert. Es ist ein streng choreographiertes Maschinenballett ohne Raum für Improvisationen. Nur kurz „stören“ von Ferne blecherne Töne aus einem Radio, wie aus einer anderen Welt. Menschen kommen in dieser Szenerie nur in jene Details zergliedert vor, die für den Produktionsprozess unabdingbar sind: Hände in blauen oder roten Gummihandschuhen, die die empfindlichen Greifarme des Roboters reinigen.

Im Rahmen der diesjährigen Berlinale Shorts läuft neben vielen anderen spannenden Filmen, der zwanzigminütige Film Agrilogistics. In diesen zwanzig Minuten wird der Quantensprung, den die Computerisierung der Industriearbeit in den letzten sechzig Jahren gemacht hat auf einzigartige Weise visualisiert. Waren es in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch Turnhallen voller Elektronenröhren die einfache Rechenprozesse vollzogen, hatten sich diese begehbaren Elektronengehirne am Ende des Jahrhunderts auf die Größe einer Maisflocke reduziert. Mittlerweile gibt es nicht einmal mehr die Maisflocke, sondern die Cloud, in der Prozesse geplant, gesteuert und optimiert werden.
Als man sich in den frühen 1950er Jahren mit der Idee der intelligenten Maschinen befasste, konnten Computer zwar rechnen, sonst jedoch konnten sie nicht viel.  In den 1970er Jahren waren die Greifarme der Industrie-Roboter in der Lage aus Kinderbauklötzen einfache Türme zu bauen.

 

Der Mensch als Mängelwesen

Mit dem Theorem vom Menschen als Mängelwesen, eine der ältesten anthropologischen Zuschreibungen, hat sich die Technikhistorikerin Martina Heßler eingehend beschäftigt.[1] Danach bot die biologische Ausstattung des Menschen, gegenüber jener des Tieres kaum Überlebenschancen. Tiere waren, nach den Vorstellungen der Philosophen, aufgrund ihres ausgeprägten Instinkts und eines wärmenden Fells, wesentlich besser geeignet sich in der Welt zu behaupten.
Zwar minderte die „mangelhafte Ausstattung“ die Überlebenschancen des Menschen, trieb sie jedoch gleichzeitig dazu an, eben diesen Mangel zu kompensieren. Seit jeher, besonders intensiv jedoch seit dem 19. Jahrhundert, wird das „Kompensationsgeschäft“ durch Technik bestimmt.

 

Kompensation durch Technik  

Gerard Ortín Castellvi zeigt uns mit seinen ruhigen Bildern eine der vorläufigen High Endstufen dieses globalen Kompensationsprojektes: die computerisierte Pflanzenproduktion. Riesige Schienenfahrzeuge gleiten sanft zwischen Tomatenstauden hindurch, Greifarme sortieren hauchzarte Pflanzenblättchen die sich zuvor auf Gummimatten trocken tanzen. Wir beobachten Maschinen, die mit einer ungeheuren Präzision arbeiten, wogegen die menschliche Hand, so kompliziert sie aufgebaut sein mag, wie ein stumpf gewordenes Messer wirkt.
Gefilmt wurde an vier verschiedenen Orten der Pflanzenproduktion in den Niederlanden. Die tanzenden Roboter pflanzen, pflegen, ernten und sortieren Rosen, Tomaten und Tulpen. Pflanzen also, die mittlerweile ebenso aus der „Fabrik“ kommen wie Autoreifen oder Kühlschränke. Mit einem Beet oder einer Wiese hat diese Produktionsform, ebenso wenig zu tun, wie mit Unkraut und Gießkanne. Dies zu beobachten hat etwas Faszinierendes und gleichzeitig wird klar, warum unsere perfekt designten Supermarkt-Tomaten kaum Geschmack haben und die Rosen und Tulpen fast nie duften. Technik hat ihren Preis.

 

Am Ende des Tages erscheinen in dem pinkfarbenen Licht das die Erträge in den Hallen steigern soll, schließlich jene Lebewesen, die jahrhundertelang als dem Menschen überlegen galten. Wir ahnen beziehungsweise hören zunächst ein Schnaufen und Gurgeln, Rascheln und Fiepen. Im rosafarbenen Nachtlicht verschwindet die Kühle des computerisierten Produktionsortes, betreten Alpaka, Ziegen und Schafe die Bühne. Die Tiere bewegen sich elegant und gemessen, so wie es tagsüber die Roboter taten, sie nehmen alles in Besitz.
Es sind schöne und tröstende Bilder mit denen wir die sterilen Hallen verlassen könnten.

 

 

Die Utopie der Gegenwart

Wenn es einen zentralen Zukunftsmythos im 20. Jahrhundert gab dann war es der, dass alle Probleme durch Technik lösbar wären. Vor allem in den Jahren nach 1945, im beginnenden Atom- und Weltraumzeitalter sorgte dieser Mythos für die Vision eines vollautomatischen Jahres 2000. Immer wieder kehrende Metaphern für die Zukunft der Arbeit waren, seit den 1960er Jahren, die Idee vom papierlosen Büro und der menschenleeren Fabrik.
Von Technikexpert*innen und Unternehmer*innen wurden euphorisch Szenarien entworfen, die die Fehlerquelle Mensch im Produktionsprozess ausschalten sollten.
Und bereits vor siebzig Jahren wurde prognostiziert, dass Rechner beziehungsweise Computer uns nicht nur die Arbeit, sondern auch Entscheidungen abnehmen werden. Das hieß damals wie heute, dass wir es über kurz oder lang mit „denkenden“ Maschinen zu tun haben werden.
Die menschenleere Fabrik: vor nicht einmal einer Generation galt das als Utopie, die von Unternehmer*innen belächelt und von den Gewerkschaften befürchtet wurde.
In Agrilogistics ist diese Utopie in Echtzeit zu bestaunen.

Das Programm der Berlinale Shorts bot schon immer einen mikroskopischen Blick auf unsere Gegenwart und deren gesellschaftliche Debatten: Postkolonialismus und Rassismus, Gendergerechtigkeit und Diversität, die vielen Definitionen der Liebe und das Gegenteil davon. So auch in diesem Jahr, wobei die Auswahl der Filme noch dichter an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Konfliktlinien entlang verläuft, als es in den letzten Jahren der Fall war, davon zeugen Themen wie der Umgang mit der NS-Vergangenheit im „Opferland“ Österreich (Dirndleschuld), die Visual-History des Krieges (Amintiri de pe Frontul de Est), Jugend in "gelenkten" Demokratien (Trap), Selbstermächtigung im Social Media-Rausch (By Flávio) und eben wie in Agrilogistics, die Gegenwart industrieller computerisierter Agrarproduktion.
 

Was fehlt, ist die lediglich eine größere Sichtbarkeit der Shorts auch nach dem Ende des Festivals. 

 

[1] Martina Heßler, Recht unzureichend konstruiert. Ideengeschichtliches zum fehlerhaften Menschen, in: Eurozine vom 12. November 2015. (zuletzt am 17.2.22)

 

 

Interview mit dem Regisseur Gerard Ortín Castellví im shortsblog:
Datenblatt der Berlinale zu Agrilogistics 
Der Film ist im Rahmen der Shorts noch am Sonntag (20.2.) um 15.30 Uhr im Cineplex Titania zu sehen