von Andreas Kötzing

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25. Februar 2023

Die ostdeutsche Filmgeschichte ist gut erforscht. Aber auch in der DEFA-Geschichte und den anderen filmischen Bereichen der DDR gibt es nach wie vor Lücken, vor allem was die internationalen Verflechtungen angeht. Dass es an der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" (HFF) in Babelsberg zum Beispiel eine Vielzahl von ausländischen Filmstudierenden gab, ist heute wenig bekannt. Mit Hilfe von Stipendien aus der DDR und der Unterstützung der kommunistischen Parteien oder Organisationen in ihren Heimatländern wurden die Studentinnen und Studenten an der HFF als Kameraleute oder Regisseur*innen ausgebildet. Meist kamen sie aus den sozialistischen „Bruderländern“, eher selten aus dem westlichen Ausland. Die Filme der ausländischen Studierenden sind im Archiv der HFF weitgehend erhalten geblieben und harren einer größeren Wiederentdeckung. Das ästhetische Potential der Filme und ihre thematische Bandbreit ist durchaus bemerkenswert, wie Ilka Brombach aufzeigt hat.[1] Mit "Oyoyo" (1980) von Chetna Vora und "Ein Herbst im Ländchen Bärwalde" (1983) von Gautam Bora waren auf der diesjährigen Berlinale zwei Filme von Studierenden aus Indien zu sehen, die beispielhaft deutlich machen, um was für eine spannende und ungewöhnliche Quelle es sich bei den Filmen handelt.

 

Von Indien nach Bärwalde

Gautam Bora, der heute als Politiker in Indien aktiv ist, studierte zwischen 1976 und 1983 in Babelsberg Filmregie. "Ein Herbst im Ländchen Bärwalde" war sein Diplomfilm. Für den etwa halbstündigen Dokumentarfilm begab sich Bora in das südbrandenburgische Dorf Bärwalde, um vor Ort das Leben der Menschen und ihre Arbeit zu beobachten. Der Film entspricht ganz dem Gestus anderer DEFA-Dokumentarfilme, in denen der DDR-Alltag in den Mittelpunkt rückt, erzählt am Beispiel einzelner Menschen. Im Zentrum von Boras Films steht die Familie Balke, die schon seit mehreren Generationen in der Landwirtschaft tätig ist – Großeltern, Eltern und die beiden jüngsten Söhne der Familie werden näher vorgestellt und zu ihrem Leben befragt. In "Ein Herbst im Ländchen Bärwalde" dominiert der optimistische Blick auf das dörfliche Leben, vor allem weil Bora im Kommentar wiederholt auf die wesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen und Lebensumstände in seiner Heimat verweist. Demgegenüber erscheint der Sozialismus in der DDR wie eine verheißungsvolle Zukunft, von der die Menschen in Indien nur träumen können. Kritische Nachfragen, etwa zu den Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft, meidet der Film. Politische Widersprüche deuten sich nur zwischen den Zeilen an, zum Beispiel wenn die Großeltern im Gespräch berichten, wieviel Land sie früher bewirtschaftet haben. Seine Stärken entfaltet der Film auf der individuellen, privaten Ebene. Hier merkt man deutlich die Ausbildung der "Babelsberger Schule", die Bora durchlaufen hat, denn wie viele andere DEFA-Dokumentarfilme besticht auch "Ein Herbst im Ländchen Bärwalde" durch die Offenheit der Protagonisten vor der Kamera. Beiläufig erzählt vor allem Gertrud Balke, die Mutter der Familie, wie ungleichmäßig die Hausarbeit verteilt ist und mit welcher doppelten Last die Frauen im Dorf leben müssen. Auch individuelle Sehnsüchte schimmern durch, etwa wenn Gertrud von ihrem Wunsch berichtet, nach längerer Zeit mal wieder in den Urlaub fahren zu können und ihr Mann dies ablehnt. Das utopische Bild einer besseren Welt, das der Film an der Oberfläche entwirft, wird durch die privaten Einblicke in den realen Alltag punktuell gebrochen.

 

Migrantisches Leben 

Ähnlich doppelbödig wirkt auch "Oyoyo" von Chetna Vora, die 1976 zum Studium nach Babelsberg kam. Ihr Diplomfilm beleuchtet die Lebenssituation von ausländischen Studierenden in der DDR, die gemeinsam in einem Wohnheim untergebracht sind. Vordergründig dominiert im Film der Impuls, die interkulturelle Vielfalt als fortschrittlichen Teil der sozialistischen Gesellschaft in der DDR zu zeigen. Aber auch hier schimmert durch, dass Ideal und Wirklichkeit mitunter sehr widersprüchlich waren. Bereits die erzwungene Gemeinschaft im Wohnheim macht deutlich, dass die ausländischen Studierenden eher unter sich blieben und offenbar wenig in das öffentliche Alltagsleben integriert waren. Die propagierte "Völkerfreundschaft" im Sozialismus hinterfragt Chetna Vora, indem sie die Studierenden selbst zu Wort kommen lässt und sie nicht nur nach ihren Eindrücken in der DDR, sondern gezielt nach ihrer Heimat und ihren Hoffnungen für die Zukunft befragt. Der Film ermöglicht so punktuell einen individuellen Blick auf migrantisches Leben in der DDR, jenseits staatlicher Idealvorstellungen. Auch in ästhetischer Hinsicht ist "Oyoyo" ein ungewöhnlich experimenteller Hochschulfilm, vor allem durch den Einsatz der Musik und die dynamische Kamera (Lars Barthel), die sich immer wieder nah an die Protagonisten heranbegibt, etwa beim gemeinsamen Kochen oder Musizieren.

Oyoyo, Land: DDR 1980, Regie: Chetna Vora, Sektion: Forum 2023 © Chetna Vora/Lars Barthel/Hochschule für Film und Fernsehen der DDR 1980

 

Eigene und fremde Blicke

Das besondere an beiden Filmen ist, wie stark sich fremde und eigene Wahrnehmungen beim Blick auf den DDR-Alltag vermischen.[2] Einerseits bedienen die Filme eine bestimmte politische Erwartungshaltung, die Teil der Ausbildung an der HFF war, anderseits eröffnet der migrantische Hintergrund der Regisseurinnen und Regisseure eine ungewöhnliche Perspektive auf das Leben in der DDR. Speziell in Oyoyo" spiegelt sich der eigene Blick ausländischer Studierender auf ihre Situation in der DDR. Das macht den Film zu einer interessanten Quelle, weil diese Perspektive in anderen DEFA-Dokumentarfilmen eher selten zu finden ist. Generell erscheint es vielversprechend, die Hochschulfilme der ausländischen HFF-Studierenden noch stärker in den Blick zu nehmen. Aber auch neben den Filmen, die einer vertieften Untersuchung bedürfen, wirft der Kontext ihrer Entstehung viele spannende Fragen auf. Wie wurden die Filme innerhalb und außerhalb der Hochschule rezipiert? Wie gestaltete sich dabei das Verhältnis zu den Studierenden aus der DDR? Und wie hat die Ausbildung an der HFF die weitere filmische Arbeit der Absolventinnen und Absolventen nach ihrer Rückkehr in die Heimat geprägt? Das Potential als Quelle für die weitere Forschung zum ostdeutschen Film und seiner internationalen Vernetzung ist zweifellos groß. Die geplante Digitalisierung der Filme schreitet hoffentlich schnell voran, damit sie auch wieder öffentlich gezeigt werden können.

 

 

Ein Herbst im Ländchen Bärwalde
von Gautam Bora, DDR 1983, Datenblatt der Berlinale mit sämtlichen Spielzeiten.
 

Oyoyo
von Chetna Bora, DDR 1980, Datenblatt der Berlinale mit sämtlichen Spielzeiten.
 

 


[1] Vgl. den Überblick von Ilka Brombach: Filme ausländischer Student*innen an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“. In: Deutschland Archiv Online, 31.08.2018.
[2] Vgl. zu beiden Filmen die ausführlichen Überlegungen von Fabian Tiedtke: Zwischen Befreitem Blick und erfüllten Erwartungen auf der Homepage des Kinos Arsenal, Februar 2023.