Die Meistererzählung zum Zusammenbruch der DDR bleibt auch nach 30 Jahren umkämpft. Unzweifelhaft spielten wirtschaftliche Kalamitäten, ebenso wie die Lage in der Sowjetunion, aber auch in Polen, eine Rolle. 2019 kam es zwischen Detlef Pollack und Ilko-Sascha Kowalczuk zu einer heftig ausgefochtenen öffentlichen Debatte um die Frage in welchem Verhältnis die breitere DDR-Bevölkerung zur politischen Oppositionsbewegung stand.
Lena Herenz‘ Artikel hat einen ziemlich raumgreifenden Titel „Die Zukunft der DDR?“. Der Text bearbeitet die DDR aber nicht aus der Vogelperspektive. Im Zentrum stehen stattdessen Zukunftsvorstellungen einer 9. Klasse im Jahr 1985.
Die recht spontan entstandenen Aufsätze der DDR-Teenager geben Kunde von jugendlichen Wünschen, Träumen und Zielen. Mithin informieren sie darüber, in welcher Form sich staatssozialistische Sinnstrukturen auf diese beinahe subalternen Gruppe auswirkten. So finden sich einerseits Wünsche, die viel älter waren als die DDR und noch bis heute Gültigkeit haben, schnelle Autos und Wohneigentum etwa. Die jungen Mädchen strebten, aller staatlich verordneten Emanzipation zum Trotz, klassisch „weibliche“ Berufe an: Verkäuferinnen, Schneiderinnen, Sekretärinnen wollten sie werden. Andererseits sah sich die Klasse durchaus in einen weltpolitischen Konflikt verstrickt. Ob am Ende die Kapitalisten alle „tot“ sein würden, oder die Menschen anders zur Vernunft gekommen sein sollten – einen erstrebenswerten globalen Frieden verknüpften die Schüler_innen direkt mit der Freiheit zu reisen. Auch im technizistischem Zukunftsoptimismus, so sollten einmal Computer und Maschinen den Reichtum sichern, finden sich in abgewandelter Form Residuen der staatssozialistischen Fortschrittsbehauptung. Die SED-Herrschaft selbst stellten die Schüler_innen ebenso wenig in Frage, wie sie sich ein eigenes aktiven Mitwirken an der Zukunftsgestaltung vorstellen konnten.
Es ist zu betonen, welch zentralen Platz die Zukunft in der DDR hatte. Sie wurde staatlicherseits nicht als Utopie gedacht, sondern als wissenschaftlich bestimmbarer Zeitpunkt und als sicheres Ergebnis gegenwärtiger Arbeit. Ein staatlich verordneter Optimismus, also ein auf die Zukunft gerichtetes Gefühl, zelebrierte man selbst dort, wo es grotesk wurde: Noch 1989 zogen zum Republikgeburtstag Kanonenhaubitzen zur Melodie von Dem Morgenrot entgegen vor der gerontokratisches Staatsführung durchs graue Ostberlin. Im Refrain des alten Arbeiterkampfliedes heißt es „Wir sind die junge Garde des Proletariats“.
Trägerin des Optimismus hatte in der DDR die Jugend zu sein. In den entwickelten Sozialismus hineingeboren sollte die Generation, die im Jahr 1985 zur Schule ging von seinen Idealen erfüllt sein. In den Schulaufsätzen, die Lena Herenz analysiert, beobachtet man stattdessen ein Hadern, Zweifeln und Zaudern mit der Realität der 1980er Jahre. Eine ideologische Erosion also, und zwar genau in der Gruppe, auf die in der DDR in besonderer Weise gesetzt wurde.
Der Text von Lena Herenz opfert die Präzision nicht zu Gunsten der Lesbarkeit. Basierend auf anspruchsvollen Arbeiten zu Zukunftsbezügen und deren Implementierung in der DDR bedient Lena Herenz sich souverän der neueren Forschung und wendet sie passgenau und in kompakter Form auf einen originell gewählten Quellenbestand an. Sichtbar wird so der Ausschnitt einer in Bewegung geratenen DDR-Gesellschaft; auf die die Wirkung von 40 Jahren Staatsozialismus nicht in 2-3 Sätzen zusammengefasst werden kann. Stattdessen zeichnet Lena Herenz mit wenig Platz das komplexe Bild von eigensinnig suchenden Jugendlichen in einem erodierenden Staat. Die alltäglich erlebten Widersprüche zwischen propagiertem Optimismus und moribunder Wirtschaft – sowie der Blick auf die immer funkelnde Alternative des Konsumkapitalismus werden im Text beinahe spürbar. Es waren, und hier erhält der Text größere Relevanz, diese Widersprüche, die auf den fortschreitenden Zerfall der DDR-Eigenerzählung hindeuteten: Der Fortschrittsheld Chronos hing 1985 bereits am Tropf.
Liebe Lena, lass mich dir auch ganz persönlich gratulieren. Wir sprachen ja bereits über deinen Text, den ich kannte und über den ich mit Leuten in meinem Umfeld diskutierte, bevor ich ihn mit dir als Person in Verbindung bringen konnte. Wenn kurze geschichtswissenschaftliche Texte in einer Form im Umlauf sind, dass man sie durch kulturelle Osmose wahrnimmt, dann ist das ein Erfolg. Fast ganz nebenbei ist dein Text auch ein weiteres Argument gegen die neuerdings wieder in die Debatte geworfene Behauptung, würden die DDR nur als Diktatur wahrnehmen und den Alltag der breiten Bevölkerung ignorieren. Dein Beitrag hingegen reiht sich in die Tradition der Forschung ein, die zeigt, dass Diktatur und Alltag auf komplizierte Art und Weise miteinander verknüpft waren und nicht getrennt voneinander zu betrachten sind.
Abschließend erinnert uns Lena Herenz‘ Artikel daran, dass auch Schüler_innen über die Gesellschaft in der sie leben nachdenken und dass es konstruktiv sein kann ihnen zuzuhören und sie als fühlende Seismographen für Krisen zu verstehen, die gesamtgesellschaftlich noch verdrängt werden können. Das gilt, so meine ich, auch heutzutage und vielleicht sogar an Freitagen.