Warum gibt es kaum deutsche Vampire? Eigentlich hätte Murnaus Nosferatu (1922) eine deutsche Kino-Tradition begründen können, doch vernichteten die Nazis große Teile der kineastischen Kreativität in Babelsberg. Knapp ein Jahrhundert nach Murnaus Klassiker lassen sich nun zwar unzählige Vampir-Filme ausmachen, doch entstanden die allermeisten – wie die neuerliche Nosferatu-Verfilmung von Robert Eggers – in den USA. Dabei zeigt Hans W. Geißendörfers Debüt Jonathan (1970), die 2025 als Teil der Berlinale-Retrospektive gezeigt wurde, dass insbesondere die postfaschistische Bundesrepublik Stoff für Horror-Filme bot.
Für den deutschen Film unkonventionell orientiert sich der Plot in Jonathan an den Konventionen des britischen Vampir-Horrors: In früheren Zeiten (diffus irgendwann zwischen dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit) plagt ein vampirischer Graf einen namenlosen Landstreifen. Doch die Bewohner organisieren sich, sammeln Informationen und planen letztlich den Umsturz. Das Publikum begleitet den Späher Jonathan auf seinem ereignisreichen Weg zum Schloss der Vampire, wo später auch der blutige Showdown zwischen den Aufständischen und der herrschenden Nobilität stattfindet.
Jonathan ist dabei ganz Produkt seiner Zeit. Das gilt zunächst für die formale Ebene: Geißendörfer war zwar kein großer Fan der Horror-Filme der 1960er-Jahre, aber arbeitete sich vorm Schreiben schnell in den Stoff – man denke vor allem an diverse Hammer-Filme mit Christopher Lee – ein.[1]
Gleichzeitig schwimmt die Kamera auf der Nouvelle Vague: Der Film kommt mit sehr wenigen Schnitten und beinahe ohne Nahaufnahmen aus. Viele Aufnahmen aus der Totalen, lange Kamerafahrten und sogar langsame Rotationen wirken dabei zwar mitunter naiv, aber sind mit viel Aufwand ausgeführt und ziemlich effektiv. Bei der Geschwindigkeit, nach der heute Filme geschossen werden, wird das für Manche langweilig wirken, doch schafft die Kamera eben auch eine Schwere und rituelle Atmosphäre, die hervorragend zum Plot passt. Einen anachronistischen Spaß erlaubt sich Geißendörfer hingegen mit dem Soundtrack, wenn er etwa zeitgenössische romantische Musik über eine Vampir-Attacke legt und dem Zuschauer damit mit einem Einblick in die Menschlichkeit der Untoten provoziert.
Die Story trieft dabei vor Anspielungen auf ‚68‘.[2] Jonathan ist Agent und jugendlicher Revolutionär, die unpolitischen Dorfbewohner sind eine durch Unterdrückung brutalisierte Schicht und die vampireske Aristokratie ist die, nun ja, kapitalistische Aristokratie. Geißendörfer selbst, so erklärt er im Bonus-Material auf der DVD, war im Umkreis des Club Voltaire unterwegs und engagierte für sein filmisches Vehikel linker Ideen und stellte dann auch Mitglieder des SDS als Komparsen an (die sich schnell über die Arbeitsbedingungen beschwerten).[3] An die Ablehnung des Muffs von tausend Jahren muss man auch denken, als dem Gast Jonathan einige Zimmer im Vampir-Schloss verboten werden. „Bestimmte Türen bleiben verschlossen,“ kommandiert der, habituell an Hitler erinnernde, Graf und verweist damit auf Aspekte der deutschen Nachkriegsgesellschaft über die die Jugend schweigen sollte. Spannenderweise endet der Film dann aber nicht im totalen Triumph (der Revolution), sondern bleibt ambivalent. Geißendörfer bietet Lesarten an, die es sowohl möglich machen, Mitleid mit den Vampiren zu haben und hinterfragt auch die Gewaltanwendung der Dorfbewohner. Gewalt ist im Film zwar durchaus notwendig, aber sie hinterlässt eben auch bei Gewalttätern Narben. Insofern kommentiert Jonathan hier gewissermaßen bereits die RAF: Der Film kam nur einen Tag nach der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader in die Kinos der Bundesrepublik.
Die Schlichtheit der vielen Allegorien wirkt sich nicht negativ auf den Filmgenuss aus. Dieser 68er Horror-Film macht schon allein deswegen Spaß, weil er so ungewöhnlich ist. Unbedingt erwähnenswert ist außerdem Theater-Veteran Paul Albert Krumm, der als Graf eine vielschichtige Performance liefert und sehr positiv heraussticht. Viel geblieben ist von Jonathan insgesamt aber nicht: Zwar gewann Geißendörfer den Bundesfilmpreis und der Film war auch an den westdeutschen Kinokassen ein Erfolg – wenn auch in einer unabgesprochenen und politisch neutralisierten Schnittfassung. Der Regisseur blieb dem Horror nicht verpflichtet und war kein Freund der deutschen Förderstrukturen, die Genre-Filme verunmöglichen.[4] Geißendörfer sah seine Chancen also letztlich nicht im Kino, sondern im Fernsehen. Er erfand und produzierte die Dauerserie Lindenstraße. Diese habe ich zwar nie gesehen, aber einen zweiten Vampir-Film Geißendörfers hätte ich wahrscheinlich bevorzugt.
[1] Wolf Donner, Dracula im Bayerischen Wald, in: Die Zeit, 15.05.1970, S. 14.
[2] Lindays Hallam, The Euro-Vampire, in: Simon Bacon (Hg.), The Palgrave Handbook of the Vampire, Cham 2024, S. 485–505, hier S. 500.
[3] Vgl. (= Filmclub), SWR, 03.08.1969.
[4] Wolf Donner, Schöne Rituale, in: Die Zeit, 30.10.1970, S. 31.