von Anja Schröter, Clemens Villinger

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18. März 2019

 

Wer die lange Geschichte der „Wende“ und den Zusammenhang von Lebenswelt und Systemwechsel erforschen will, sieht sich mit einer Zweiteilung der Quellenüberlieferung konfrontiert. Während für die Phase bis 1989 und auch die Epochenzäsur 1989/90 häufig klassische Archivakten bereitstehen, ist die Überlieferung für die Zeit danach überwiegend von den Forschungsdaten der Sozialwissenschaften geprägt. Es ist also interdisziplinäres Arbeiten gefragt. Dabei geht es nicht nur um die geschichtswissenschaftliche Nutzung und Interpretation „fachfremder“ Quellen oder den Rückgriff auf Methoden anderer Disziplinen, sondern auch um die Weiterentwicklung von Methoden gemeinsam mit Wissenschaftler*innen anderer Fachrichtungen. Drei Szenarien seien hier skizziert.

 

Der IBIS-Bestand und die Frage nach der lokalen politischen Partizipation

Das Leben in der Stadt und ihre Gestaltung als Wohnumfeld sind zentrale Themen des Alltags und zugleich Felder, die Anlass gaben, sich vor Ort in den politischen Willensbildungsprozess einzubringen. Das galt in Ostdeutschland nicht nur während des unmittelbaren Umbruchs 1989/90 und danach unter demokratischen Bedingungen, sondern bereits in den letzten Jahren der DDR. Um das Engagement zu unterstützen, wurde 1990 das am Runden Tisch des DDR-Bauministeriums initiierte „Informations- und Beratungszentrum für Bürgernahe Stadterneuerung“ (IBIS) eingerichtet. Die IBIS-Mitglieder*innen waren nicht nur beratend und vernetzend, sondern auch forschend tätig. In qualitativen Interviews befragten sie Initiativen in der Stadterneuerung, die teilweise bereits vor 1989 aktiv waren, zu ihrer Geschichte, ihren Akteur*innen, Motiven, Aktionen und Erfolgen. Der Entstehungshintergrund des IBIS und seine Arbeit sind im Robert-Havemann-Archiv[1] dokumentiert. So orientierte sich die bereits 1992 beendete Befragung an stadtsoziologischen und stadtplanerischen Methoden und fragte etwa nach den sozialstrukturellen Funktionen der Bürgerinitiativen. Die Sekundäranalyse der IBIS-Unterlagen und die Weiterverfolgung ausgewählter Initiativen[2] mittels Oral-History-Interviews und Archivrecherchen zeigt etwa, wie sich die Grenzen des Sag- und Machbaren schon in den 1980er Jahren verschoben. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich Politikvorstellungen in der DDR-Bevölkerung bereits Mitte der 1980er-Jahre wandelten, Demokratisierungstendenzen entstanden und dies prägend für die Art des politischen Engagements im unmittelbaren Umbruch und im Ostdeutschland der Berliner Republik war.

 

Konsum in den Interviews der „Wurzen-Studie“

Während die IBIS-Mitglieder*innen ihr Material eigeninitiativ ins Archiv gaben, dokumentierten andere Wissenschaftler*innen ihre Forschungsdaten selbst: Die Soziologin Dr. Cordia Schlegelmilch untersuchte bereits Anfang der 1990er-Jahre die lebensweltlichen Auswirkungen des Umbruchs auf die Gesellschaft der sächsischen Kleinstadt Wurzen. Mit finanziellen Förderungen durch Institutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft entstand in jahrzehntelanger wissenschaftlicher Arbeit und unter hohem persönlichen Einsatz eine einzigartige Sammlung von Dokumenten, Interviews und Publikationen, die hervorragende Einblicke zum Thema Konsum in der langen Geschichte der „Wende“ bietet.
So zeigen die Interviews, wie sich die Wurzener vor 1989 Alltagswissen über Konsum in der Bundesrepublik aneigneten und welche Erwartungen an die Einheit daraus erwuchsen. Die Interviews abzugeben, hieße auch die Deutungshoheit und Teile eines Forscherinnenlebens loszulassen. Obwohl Zweitauswertungen nicht auf eine Kritik der ersten Analysen abzielen, sind sie mit einem retrospektiven Blick auf den ursprünglichen Forschungsprozess verbunden. Anders als in der Publikation werden neben Arbeitsaufwand und innovativen Ansätzen der Arbeiten auch die häufig notwendigen pragmatisch-methodischen Abkürzungen und forschungspraktischen Kompromisse sichtbar. Der Zugang zu diesen Daten ist somit anders als bei einem Archivbesuch erheblich von Sympathie und Vertrauen zwischen zwei Forscherpersönlichkeiten abhängig und bedarf zeitintensiver Vorgespräche. Der Erkenntnisgewinn indes ist groß.

 

Historisches Arbeiten mit dem SOEP

Völlig anders als bei der qualitativen Sekundäranalyse sieht die Situation im Fall des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)[3] aus. Seit 1990 werden im Rahmen dieser statistischen Untersuchung Millionen von Mikrodatensätzen über ostdeutsche Familien erhoben, im Archiv gespeichert und anonymisiert für wissenschaftliche Forschungen zugänglich gemacht. Die darin verborgenen Geschichten des Umbruchs und des Wandels der ostdeutschen Gesellschaft sind für Historiker*innen jedoch nicht ohne weiteres rekonstruierbar. Schließlich ist der bereitgestellten komprimierten Form der Daten bereits eine Bearbeitung – wir würden sagen: Interpretation – durch die SOEP-Mitarbeiter*innen vorausgegangen. Das Zurechtfinden in den Beständen sozialwissenschaftlicher Archive sowie die Auswertung oder Interpretation der Daten gehören heute meist nicht zu den Fähigkeiten von (überwiegend kulturhistorisch ausgebildeten) Historiker*innen. Neben dem aufwendigen Erarbeiten dieser methodischen Kenntnisse gilt es, auch die sozialwissenschaftlichen Deutungen zu kontextualisieren. Wie lässt sich zum Beispiel eine Untersuchung des SOEP historisch interpretieren, die zu dem Ergebnis kommt, dass Teile der ostdeutschen Bevölkerung aufgrund ihrer Erfahrungen in der DDR in den Jahren vor ihrem Tod über weniger „Lebenszufriedenheit“ verfügten als Westdeutsche?[4]

Trotz dieser Herausforderungen ergeben sich vielfältige Forschungsmöglichkeiten. Für Historiker*innen sind zum Beispiel die Fragebögen selbst interessant. So wurde der 1990 speziell für Ostdeutschland entwickelte Fragebogen bis 1996 erst schrittweise an das westdeutsche Vorbild angepasst. Fragen wie nach Restitutionsansprüchen durch Alt-Eigentümer oder zum Einkommen aus dem privaten Gemüseverkauf entfielen nach und nach.

 

Potentiale zur Methodenentwicklung

Möglich ist in Zusammenarbeit mit dem SOEP auch die methodische Weiterentwicklung im Sinne einer Verbindung von Ergebnissen aus der qualitativen historischen Arbeit und den quantitativen Datenreihen des SOEP. Hierfür wurde beispielsweise ein eigener Fragebogen entwickelt, der bei Oral-History-Interviews eingesetzt wird, um die dabei erhobenen Informationen mit den SOEP-Daten vergleichbar zu machen.
Als gewinnbringend erwies sich zudem die interdisziplinäre und gleichzeitig transnationale Zusammenarbeit mit einer Wissenschaftlerin vom Polish Panel Survey (POLPAN). Ein Ergebnis der gemeinsamen Arbeit war die Identifikation von sogenannten „Geschwistern“ in den Mikrodatensätzen des SOEP. Gemeint sind damit SOEP-Befragte, die ähnliche Merkmale aufweisen, wie etwa einige im Rahmen einer Untersuchung zur Schule im Umbruch interviewte Personen. Dieses Verfahren eröffnet einen wichtigen Forschungsansatz zur Vergleichbarkeit von qualitativen und quantitativen Daten.
Die ersten Ergebnisse verdeutlichen, dass die Arbeit mit qualitativen und quantitativen Forschungsdaten und die Zusammenarbeit mit den an ihrer Erhebung beteiligten Wissenschaftler*innen aus anderen Disziplinen sich in vielfacher Hinsicht als fruchtbar für eine zeithistorische Betrachtung des Transformationsprozesses in einer langfristigen Perspektive erweist.

 


[1] Informationen zum Informations- und Beratungsinstitut für Bürgernahe Stadterneuerung IBIS-Bestand [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[2] Dessau, Prenzlauer Berg und den nordostdeutschen Raum (wie Rostock, Greifswald, Schwerin) sowie Erfurt als Kontrastfolie.
[3] Webseite des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[4] Vgl. Denis Gerstorf/ Gert G. Wagner, Lebenszufriedenheit am Ende des Lebens in Ost- und Westdeutschland: Die DDR wirft einen langen Schatten, in: SOEP papers 320, S. 1-10.