Flea markets in Berlin-Kreuzberg Germany, Tilla-Durieux-Park, Polenmarkt December 1989, author: Aad van der Drift; Wikimedia Commons; CC-BY-2.0 (Bild bearbeitet).
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Flea markets in Berlin-Kreuzberg Germany, Tilla-Durieux-Park, "Polenmarkt" December 1989, author: Aad van der Drift; Wikimedia Commons; CC-BY-2.0 (Bild bearbeitet).

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Denker, Flaneur, Archäologe

Zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Karl Schlögel

Als ich 1990 meinen Professor für Osteuropäische Geschichte in Hamburg fragte, welche Universität er mir für mein Hauptstudium empfehlen würde, antwortete er ohne zu zögern, Bielefeld oder Konstanz. Im Nachhinein scheinen beide Antworten erstaunlich, empfahl mir der als rechts-konservativ geltende Ordinarius doch die Hochburg der Sozialgeschichte – oder Konstanz. Ich hatte keine Ahnung, wer oder was mich im Süden der Republik erwarten würde, entschied mich aber aufgrund der „exotischen Lage“ für die Stadt am Bodensee. Als ich dann das erste Mal die Vorlesung von Karl Schlögel, der 1990 frisch hierher berufen worden war, besuchte, war er das genaue Gegenteil des Hamburger Professors: Hatte der aus seiner Vorlesung eine Multimedia-Show gemacht, stand mit Karl Schlögel ein in sich gekehrter Denker vor mir, der nur die Kraft seiner Gedanken wirken ließ. Seine Veranstaltungen waren Einladungen, sich mit ihm gemeinsam in die Geschichte vorzutasten, sich in die Lage historischer Akteure hineinzuversetzen, sich auf deren Gedanken einzulassen, mit ihren Augen die Welt zu betrachten. Wir waren weniger seine Schüler*innen, als Gefährt*innen auf seiner Reise in die Vergangenheit. Dabei ging es weder um ein naives Sich-Hineinversetzen, noch um eine Glorifizierung der Vergangenheit, sondern um das Ausloten und Ermessen dessen, was Menschen zu anderen Zeiten an anderen Orten antrieb, begeisterte oder in den Abgrund riss. Es war kein Zufall, dass Karl Schlögel gleich zu Anfang einen Lektürekurs zu Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ anbot. Dabei stand nicht nur im Zentrum, die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen für den Stalinismus zu begreifen. Ebenso ausführlich diskutierten wir, was Arendts berühmtes Zitat „Denken ohne Geländer“ bedeutete: sich nicht nur keiner Denkschule anzuschließen, sondern so gut es geht von Vormeinungen, Denkmustern, etabliertem Wissen und bequemen Wahrheiten freizumachen, um das Neue, Unbekannte, Fremde ungefiltert auf sich wirken zu lassen und es so adäquat wie möglich aus sich selbst heraus beschreiben zu können. Das „Denken ohne Geländer“, sich ohne – überflüssige – Theoriebildung und Formeln auf die Vergangenheit einzulassen, sie weniger als Objekt, denn als terra inkognita zu begreifen, von der wir nicht wissen, welche „Ausrüstung“ wir brauchen, um in ihr zu bestehen, das eigene Scheitern und Überwältigt-Werden als Möglichkeit zuzulassen und sich dagegen nicht mit „doppelten Boden“ abzusichern, war und ist zweifelsohne die Art, wie Karl Schlögel Geschichte betreibt, uns unterrichtete und seine Bücher schreibt.

 

Der Flaneur

Zu Hannah Arendt gesellte sich schnell eine andere zentrale Figur: der Flaneur bei Walter Benjamin. Er ist das Pendant zum „Denken ohne Geländer“, der Spaziergänger, der in eine Stadt eintaucht, unvoreingenommen durch deren Straßen streift, Eindrücke in sich einsaugt und sich von ihr gefangen nehmen lässt. Wie Benjamin, der nach Moskau reiste, um die Metropole des sozialistischen Experiments selbst zu sehen, war und ist es Karl Schlögels Leidenschaft, Städte zu erlaufen, sie auf sich wirken zu lassen und sie aus sich heraus zu beschreiben. Als moderne Kulturlandschaften per se erkundete Karl Schlögel in ihnen die Höhenflüge und Abgründe des industriellen Zeitalters. „Moskau lesen“ (1984) war in dieser Hinsicht Programm: Er sah und sieht in gebautem Raum nicht kunsthistorische Architekturgeschichte, sondern die Menschen und ihre Schicksale, die diese Steinlandschaften schufen, in ihnen lebten und untergingen. Wer „sehen“ und „lesen“ kann, braucht nur durch Moskau zu schreiten, die Gebäude, Magistralen und Plätze zu entziffern, und erhält die sowjetische Prunk- und Gewaltgeschichte. Karl Schlögels Büchern merkt man bis heute die ungebremste Faszination für menschliche Werke und Entwicklungen an; nie versucht er, wissenschaftliche Leidenschaft zu bremsen. Sehr deutlich wurde und wird das auch in seinem zweiten großen Städtebuch „Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909-1921“ (1988). Darin stand die Rolle der Intellektuellen für die Moderne im Zentrum: ihre hehren Ideen und grandiosen Visionen, die entweder an bornierten Machthabern oder an den gewalttätigen Massen oder an beiden scheitern. Es folgten weitere programmatische Bücher wie „Das Wunder von Nishnij oder Die Rückkehr der Städte“ (1991), wunderschön bibliophil in der „Anderen Bibliothek“ bei Eichborn herausgegeben, ein Buch, das den Gouverneur von Nischnij Nowgorod (1991-1997), Boris Nemtzow, beim ersten Zusammentreffen mit Karl Schlögel zu dem Kommentar verleitete, ob er der „Verrückte“ sei, der ein Buch über seine Stadt geschrieben hätte.

 

Go East! Go West!

Doch Karl Schlögel war und ist keineswegs „verrückt“, sondern nur darin geübt, jenseits der ausgetrampelten Pfade – und Metropolen – sich anbahnende Entwicklungen, neue Phänomene und Schatten sich anbahnender großer Ereignisse wahrzunehmen. So fasziniert, wie er von Pionieren, Ingenieuren, Baumeistern, Argonauten und all jenen ist, die sich auf unbekanntes Terrain begeben, so spürt er selbst dem Neuen, Anderen, Unbekannten nach. Welche weitreichenden Erschütterungen unserer Wahrnehmung Europas und welche neuen Wanderungsbewegungen der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion auslösten, beschrieb er u.a. in „Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens“ (1995). Dabei faszinierten ihn die Trucker an den Autobahnraststätten und Zollhöfen, die nun ungehindert in langen Konvois Waren von Ost nach West und zurück brachten, genauso wie der „Polenmarkt“ in Berlin. Es war nur konsequent, dass Karl Schlögel 1995 nach Frankfurt/Oder ins Zentrum der neuen Nomaden- und Migrationsbewegungen wechselte. Kurz zuvor hatte er noch ein großes Forschungsprojekt zur Westbewegung, nämlich der russischen Emigration nach 1917 nach Berlin als „Ostbahnhof Europas“ begonnen. Auch hier stand im Mittelpunkt, wie nah einstiger aristokratischer Glanz und sozialer Absturz beieinander lagen, wie der Triumph der Bolschewiki den Untergang und Exodus von Bürgertum und Gelehrten zur Folge hatte. Die Konferenz in Konstanz leitete Karl Schlögel mit den Worten ein, er habe nicht verstehen können, wie ein russischer Emigrant, der Heimat, Vermögen und soziale Stellung verloren hatte, aus Konstanz schreiben konnte, wie sehr er unter den Mücken leide, bis er selbst nach Konstanz gekommen und die sommerliche Mückenplage am eigenen Leib erfahren habe.

 

Der Archäologe

Die Beschäftigung mit untergegangenen Imperien, sowohl des Zarenreichs 1917 als auch der Sowjetunion 1991, brachte Karl Schlögel früh dazu, sich mit den Artefakten zu befassen, die diese Welten übrigließen und die wie Treibgut nach einem Schiffbruch an der Oberfläche trieben. Die Vorstellung, dass der Historiker wie ein Archäologe die Zeitschichten abträgt, um an untergegangene Welten zu gelangen, entspricht dem „Denken ohne Geländer“: das „Eigentliche“ freizulegen, um darin unvoreingenommen zu lesen. So wie Städte seine Archive sind, benutzt Karl Schlögel Gegenstände vom Trödelmarkt, Museumsexponate und Grabungsfunde, um sie nach ihren Schöpfern, deren Glanzzeiten und Niedergang zu befragen. So stieß er auch auf die unglaubliche Geschichte des Parfums Chanel Nr. 5, das einst in Russland von einem Franzosen kreiert als „Bouquet Catherine II.“ der Zarenfamilie 1913 zum dreihundertjährigen Jubiläum der Romanov-Dynastie überreicht worden war, in Sowjetrussland als „Rotes Moskau“ vertrieben wurde und mit dem emigrierten Parfümier nach Frankreich gelangte, wo es als Chanel Nr. 5 Parfumgeschichte schrieb. Wenn Karl Schlögel solche Geschichten „freilegt“, geht es ihm nicht um den Effekt der Sensation. Vielmehr funktioniert das Parfum als Prisma, in dem die Geschichte von Blüte, Niedergang und Aufstieg zweier Imperien verbunden mit dem Schicksal einer Seifenfabrik und seiner Angestellten wie in einem Flacon verdichtet sind.

 

Der Schock

Obwohl sich Karl Schlögel immer auch mit den menschlichen Abgründen, den gewalttätigen Begleiterscheinungen des Untergangs von Imperien, der russischen Revolution 1917 und dem folgenden Bürgerkrieg, sowie dem Großen Terror 1937/38 beschäftigt hat, standen im Mittelpunkt doch immer der Aufbruch in neue Welten, begeisternde Ideen und Visionen, die Glanzleistungen der Technik, Architektur und Kunst. Umso größer war der Schock, als Russland 2014 die Ukraine angriff, indem es die Krim annektierte und im Donbass einen Krieg begann. Galt doch bis dahin, dass sich die Sowjetunion im Unterschied zu Jugoslawien friedlich aufgelöst und Russland alle vierzehn Sowjetrepubliken nahezu gewaltlos hätte ziehen lassen. Karl Schlögel war ein Jahr zuvor emeritiert worden und machte sich noch mal neu auf, um die Ukraine als „Flaneur“ zu erfahren und diese Katastrophe des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Dazu schrieb er nicht nur „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ (2015), sondern auch zusammen mit Irina Scherbakowa „Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise“ (2015) über die intime bis pathologische Beziehung Deutschlands zu Russland. War er schon immer als Publizist tätig und in den Feuilletons präsent, ist er seit dem Vollangriff auf die Ukraine 2022 in zahlreichen Fernsehformaten unterwegs, um der „Putin-Folkloristik“ ein Ende zu bereiten und das verklärte Zerrbild vom in die Enge gedrängten, von der NATO bedrohten Russland als Lügenpropaganda des Kremls zu entlarven. Es ist für einen Osteuropa-Historiker bitter, mit Russland ein Land, das im 20. Jahrhundert den Fall zweier Imperien durchlebte, das in Kunst und Kultur ebenso Maßstäbe setzte, wie es die Zäsuren der Zeitgeschichte diktierte, das Menschenmassen mobilisierte und massenhaft ermordete, wieder in einer kriegsbringenden Diktatur versinken zu sehen. Gleichwohl finden sich trotz des Vernichtungskrieg Russlands in der Ukraine Momente des Aufbruchs und der Visionen, vollzieht sich vor den Augen des Historikers die ukrainische Nationswerdung, zeigt sich, wie der europäische Gedanke ein Land und seine Menschen beseelen kann, wie eine funktionierende Zivilgesellschaft einem zahlenmäßig überlegenen Aggressor die Stirn bieten kann. „Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang“, „Die zweite Entdeckung des Ostens“, „Das Wunder von [nicht mehr Nishnij, sondern] Kiyv“ sind alles Titel, die Karl Schlögel bereits geschrieben hat und heute für die Ukraine noch einmal neu gelten.

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Zitation

Susanne Schattenberg, Denker, Flaneur, Archäologe. Zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Karl Schlögel , in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/denker-flaneur-archaeologe