von René Schlott

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2. Oktober 2023

Die mediale Berichterstattung zur neuen Debatte um die DDR und ihre Nachgeschichte fokussiert sich nahezu ausschließlich auf die Bücher von Dirk Oschmann und Katja Hoyer. Andere Neuerscheinungen zur DDR-Geschichte stehen in deren Schatten und finden weniger Beachtung, obwohl sie der oft schwarz-weiß geführten Debatte um Diktatur und unbeschwerten Alltag wichtige Impulse verleihen und sie um manche Ambivalenz und Differenzierung bereichern könnten.

Zu diesen Neuerscheinungen gehört das im Februar dieses Jahres erschienene Buch „Nackt in die DDR“ von Aron Boks, das den Untertitel „Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat“ trägt. Boks, 1997 in Wernigerode geboren, ist Autor mehrerer Bücher, Slam Poet und taz-Journalist und der ist ein Urgroßneffe des Malers Willi Sitte (1921-2013), der in der DDR als Künstler und Kulturfunktionär wirkte.

Boks unternimmt in seinem Buch eine biographische Annäherung an seinen berühmten Urgroßonkel, der vielen bis heute als „DDR-Staatsmaler“ gilt, im SED-Staat aber zeitweise unter „Formalismus“-Verdacht geriet, sich daraufhin öffentlich rechtfertigen musste und bis heute vor allem für seine großflächige Darstellung nackter, fleischiger Männer und Frauen bekannt ist.

Der 26jährige Boks ist der Jüngste unter den ostdeutschen Autor*innen zur DDR-Geschichte: Oschmann ist Jahrgang 1967, Hoyer Jahrgang 1985. Deshalb weist sein Buch am ehesten in die Zukunft der Erinnerungsgeschichte, denn es zeigt, wie sich die „Nachgeborenen“ die Historie des untergegangenen Landes aneignen, das sie selbst nie erlebt haben und allenfalls aus Erzählungen kennen. In einem FAZ-Interview erklärte die Schriftstellerin Charlotte Gneuß, Jahrgang 1992, gerade zu den Vorwürfen zu „Gittersee“: „Vielleicht wird es irgendwann heißen: 2023, das war das Jahr, als die Kinder und Enkel begannen, Fragen zu stellen, die ihre Vorgänger nicht fragen wollten oder konnten.“ Darum geht es auch bei Aron Boks: Fragen zu stellen. Rezensent*innen lobten sein Buch über die DDR-Erinnerung als Ausdruck dafür, dass die „nachfolgenden Generationen an dieser Erzählung mitschreiben wollen“ (FAZ) und dabei Raum für die Ambivalenzen zwischen Kunst und Macht, zwischen Alltag und Diktatur bliebe, wie Marlen Hobrack im „Freitag“ pointiert festhielt: „Diese kognitive Dissonanz auszuhalten, die Spannung nicht aufzulösen in Richtung eines Urteils, fällt der jüngeren Generation womöglich um einiges leichter.“

Ich treffe Aron Boks am 12. Juli im Garten des Literaturhauses Berlin. Er kommt aus Kalbe angereist, wo er mit einem Künstlerstipendium des Landes Sachsen-Anhalt für einige Monate wohnt.

 

René Schlott (R.S.) Herr Boks, haben Sie schon die Bücher von Dirk Oschmann und Katja Hoyer gelesen?

Aron Boks (A.B.) Ich habe mir das Buch von Oschmann gekauft, gelesen habe ich es aber noch nicht.

R.S. Warum nicht?

A.B.Ich habe es irgendwie noch nicht geschafft. Da steckt nichts Besonderes dahinter. Aber ich werde das oft gefragt.

R.S. Nervt Sie das?

A.B. Nein, das nervt mich gar nicht. Ich wünschte, ich könnte mehr zu der Diskussion um Oschmanns Buch beitragen. Aber, ich habe es ja noch nicht gelesen.

R.S. Und was ist mit dem Buch von Katja Hoyer?

A.B. Über das Buch habe ich mir eine Sendung im Radio angehört und da reizt mich der Zugang zu dem Thema mehr als bei Oschmann. Diese Beschreibung von Alltag finde ich ganz zentral. Und deswegen interessiert mich das eher.

R.S. Aber die meisten Besprechungen, haben das Buch doch verrissen.

A.B. Also ich kenne nur eine Sendung, in der sie sich selbst geäußert hat. Das war mir sehr sympathisch.

R.S. Und würden Sie beide gerne einmal treffen?

A.B.Ja, das würde ich sehr spannend finden. Vor allem würde mich interessieren, wie die beiden selbst ihren Zugang zum Thema DDR beschreiben. Und was sie jetzt, nachdem Sie das Buch geschrieben haben, interessiert, was sich nach dem Schreibprozeß vielleicht weiter konkretisiert hat.

R.S. Was hat sich da bei Ihnen konkretisiert, nach dem das Buch geschrieben war?

A.B. Ich glaube, diese Frage, was das ganze Thema mit mir zu tun hat, die habe ich noch nicht abschließend beantwortet und der gehe ich weiter nach.

R.S. Aber nach der Lektüre des Buches ist doch klar, dass die DDR ein Teil ihrer Familiengeschichte ist.

A.B. Aber ich will immer noch verstehen, was das eigentlich heißt, etwa in soziologischer oder kultureller Hinsicht. Das ist die Frage und die würde ich auch offenlassen. Vielleicht finde ich auch gar keine Antwort darauf. Aber allein die Frage zu stellen, führt ja sehr oft zu neuen Sichtweisen und Perspektiven.

R.S. Sie sagen ja selbst von sich, dass Sie Ostdeutscher sind. Aber dann ist doch klar, dass das etwas mit Ihnen zu tun hat.

A.B. Ja, aber was genau? Klar, ich bin auf dem Gebiet der ehemaligen DDR geboren und großgeworden. Meine Eltern sind in der DDR aufgewachsen und haben die Wiedervereinigung erlebt. Heute lebe ich in Berlin, einer einst geteilten Stadt. All das hat etwas mit mir und meiner Identität zu tun.

R.S. Aber man könnte ja auch sagen, dass Sie Sachsen-Anhalter oder Anhaltiner sind.

A.B. Ja. Dennoch sehe ich bei allen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten, Überschneidungen mit anderen Menschen aus Brandenburg, Sachsen und Thüringen und so weiter als Ostdeutsche. Es gibt eine gemeinsame Prägung durch Erfahrungen. Allerdings gibt es genauso Überschneidungen mit Leuten im Westen. West- und Ostdeutsche, das sind nicht zwei unterschiedliche "Völker" für mich. Es gibt eben gewisse Dinge, die relativ ähnlich getaktet sind: die Konflikte mit den Eltern als Heranwachsender, der Umzug für das Studium in eine größere Stadt und die eher linke Einstellung als Studierender. Das sind ja ähnliche Geschichten und ähnliche Prägungen in Ost wie in West. Allerdings erkennt man sich auch heute noch gegenseitig als Ostdeutsche, auch wenn das eher ein Gefühl ist, das ich gar nicht so genau erklären kann. Bis das vorüber ist, dauert es vielleicht noch eine Generation.

R.S. Aber sie gehören doch schon zu einer Generation, die die DDR und die frühen 1990er Jahre nicht erlebt hat. Meine Vermutung wäre gewesen, dass die Kategorien Ost und West für Sie keine so große Rolle mehr spielen. Würden Sie sagen, dass Sie zum Beispiel mit Lukas Rietzschel (1994 in Sachsen geboren) mehr gemeinsam haben als mit ihrer Freundin und Arbeitskollegin Ruth, die aus Westdeutschland kommt und mit der Sie in Ihrem Buch ja einen Konflikt über die heutige Darstellung der DDR haben?

A.B. Nein, nicht mehr und nicht weniger. Aber es geht darum, dass es einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund gibt. Lukas ist zum Beispiel ein ganz anderer Typ als ich. Aber wenn wir über gewisse Erlebnisse in unserer Kindheit reden und wie wir sie wahrgenommen haben, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Wir sind beide mit einem gewissen kulturellen Hintergrund aufgewachsen, in dem man eben weiß was zum Beispiel "Jugendweihe" bedeutet, selbst wenn man keine gemacht hat.

R.S. Haben Sie die Jugendweihe mitgemacht?

A.B. Ja, ich habe mich aber mit 21 Jahren auch evangelisch taufen lassen.

R.S. Wenn Sie jetzt hier durch Berlin fahren oder wie im Frühjahr durch den Harz wandern, ist Ihnen dann die ehemalige Grenze noch bewusst?

A.B. Im Harz schon, in Berlin weniger. Ich nehme das nicht ständig wahr, denke aber darüber nach. Ich finde es krass, wenn das an Leuten vorbeigeht. Denn man wird in Deutschland eigentlich extrem daran erinnert. Ich finde auch gerade die West-Berliner Geschichte sehr interessant, die hat ja etwas ganz Eigenes. West-Berlin mit seiner Hausbesetzerszene usw. ist ja 1989 auch untergegangen. Daran denke ich oft, wenn ich heute durch Charlottenburg oder Schöneberg gehe. Große Teile meines Buches wurden von meiner damaligen Freundin redigiert, die in Schöneberg aufgewachsen ist und bis heute dort lebt. Gerade in der Endphase des Manuskriptes war ich deshalb oft in Schöneberg. Manchmal kamen mir dann die Gedanken: Stimmt, hier gab es mal eine Grenze. Stimmt, das waren mal zwei unterschiedliche Gesellschaften. Allerdings sind damit bei mir damit keinerlei Emotionen, oder gar Verbitterung, verknüpft, während ich bei vielen anderen Menschen bemerke, dass sie eine emotionale Sicht auf die Vergangenheit haben.

R.S. Woran könnte das liegen?

A.B. Ich glaube, dass ist recht simpel: Ich habe keine einzige Minute meines Lebens in der DDR verbracht. Selbst wenn ich 1989 geboren wäre, also die DDR nie bewusst erlebt hätte, wäre das schon anders.

R.S. Aber haben Sie schon einmal gedacht: Gut, dass ich das nicht miterleben musste. Gut, dass ich da nicht aufgewachsen bin.

A.B. Also, ich habe mich schon manchmal gefreut, nicht in einer Diktatur zu leben. Ich habe allerdings auch gar keine Vorstellung, wie das ist. Ich wurde mal von jemandem gefragt, ob ich gerne in der DDR gelebt hätte. Nein, natürlich nicht. Zum Glück ist es jetzt anders und ich froh darüber. Denn ich will zum Beispiel nicht in einem Land ohne Reisefreiheit leben. Ich will natürlich in einem freien Land leben. Mit den Möglichkeiten, auch mit dem Wohlstand, den es hier gibt. Ich fand die Frage ziemlich komisch.

R.S. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Grenze haben Sie vorhin gesagt, man wird ja überall daran erinnert. Ist Ihnen das manchmal zu viel mit der Erinnerungskultur an die DDR?

A.B. Gar nicht. Ich finde, wir befinden uns jetzt gerade in einer sehr spannenden Phase, denn durch die nachwachsende Generation, wird nichts beschönigt und es gibt ein großes Interesse von beiden Seiten an der DDR. Und das birgt, glaube ich, ganz viele Chancen in Sachen Erinnerung.

R.S. Bemerken Sie da eine neue Offenheit?

A.B. Ja. Aber das Thema bleibt ein Nischenthema. Ich weiß nicht, ob es wirklich viele Leute interessiert. Ich hatte neulich eine Lesung in einer Schule in Pankow mit Schüler*Innen aus der 12. oder 13. Klasse. Die waren super interessiert an dem Thema DDR. Und auch die Lehrerinnen haben mir gesagt, dass ist das, was die am mit am meisten interessiert. Bei mir war das noch anders. Ich erinnere mich an einen ziemlich einseitigen Unterricht: DDR das war alles grau und traurig und alle wollten einfach nur weg, konnten es aber nicht wegen der Mauer. Deshalb hat mich das Thema ziemlich lange abgetörnt. Das Interesse kam erst mit der Zeit, insbesondere aber auch durch Willi Sittes 100. Geburtstag 2021. Heute bemerke ich, je mehr ich mich mit der Geschichte beschäftige, umso spannender wird es. Allein, wenn ich mir im Nachhinein anschaue, wie schnell es zur Wiedervereinigung kam. Nach der Fertigstellung meines Buches war ich besonders gespannt darauf, wie die Geschichte auf Leute aus meiner Generation wirkt, die die Wiedervereinigung nicht miterlebt haben.

R.S. Wenn Sie insgesamt auf die Rezeption Ihres Buches schauen. Gab es da Überraschungen?

A.B. Erst einmal habe ich mich gefreut über so viel Interesse an dem Buch. Überrascht war ich eigentlich schon bei den Arbeiten am Buch. Ich habe ja im Vorfeld mit sehr vielen Leuten gesprochen und sie interviewt. Die meisten haben mir im Gespräch anfangs kurz etwas zu Willi Sitte gesagt und dann aber sehr viel ausführlicher ihre eigene Geschichte erzählt, über ihre Konflikte in der DDR oder ihre Zeit im wiedervereinigten Deutschland. Das passiert auch immer wieder bei Lesungen. Aber das große Interesse der Schulklasse das hat mich wirklich positiv überrascht.

R.S. Wie würden Sie sich das erklären, dieses Bedürfnis, die eigenen Geschichten zu erzählen? Und hören Sie vor allem Verlustgeschichten?

A.B. Nein, das sind eigentlich mehr bislang unerzählte Geschichten, so nehme ich es zumindest wahr. So habe ich es auch bei meiner Oma erlebt. Mein Buch gibt dann den Anlass, schafft einen Raum für diese Geschichten, die viele noch gar nicht erzählt haben. Oft habe ich das Gefühl, dass die Leute froh sind, ihre Geschichte erzählen zu können, dass es einen ein Anlass dafür gibt. Aber woran das liegt, weiß ich nicht. Ich bin ja mit diesem "90er Jahre Feuilleton Stil" aufgewachsen, in dem die DDR und alles was damit zu tun hatte ziemlich runtergebuttert wurde. Das Thema wurde oft auf die Stasi verkürzt. Was ja auch ein wichtiger Aspekt ist. Aber vielleicht hatten viele lange Zeit Angst oder besser Beklemmungen ihre Geschichten zu erzählen, weil sie vielleicht Sorge hatten, falsch verstanden zu werden.

R.S. Und was waren das für Geschichten?

A.B. Meist Alltagsgeschichten oder Berufskarriere, auch bestimmte Abläufe oder Verfahren aus Betrieben - aber ohne Ostalgie. Oft auch Ausreisegeschichten, die vor allem von Künstlern, die von ihrer DDR-Hochschule erzählt haben. Das wurde gar nicht in einem abrechnenden Ton erzählt - wie ich es erwartet habe, sondern manchmal auch mit Humor, was mir den Alltag ein bisschen näher gebracht hat. Ich glaube, das ist vielleicht das, worauf ich hinauswill: bei vielen ist das unbewusste Bedürfnis da, Alltag zu zeigen. Allerdings ohne die Diktatur oder das System kleinzureden.

R.S. Haben Sie früher etwas mit dem 3. Oktober verbunden?

A.B. Ja, den Geburtstag meines Urgroßvaters, der ein überzeugter Kommunist war. Für ihn war der 3. Oktober nie ein Feiertag. Am 3. Oktober 1938 hatte er nämlich den Einmarsch deutscher Soldaten in seiner Heimat im heutigen Tschechien erlebt. Und als er 1989 zum ersten Mal wieder nach Spindlermühle fuhr, verkündet Genscher den Botschaftsflüchtlingen in Prag gerade die Möglichkeite der Ausreise. Er sah das sehr kritisch, während ich Tränen in den Augen habe, wenn ich mir die Szene heute anschaue. Es ist wirklich ein Glück für mein Buch, dass ich seine Memoiren dafür nutzen konnte. Darin beschreibt er sehr ausführlich seinen Werdegang, den Krieg und später die neue Situation nach 1945 und seinen Aufstieg in der SED, die ihn von Parteiauftrag zu Parteiauftrag schickte. Nach der Wende brechen die Memoiren dann faktisch ab, obwohl er noch dreizehn Jahre gelebt hat. Es kommen nur noch kurze Abhandlungen darüber, wie seine Pläne auch nach dem Ende der DDR mit Glasleuchten zu handeln angesichts der erdrückenden Westkonkurrenz scheiterten. Die Leuchten, die sie entworfen hatten, mit denen sie gerade an den Start gehen wollten, wurden einfach auf den Müll geworfen. Damit war es vorbei. Das war mir gegenüber nie ein großes Thema, es wurde dem auch nicht von Seiten meiner Großmutter nachgetrauert.

R.S.  Welche Unterschiede gibt es eigentlich, wenn Sie das Buch in Ostdeutschland oder in Westdeutschland vorstellen und diskutieren.

A.B. Na ja, das kann ich gar nicht so recht sagen, weil ich erst einmal im Westen gelesen habe, das war in Bonn. Ich fand das Publikum sehr zugewandt, sehr wohlwollend und interessiert, musste jedoch deutlich mehr erklären, was ich aber ganz natürlich fand. Aber es gab keine einzige konfrontative Frage zu Willi Sitte, der ja noch in 90er und Nullerjahren als DDR-Staatskünstler galt. Das hat mich wiederum überrascht. Dazu trug sicher die große Willi-Sitte-Ausstellung im Herbst 2021 in Halle bei, die um ein sehr differenziertes Bild bemüht war und viele umstrittene Aspekte in seiner Biographie in eine größere Perspektive eingeordnet hat. Wichtig war sicher auch die Arte- Dokumentation zu Willi Sitte, bei der ich zum Teil mitgereist bin, nachdem ich die Filmemacher kennengelernt hatte. Beides - Ausstellung und Film - generierte eine große Aufmerksamkeit für Willi Sitte und sorgte auch für eine Neuentdeckung von Willi Sittes Werk. Ich glaube, das war ganz wichtig. Ohne die Ausstellung hätte es mein Buch wahrscheinlich nicht gegeben. Ich versuche an deren Einordnungen anzuschließen, mit einem zwar bewusst naiven, aber hoffentlich nicht verteidigenden Blick für meinen Urgroßonkel. Ob mir das gelungen ist, müssen andere beurteilen.

R.S. Ich fand die Deutung der Bilder Sittes als Ausdruck von Lebensfreude inmitten der Diktatur sehr interessant.

A.B. Ja, er wollte das Lachen darstellen, sagt er selbst in seiner Autobiographie. Und, wenn man das Temperament dieser Familie kennt, versteht man das auch. Allerdings war Willi Sitte ja auch schon in sehr jungen Jahren als Soldat der Wehrmacht im Krieg an der Ostfront, dann wurde er Partisan in Italien und hat beides überlebt. Später hat er zwei Selbstmordversuche unternommen, sicher nicht nur aus Liebeskummer. Wieder hat er überlebt. Danach fand er die Liebe seines Lebens und damit auch eine Lebensfreude, die die Bilder ausdrücken. Daneben gibt es aber auch die sehr viel politischeren Bilder zum Vietnamkrieg oder zu den sozialen Verhältnissen in der BRD.

R.S. Was waren eigentlich die überraschendsten Erkenntnisse, die Sie während der Recherchen in dem Buch hatten?

A.B. Die Widersprüchlichkeit zu erkennen und anzuerkennen, dass man ein Leben nicht einfach so aufschreiben kann, sondern ständig auf Ambivalenzen und Widersprüche stösst. Neu war für mich aber auch der Aspekt der Liebe in seinem Leben, den ich vorher so nicht gesehen hatte. Ich kannte ihn ja vor allem als Zeichner sozialistischer Bildwelten. Eines der ersten Bilder von ihm, das ich gesehen habe, war sein Selbstbildnis mit Schutzhelm und Tube, wo er oberkörperfrei posiert. Das fand ich schon sehr komisch. Und dann, gab es dieses Bild auf Wikipedia, wo er Erich Honecker die Hand schüttelte. Das waren meine ersten Eindrücke von ihm. Ich bin ihm ja trotz der Verwandtschaft nie persönlich begegnet. Aber durch die Beschäftigung mit ihm, bin ich ihm, so glaube ich, auch ein stückweit menschlich näher gekommen, spüre ich eine Verbundenheit. Vor allem als ich Parallelen entdeckt habe, etwa in der Emotionalität und Theatralik, die für die Sitte-Familie typisch ist. Dadurch, dass ich ihn nie kennengelernt habe, konnte ich aber einen ganz eigenen Weg in meinem Buch einschlagen. Und das gleiche gilt in Bezug auf die DDR, in der ich nie gelebt habe. Das gibt mir eine größere Freiheit in ihrer Beschreibung. In der Beschäftigung mit der DDR-Geschichte hat mich vor allem die Entdeckung des Alltags, des Nebeneinanders von Regimetreue und Parteikritik bei Willi Sitte vor allem aber der kurze Moment der kulturellen Liberalisierung ab 1963 überrascht, der dann aber plötzlich im Dezember 1965 mit dem “Kahlschlagplenum” schon wieder endete. Und die Tatsache, dass sich innerhalb von ein paar Tagen im Jahr 1989 alles ändern konnte.

R.S. Haben Sie für das Buch auch Literatur aus der DDR gelesen?

A.B. Ja, vor allem Christa Wolf. Ich hatte das große Glück für das Buch Gerhard Wolf noch zu treffen, der ja vor ein paar Monaten gestorben ist. Die Begegnung beschreibe ich im Buch, weil sie so wichtig für mich war. Ich werde aber öfter auf die im Buch geschilderte Begegnung mit Wolf Biermann angesprochen, die war sehr ehrlich und krass. Und ich habe immer Sorge, dass Biermann mich mal empört anruft, weil er unfreiwillig in einem Willi Sitte-Buch auftaucht und dort auch noch zitiert wird. Aber die Begegnung mit Gerhard Wolf war viel beeindruckender. Er hat mich zum Beispiel als erstes gefragt, ob ich selbst schreibe und ob ich eigene Gedichte dabei habe. Dann beschrieb er, wie die beiden ständig über diesen Staat nachgedacht haben. Und als ich Gerhard Wolf die Frage gestellt habe, warum er und Christa Wolf in der DDR geblieben sind, war seine Antwort: „Hier waren doch die Konflikte“.

R.S. Der Preis war aber eine ständige innere Zerrissenheit, die ja Willi Sitte und Christa Wolf gemeinsam hatten.

A.B. Ja, aber es gab aber auch einen großen Bruch zwischen den beiden, nachdem Christa Wolf aus Halle weggegangen war. Sie hatten inhaltliche Differenzen, vor allem über die Bewertung des Prager Frühlings und die Biermann-Ausbürgerung. Willi Sittes Freundschaft zu Sarah und Rainer Kirsch hielt länger, selbst nachdem die beiden in den Westen ausgereist waren, blieb der Kontakt. Und was die Zerrissenheit angeht, so merkt man das vor allem in der Lektüre von Christa Wolfs Tagebuch "Ein Tag im Jahr", was mich sehr beeindruckt hat. Vor allem das Vorwort hat mich auch für mein eigenes Schreiben inspiriert. Die Verteidigung der absoluten Subjektivität beim Schreiben, darüber erst gar nicht nachzudenken, sondern zu hoffen, dass man über das Subjektive zum Allgemeinen kommt, das hat mich sehr berührt. Dazu kommt dieses sich selbst hinterfragen: wie verhalte ich mich gerade eigentlich? Warum tue ich Dinge? Wie sind meine persönlichen Entwicklungen zu deuten? Später habe ich dann das von Buch "Drei Frauen träumten vom Sozialismus" von Carolin Würfel gelesen und erfahren, wie krass überzeugt Christa Wolf in den 1950er Jahren noch war, als sie auch kurz für die Stasi gearbeitet hat oder durch eine harsche Buchkritik im "Neuen Deutschland" dafür gesorgt hat, dass ein Verlag ihr Buch zurückzog.

R.S. Mit Carolin Würfel hatten Sie in der "Zeit im Osten" im März 2021 auch eines Ihrer ersten Interviews zum Thema Willi Sitte.

A.B. Ja, allerdings habe ich da viel Blödsinn erzählt. Das Interview führte auch zu einer recht lebendigen Diskussion mit meiner Großmutter, die mit Argusaugen über die Familiengeschichte wacht, weil ich viele Dinge gesagt habe, die ich noch nicht wissen konnte, und auch vorschnelle Urteile und Wertungen abgegeben habe. Ich hatte zu dem Zeitpunkt aber erst einen Monat zu Willi Sitte recherchiert. Allerdings hat das Interview auch einige Türen geöffnet. Danach meldete sich eine Literaturagentin bei mir, die das Manuskript schließlich an meinen heutigen Verlag vermittelte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich überhaupt nicht geplant aus meinem Interesse für die eigene Familiengeschichte ein Buch zu machen.

R.S. Ich fand vor allem eine Frage in dem Interview interessant, die Frage danach, was Willi Sitte angetrieben hat?

A.B. Er ist eine fragende Person, also ist er motiviert von einem großen Erkenntnisinteresse. Das treibt auch mich an.

R.S. Aber Sitte ging es doch auch um Macht und Einfluss. Er war doch auch ein eitler Mensch. Das ist jedenfalls ein Aspekt, den ich aus der Lektüre Ihrer Biographie mitgenommen habe.

A.B. Richtig, aber ich finde das nachvollziehbar. Wenn man in einer so privilegierten Position ist, so einen Erfolg hat, kann man sich davon nicht komplett lösen. Mich nervt, wenn junge Menschen das verurteilen und jemanden als "privilegiert" abkanzeln, nicht nur in Bezug auf Willi Sitte. Das hat oft etwas Heuchlerisches. Dass Willi Sitte seine Privilegien wahrgenommen hat und zum Beispiel in den Westen gereist ist, finde ich nachvollziehbar. Dennoch kann ich nicht richtig finden, dass andere das nicht durften. Willi Sitte aber daraus im Nachhinein einen Vorwurf zu machen, finde ich seltsam. Verbrechen kann man verurteilen, aber das Handeln Einzelner in einem verbrecherischen Staat zu beurteilen, ist meines Erachtens schon schwieriger. Da bin ich zurückhaltender. Ich würde zum Beispiel bei der Erwähnung von Stasi-IMs zwar deren Decknamen, aber nicht die Klarnamen dazuschreiben.

R.S. Wie wurde das Buch in Ihrer Familie aufgenommen?

A.B. Sehr interessiert. Es hat einen Prozess bei vielen ausgelöst, sich noch mehr mit der Familiengeschichte zu beschäftigen

R.S. Alle reden noch mit Ihnen?

A.B. Ja, klar. Viele Familienmitglieder waren ja in die Entstehung involviert: meine Großmutter, meine Mutter, mein Vater, selbst mein jüngerer Bruder, auch wenn er kaum in dem Buch vorkommt.

R.S. Hat das Buch und seine öffentliche Rezeption Sie verändert?

A.B. Ja, der Entstehungsprozess des Buches hat mich um viele Erfahrungen reicher gemacht. Insbesondere die Diskussionen mit meinen beiden Lektorinnen hat die Form verändert, wie ich auf manche Dinge schaue und über Dinge schreibe. Ich habe eine neue Form des Schreibens für mich versucht: Wie bringe ich subjektive Erlebnisse mit Fakten, mit Recherche, aber auch mit einer Leichtigkeit des Erzählens zusammen? Anfangs habe ich noch zu sehr an literarischen Vorbildern geklebt. Die Lektorinnen haben mir vor allem durch beharrliches Nachfragen dabei geholfen, intensiver nach meinem eigenen Stil zu suchen. Vor dem Buch habe ich übrigens vier Romanmanuskripte geschrieben, die alle nicht veröffentlicht worden. Die Arbeit an diesem Buch war für mich von einer extremen Ernsthaftigkeit und Emotionalität geprägt. Am Ende wollte ich eigentlich gar nicht aufhören an dem Buch zu arbeiten. Es gibt ja einen Grund, warum ich mal Geschichte studieren wollte. Es war wirklich toll sich in die Aktenberge zu vertiefen. Obwohl das zu romantisch klingt. Aktenberge sind es ja nicht mehr, vielmehr digitalisierte Stasiakten. Aber ich habe das dennoch geliebt.

R.S. Was meinen Sie, wie wird man in zehn, zwanzig Jahren auf die DDR blicken?

A.B. Das kann ich eigentlich nicht beantworten, aber ich bin sehr, sehr gespannt. Denn die Forschung geht ja weiter. Ich glaube, dass noch viel mehr Geschichten sichtbar gemacht werden, über die Diktatur und über den Alltag in der Diktatur. Das jetzt so viel über Oschmann und Hoyer diskutiert wird, finde ich toll. Auch wenn es unterschiedliche Sichtweisen gibt, geschieht das auf einem hohen Niveau. Ich glaube, dass wäre in den 90ern nicht möglich gewesen, da wäre jemand wie Oschmann vielleicht noch gecancelt worden. Und die Menschen mit Erfahrungen aus der DDR werden ja noch sehr lange Teil dieser Gesellschaft sein und diese Erfahrungen in die Gesellschaft einbringen.

R.S. Der "Osten" wird ja heute vor allem als "the othering" im Vergleich zum "Westen" gesehen? Mehr AfD, mehr Ausländerfeindlichkeit, mehr Frust. Erklärt das auch das große Interesse an Büchern über die DDR und die Transformationszeit?

A.B. Ich denke zum Teil ja. Ich finde Quatsch es wegzureden, dass der Frust im Osten viel stärker ist. Ich habe zuletzt für die taz an einem Artikel über die Ausländerfeindlichkeit und die rechte Szene in den 90er Jahren in meiner Heimatstadt Wernigerode gearbeitet. Da gab es faktisch rechtsfreie Räume. Eine ältere Frau aus dem Rheinland hat mir neulich erzählt, dass ihr Sohn 1993 von Neonazis fast totgeschlagen worden wäre, als sie auf Besuch in ihrer alten Heimat in Sachsen-Anhalt war. Der Vorfall wurde damals aber überall heruntergespielt.

R.S. Müssen Sie denn oft als Erklärer herhalten, nach dem Motto: Du kommst doch aus dem Osten, was ist denn da los?

A.B. Nein. Ich halte es da mit Lukas Rietzschel, der mal gesagt hat, dass wir Nachgeborenen uns da auf eine angenehme Naivität berufen können. Allerdings nehme ich oft selbst die Erklärer-Rolle ein, wenn mir zum Beispiel in den Medien etwas zu Schwarz-Weiß dargestellt wird. Dann halte ich meine eigenen Erfahrungen dagegen. Es gibt eben nicht nur Nazis im Osten. Auf der anderen Seite stört mich aber auch das Relativieren der AfD-Erfolge im Osten, das ist fast verharmlosend und das will ich nicht wegreden. Ich bin ja auch sofort nach dem Abitur aus Sachsen-Anhalt weggegangen. Das sehe ich aber nicht als Abkehr vom Osten, sondern von der Provinz. Das hätte ich genauso gemacht, wenn ich zum Beispiel aus Krefeld gekommen wäre.