von Walter Sperling

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17. März 2018

Die Wiederwahl Wladimir Putins ist vorherzusehen. Zu groß sein Vertrauensvorsprung in Russlands „erniedrigter“ postimperialer Nation, zu mächtig die Propagandamaschinerie, die die Lust auf Revanche zu bedienen versteht. Doch das Wahljahr brachte einige Überraschungen mit sich. Darin unterscheidet sich Russland von den anderen eurasischen Wiederwahldiktaturen wie Kasachstan oder Aserbaidschan. Überraschend war der Erfolg des Oppositionellen Alexei Nawalny. Zwar wurde er nicht zur Wahl zugelassen, doch war er derjenige, der das politische Feld im letzten Jahr maßgeblich geprägt hatte. Selbst nachdem die Zentrale Wahlkommission ihm im Dezember 2017 die Zulassung verweigert hatte, blieb Nawalny mit seinem Aufruf zum Wahlboykott Putins eigentlicher Gegner. An der Legitimität der vom Kreml arrangierten Wiederwahl rüttelt er stärker als die anderen sieben GegenkandidatInnen. Grund genug, sich den verhinderten Kandidaten genauer anzusehen. 

Alexej Nawalny gehört zur Generation der Transformation. Seinen politischen Aufstieg hat der 1976 Geborene in der Jugendorganisation der liberalen Partei „Jabloko“ in Moskau begonnen. Später hat er sich als politischer Blogger einen Ruf erworben. Neben dem 2015 ermordeten oppositionellen Politiker Boris Nemzow gehörte er zu jenen, die die Korruption in Russland zum Dauerthema gemacht haben. Seit über zehn Jahren nimmt er die Machenschaften der Mächtigen ins Visier, deckt die mitunter mafiösen Strukturen auf, die offenbar bis in die Spitze des Staatsapparates hineinreichen. Bei den Protesten gegen die gefälschten Dumawahlen im Jahr 2011 spielte Nawalny eine wichtige Rolle; ebenso 2012 als Putin sich erneut zur Wahl aufstellen ließ, einer dritten Amtszeit, die nicht mehr vier, sondern nunmehr sechs Jahre andauern sollte. Nawalnys Schlachtrufe „Einiges Russland – Partei der Betrüger, Diebe und Mörder“ und, vor allem, „Putin – Dieb“ hat viele Liberale vor den Kopf gestoßen, weil diese Anschuldigungen justiziabel sind. Doch seine Slogans entsprachen der Stimmung des „urbanen Proletariats“, das mit Putins Wiederwahl seine Zukunft dahin schwinden sah.[1]

Wie andere Oppositionspolitiker hat Nawalny für seinen Widerstand bezahlt. In einem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandeten Strafgerichtsverfahren wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Sein Bruder, Oleg Nawalny, büßt als angeblicher Komplize seine Haftstrafe noch immer ab. Im Unterschied zu vielen anderen Oppositionellen ließ sich Nawalny nicht einschüchtern. Im Jahr 2013 kandidierte er für das Amt des Bürgermeisters von Moskau. Dabei gelang es ihm, rund 27,2 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen. Und dies obwohl dem Hauptkonkurrenten, Sergej Sobjanin, der gesamte Verwaltungs- und Propagandaapparat der Metropole zur Verfügung gestanden hatte, um seine Wiederwahl zu garantieren.

Was im letzten Wahljahr erstaunte war nicht so sehr Nawalnys Präsenz auf der politischen Bühne, sondern vielmehr die Bewegung, die er zusammen mit Gleichgesinnten und Sympathisanten in Gang gebracht hatte. Skeptiker zweifelten anfangs daran, dass Nawalnys Losungen jenseits des Moskauer Autobahnrings auf Zustimmung stoßen würden. Doch innerhalb weniger Monate eröffnete Nawalny in über 80 Städten Büros, die seine Kampagne in die Regionen trugen. Unterstützt vorwiegend durch Kleinspenden bauten Nawalny und sein Team eine politische Struktur auf, die von Kaliningrad im Westen bis Wladiwostok im Osten, von Murmansk im Norden bis Sotchi im Süden reicht. Trotz massiver Einschüchterungen durch Geheimdienst, Polizei und Lokalverwaltung gelang es dem Oppositionsführer, immer mehr Menschen anzusprechen: rund 720.000 Personen trugen sich auf Nawalnys Internetseite als Sympathisanten ein und spendeten über 300 Millionen Rubel (ca. 4,5 Mio. Euro) für die Kampagne, mehr als 120.000 Menschen erklärten sich bereit, die Kampagne als WahlhelferInnen zu unterstützen, und über 60.000 meldeten sich als WahlbeobachterInnen, um Wahlfälschungen entgegen zu wirken. Die Kundgebungen, die Nawalny im Herbst 2017 in 27 Städten abgehalten hatte, legen nahe, dass er für viele zum neuen Hoffnungsträger geworden war.[2]

Der in Madrid lehrende russische Ökonom Maxim Mironow hat in seinem politischen Blog hervorgehoben, dass Alexej Nawalny im Grunde austauschbar sei. Worauf es ankomme, sei das Internet und die sozialen Medien, die das unter Putin erwirkte Medienmonopol unterlaufen würde. Gäbe es Nawalny nicht, so Mironow, dann fände sich eine andere Führungsfigur, die diese Medien „effektiv nutzen würde, um Informationen“ über das Regime zu verbreiten.[3]

In der Tat, Nawalny ist ein Politiker des Internetzeitalters. Im Unterschied zur Politiker-Generation der 1990er-Jahre, etwa Grigorij Jawlinskij, Kandidat des liberalen „Jabloko“, hat er die Politisierung der russischsprachigen social media mit geprägt. Dabei hat er gelernt, die Klaviatur von Facebook, Twitter und Instagram zu bedienen. Zudem beherrscht er meisterhaft die Kunst des Politentertainments. Inzwischen hat er zwei Youtube-Kanäle aufgebaut, die mit ihren Videos und Livesendungen, darunter drei täglich ausgestrahlte Nachrichtensendungen, eine eigene mediale Plattform darstellen.

Während das Staatsfernsehen ein permanentes Bedrohungsszenario inszeniert, um gegen Andersdenkende zu mobilisieren, setzt der Jurist Nawalny auf die Kunst der Entlarvung und des Skandals. Den Stoff für Empörungen liefern ihm die Recherchen seines ebenfalls aus Spenden finanzierten Fonds zur Bekämpfung der Korruption. Das Prinzip der Ermittlungen beruht darauf, das Eigentum führender Staatsbeamter zu recherchieren – darunter Penthäuser, Villen, Flugzeuge und Yachten – und diesem Luxus ihre jeweils regulären Einkünfte gegenüber zu stellen. Die Diskrepanz zwischen Soll und Haben führt das Korruptionsniveau der Führungsspitze vor Augen.

Was den einen „politische Provokation“ ist, gilt den anderen als „schonungslose Wahrheit“. „Hier wird Wahrheit gesprochen“, lautet der Slogan des Youtube-Kanals Navalny.Live. Damit knüpfen Nawalny und sein Team – darunter der IT-Spezialist und Startup-Unternehmer Leonid Wolkow, die Juristin Ljubow Sobol und die Mediendesignerin und Videoproducerin Oksana Baulina – an die Wahrheitssuche der Perestroika-Zeit an, als die Verbrechen des Stalin-Regimes öffentlich gemacht und die Halbwahrheiten des Einparteienstaates als Lügen gebrandmarkt wurden. Im Zeichen von Glasnost schnellten die Auflagen der kritischen Zeitungen und Zeitschriften in die Höhe. Innerhalb kürzester Zeit bildete sich eine kritische Öffentlichkeit heraus, die nicht nur das Establishment des Politbüros, sondern auch Reformer wie Michail Gorbatschow vor sich her trieb. Nawalnys Ermittlungsvideos haben eine ähnliche Wirkung. Sie werden nicht nur von einer liberalen Stammwählerschaft rezipiert und kommentiert. Sein erfolgreichster Aufklärungsfilm, der den Verstrickungen des amtierenden Premierministers Dmitrij Medwedew nachgeht, wurde allein auf Youtube über 26 Millionen Mal aufgerufen. [4] Das Video hat eine Lawine losgetreten. Seit seiner Veröffentlichung im Frühjahr 2017 ist Putin in Bedrängnis geraten – erstmals seit der Krim-Annexion 2014. In den Regionen ist Putin mitunter so unbeliebt, dass seine Wahlplakate von der Polizei bewacht werden müssen.

Auch wenn eine Mehrheit der russischen Gesellschaft sich nach wie vor gern an ihr scheinbar sorgloses Leben in der Sowjetunion erinnert, vor allem die Ü50-Generation, wird Putins Regime zunehmend mit der Stagnation der frühen 1980er Jahre in Verbindung gebracht. Auf der Suche nach historischen Parallelen wird Nawalny jedoch nicht mit dem Reformer Gorbatschow assoziiert, sondern mit Boris Jelzin, dem Enfant terrible der KPdSU. Denn Jelzin setzte nicht auf Kompromiss und Dialog, sondern auf Kritik und Konfrontation. Wie kein anderer verstand er es, sich den Unmut der Demonstrierenden zunutze zu machen. Er stellte sich an die Spitze der Protestbewegungen, etwa des Bergarbeiterstreiks, was ihm 1991 die Wahl zum Präsidenten der Russländischen Sozialistischen Föderation bescherte, noch vor dem August-Putsch und dem endgültigen Zerfall der UdSSR. 

Ebenso wie Jelzin kommt Nawalny aus einfachen Verhältnissen, wie Jelzin geriert sich er sich als Volkstribun, wie Jelzin fühlt er sich auf der Straße wohl, scheut sich nicht davor, sich auf Kundgebungen spontan an Diskussionen zu beteiligen. All dies unterscheidet ihn von Putin, und ebenso von allen anderen zugelassenen Kandidaten, mit Ausnahme des Rechtspopulisten Wladimir Schirinowski. Wie Jelzin setzt auch Nawalny auf die nationale Karte, um Putin das Deutungsmonopol darüber abzuringen, was Russland nütze und was den Bürgern schade. Wie Jelzin tut sich auch Nawalny schwer mit Russlands postkolonialem Erbe. Und dies obwohl er sein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität der Völkerfreundschaft absolviert hatte – der Patrice-Lumumba-Universität, die unter Chruschtschow gegründet worden war, um den postkolonialen Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sozialistischen Internationalismus einzuhauchen. 

Als Nawalny im Juni 2017 zusammen mit Xenia Sobtschak im Rahmen eines Fernsehinterviews die Grenzen Russlands als Kulturnation abzustecken suchten, lösten sie eine Welle der Empörung aus. Hunderte in Zentralasien lebende oder dort geborene Menschen bezogen dazu in sozialen Netzwerken Stellung. Dutzende posteten Videos, auf denen Kinder und Erwachsene Gedichte russischer Nationaldichter vortrugen, als Gegenbeweis für Nawalnys Behauptung, dass man in Usbekistan Puschkin nicht kenne.[5] Der Versuch der nationalen Selbstbeschreibung wurde somit in Zentralasien als Ausdruck eines Chauvinismus aufgefasst, in dem ein Überlegenheitsgefühl mitschwingt, das sich aus Russlands Selbstverständnis als einer europäischen Kulturnation speist. In der russischen Metropole ist selbst die liberale Opposition weit davon entfernt, kulturellen Pluralismus als eine Antwort auf das postkoloniale Erbe zu begreifen.

Wie Jelzin ist Nawalny ein Populist. Doch trotz seiner Haltung in der Einwanderungsfrage – Nawalny plädiert für die Einführung eines Visumregimes mit den Staaten Zentralasiens und für die Aufhebung der Einreiseeinschränkungen in „fortgeschrittene“ europäische Staaten – wäre es zu einfach, ihn im rechten Spektrum zu verorten. Er selbst begreift sich als Politiker der Mitte, als eine Art russischer Emmanuel Macron. Auch wenn er mal mit konservativen, mal mit linken Positionen liebäugelt, so bekennt er sich zu den Prinzipien der liberalen Demokratie, zur Einhaltung der Menschenrechte, zu Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft. Als weltoffene Demokraten verstehen sich auch seine Weggefährten. Es sind jedoch nicht seine Bekenntnisse zur Demokratie, die den Kreml veranlasst haben ihn als Kandidaten zu verbieten. Vielmehr ist es Nawalnys Bereitschaft, im Kampf gegen das korrupte Establishment und für soziale Gerechtigkeit zu polarisieren – letztlich seine Jelzin’schen Eigenschaften eines russischen Volkstribuns.


[1]  Eine lesenswerte Beobachtung und Reflexion: Mischa Gabowitsch, Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin 2013.
[2] Nawalnys Reisen und Aktionen hat der Fotojournalist Ewgenij Feldman im Rahmen seines Online-Projektes Das ist Nawalny in spannender Weise dokumentiert [14.3.2018]. 
[3] Vgl. M. Mironov, Wie Putins Regime zerbrechen wird (in russ. Spr.), auf: Livejournal [14.3.2018]; zur Medienpolitik des Regimes: Ulrich Schmid, Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin 2015.
[4] Vgl. A. Nawalny et al., Für euch heißt er nicht Dimon (in russ. Spr. mit engl. Untertiteln), auf: Youtube [14.3.2018]. 
[5] Ein Zusammenschnitt der Reaktionen vgl. Nawalny hat Usbekistan beleidigt (in russ. Spr.), auf: Youtube [14.3.2018].