Wir schreiben das Jahr 2001 und befinden uns in einem kleinen Dorf namens Svoboda, nahe der tschechisch-deutschen Grenze. Vor einem abgenutzten Gebäude zerhackt ein alter Mann ein paar Holzscheite, als plötzlich ein für ihn unbekanntes Auto anhält. Misstrauisch beäugt er die aussteigende Person. Diese stellt sich als Mitarbeitender des tschechischen Denkmalamts vor und möchte den Erhaltungswert des alten Schulgebäudes untersuchen. Es beginnt eine Zeitreise durch die dunkelsten Jahre, die dieser Ort jemals erlebt hat.
Im zweiten Ableger Svoboda 1945: Liberation des erfolgreichen Serious Games Attentat 1942 (2017) sollen die Spielenden nicht mehr die Familiengeschichte des Protagonisten aufarbeiten, sondern werden mit der Aufklärung der Nachkriegsgeschichte eines ganzen Dorfes betraut. Im Rahmen dieser fiktiven Erzählung hat das Prager Spielestudio Charles Games ein weiteres Mal eine immersive Erfahrungswelt zwischen Gegenwart und Vergangenheit geschaffen, die eine „spielerische“ Vermittlung von tschechischer Geschichte zum Ziel hat. Während im ersten Teil die Folgen der NS-Herrschaftsmacht zwischen 1942 bis 1945 thematisiert worden sind, geht es hier um die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs in der Nachkriegszeit sowie die anbahnende kommunistische Herrschaft in der Tschechoslowakei. In den meisten digitalen Spielen wird Spielenden eine saubere, bereinigte und unterhaltsame Version des Krieges präsentiert, bei der reelle Zusammenhänge und Folgen des Krieges für die breite Öffentlichkeit ausgeblendet werden.[1] „Svoboda 1945: Liberation“ traut sich dagegen, auch schwierige Themen anzusprechen, etwa die Ermordung der jüdischen und tschechischen Bevölkerung während der NS-Besatzung, die gewaltsame Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung sowie Vergeltung nach 1945, die Kollektivierungsmaßnahmen des kommunistischen Regimes und diehieraus resultierenden Folgen auf die gegenwärtigen erinnerungskulturellen Diskurse.
Geheimnisse enthüllen: Die Spielmechaniken
Bezüglich der Spielmechaniken wurde vieles aus Attentat 1942 übernommen: Die Charaktere im Spiel und ihre Geschichten werden explizit als fiktiv erklärt, wurden jedoch auf der Grundlage von historischer Forschung und Berichten von Zeitzeug*innen erstellt. Die Entwickler*innen haben mit Forschenden und Überlebenden zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass das Spiel die Ereignisse so genau wie möglich darstellt.[2] In Full-Motion-Videos interviewen die Spielenden die Dorfbewohner*innen. Einige dieser Dialogoptionen führen in Form von Comic-Sequenzen zu Rückblenden in die Vergangenheit, die die Erinnerung der interviewten Figur wieder aufleben lassen. In manchen Fällen wird die Erinnerung der Figur durch tatsächliches Filmmaterial aus tschechischen, historischen Archiven ersetzt, während andere Entscheidungen ein interaktives Minispiel auslösen können. Von den Minispielen gibt es zwar nicht allzu viele, dafür wurden diese sehr kreativ gestaltet und reichen beispielsweise von einem Kartenspiel bis hin zu einer kleinen Landschaftssimulation. Nebenbei können bei Interesse ein internes Lexikon und historische Originaldokumente eingesehen werden, die eine geschichtswissenschaftliche Vertiefung anbieten.
Durch die Interaktionsmöglichkeiten sollen die Spielenden in die jeweiligen Figuren hineinversetzt werden, um deren damaligen Handlungsräume verstehen zu lernen. Anhand der Enthüllung von zeithistorischen Zeugnissen und Aussagen der Zeitzeug*innen werden infolgedessen die Geheimnisse des Dorfes aufgedeckt und sogar die Beteiligung des eigenen Großvaters an den damaligen Ereignissen festgestellt. Auffällig ist, dass die Wahlmöglichkeiten in den Dialogen auf wenige Optionen begrenzt sind. Laut Spieleentwickler Vít Šisler wurden die Aktionen und Interventionen der Spielenden bewusst auf ein binäres System ausgelegt, um die essenziellen Wirkkräfte auf gesellschaftliches Kulturerbe oder individueller Erinnerungen hervorzuheben – Auslöschung oder Bewahrung. Für ihn ist dies ein gutes Beispiel, wie simple Spielmechanik als Stilmittel – in diesem Fall für den prozeduralen Gedächtnisprozess – verwendet werden kann.[3]
Von Auschwitz bis zur Repatriierung: Die individuellen Geschichten hinter den Kulissen
Die größte Stärke des Spiels liegt erneut in der Verknüpfung verschiedener Perspektiven auf die Geschehnisse, die angemessen in die Binnenerzählung eingewoben sind. Der Mann in der Anfangssequenz, Herr Vlk, ist zum Beispiel ein tschechischer Wolhynier[4], der nach dem Krieg mit dem Versprechen auf Ackerland repatriiert wurde. Herr Klepal, der das Gelände der Schule bewirtschaften möchte, ist wiederum der Sohn eines kommunistischen Funktionärs, der die kollektivistische Bewegung anführte und schließlich nicht nur Herrn Vlks Hof, sondern auch das Familienanwesen des heutigen Bürgermeisters in Besitz nahm. Ebenso treffen die Spielenden Anna Grotschel, die als ehemaliges Opfer der Vertreibung der Deutschen gelesen werden kann, und den Ausschwitz-Überlebenden Jakub Hein.
Die Berichte der acht interviewbaren Personen skizzieren sehr persönliche Eindrücke auf die (Nach-)Kriegsereignisse und zeigen so, wie unterschiedlich Menschen mit ihren Erlebnissen umgehen: Während einige Figuren des Spiels mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen haben oder zumindest dies versuchen, werden andere Dorfbewohner*innen mit Schuldzuweisungen aus vergangenen Taten konfrontiert, die ihre zwischenmenschlichen Beziehungen bis in die Gegenwart prägen. Auch die kulturelle Identität der Einwohner*innen wird im Spiel thematisiert und hebt hervor, wie historische Ereignisse Grenzen auf staatlicher Ebene sprengen können. Infolgedessen wird den Spielenden durch die Multiperspektivität bewusst, dass sich die Rollen von Opfer- und Täterschaft nicht einfach zuordnen lassen, sondern sich vielmehr überlagern und auf die (inter-)nationale Erinnerungskultur übertragen werden können.
Somit bietet Svoboda 1945: Liberation wie sein Vorgänger ein außergewöhnliches Spielerlebnis, welches die komplexen Verflechtungen der deutsch-tschechischen Nachkriegszeit sowohl spannend als auch greifbar zu erzählen vermag. Im schulischen Kontext könnte das Spiel für die Geschichtsvermittlung transnationaler Kriegsverbrechen zu verschiedenen Zeitabschnitten genutzt werden, ohne deren Folgen untereinander moralisch aufzuwiegen.[5] Stattdessen wird das Leid und die Traumata aller Betroffenen akzeptiert und der Versuch gestartet, dies gemeinsam aufzuarbeiten.
[1] Vgl. Pötzsch, H., Selective Realism: Filtering Experiences of War and Violence in First- and Third- Person Shooters. In: Games and Culture. Bd. 12, H. 2, Los Angeles: SAGE Publications, 2017, S. 160.
[2] Vgl. https://www.pixelwarte.de/gespraech-vit-sisler-svoboda-1945.html (Letzter Zugang: 14.05.2024, 18:11 Uhr)
[3] Šisler, V., Pötzsch, H., Hannemann, T., Cuhra, J., & Pinkas, J., History, Heritage, and Memory in Video Games: Approaching the Past in Svoboda 1945: Liberation and Train to Sachsenhausen. Games and Culture, 17(6), S. 908, 2022. DOI: https://doi.org/10.1177/15554120221115402 (Letzter Zugang: 14.05.2024, 18:13 Uhr)
[4] Wolhynien stellt eine historische Landschaft im Nordwesten der heutigen Ukraine dar, die an der Grenze zu Belarus und Polen liegt. Ab Ende des 18. Jahrhunderts fand eine verstärkte Einwanderung von deutschen Siedler*innen statt, die aufgrund politischer Unruhen in den von Russland besetzten polnischen Gebieten von örtlichen Großgrundbesitzenden unterstützt wurde. Im Rahmen des Ersten und Zweiten Weltkrieges wurde der Großteil der Siedler*innen jedoch wieder vertrieben. Vgl. Arndt, N., Die Deutschen in Wolhynien. Ein kulturhistorischer Überblick, Adam Kraft Verlag, Würzburg, 1994, 96 S.
[5] Für weitere pädagogische Einsatzmöglichkeiten des Spiels ist folgender Artikel empfehlenswert: Pfister, E., „Svoboda 1945: Liberation“. Datenbank Games in der Erinnerungskultur, Stiftung Digitale Spielekultur, 31.05.2022, URL: https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/spiele-erinnerungskultur/svoboda-1945-liberation/ (Letzter Zugang: 11.06.2024, 14:58 Uhr)