von Eva Berger

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1. Januar 2010

Die Geschichte des Kinos beginnt mit der Arbeit, präziser: mit der Abwendung der Menschen von der Arbeit. In La Sortie des usines Lumière à Lyon (Arbeiter verlassen die Fabrik, Frankreich 1895) richteten die Brüder Lumière die Kamera auf das Werktor ihrer eigenen Fabrik und präsentierten 45 Sekunden lang den feierabendlichen Auszug „ihrer“ Arbeiterschaft aus dem Betrieb. Vorgeführt werden sollte hier vor allem die technologische Revolution, die sensationelle Möglichkeit, Bewegung in Bildern wiederzugeben. Und die Tatsache, dass der Film beim Proletariat und Kleinbürgertum im Kino ungemein erfolgreich war, führt der Filmkritiker Georg Seeßlen darauf zurück, dass man sich hier selbst erstmals aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen vermochte, aus der Perspektive der Allmacht, mit den Augen und vom verbotenen Ort des Fabrikbesitzers aus.[1]

Gleichzeitig ließe sich der Film auch als bildlicher Kommentar gegenwärtiger Umbruchprozesse industrieller Arbeitsordnung betrachten. Die Fabrik leert sich (zumindest in Westeuropa), sie liegt am Ende verlassen da. Und die Arbeiter, sie ziehen weiter.

Und auch die Tatsache, dass Arbeit für die meisten Menschen dieser Erde bis heute vor allen Dingen Zwang, Enteignung und (Selbst-)Ausbeutung um des materiellen Überlebens willen bedeutet, scheint dieser Film halb subversiv, halb eskapistisch in Szene zu setzen. Mit dem Durchschreiten des Werktors wird die Grenze zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit überschritten. Die ironische Pointe ist, dass nun nicht zuletzt die Filmfabriken mit und in der Nachfolge der Lumière-Brüder dafür sorgen werden, dass der arbeitende Mensch den Zwangswelten des Tages in die Spektakel und nächtlichen Traumwelten des Kinos zu entfliehen vermag. Das Reich der Freiheit entschärft sich zum Reich der Freizeit und feierabendlichen Zerstreuung.[2]

Der Berliner Filmemacher Harun Farocki hat 1995 unter dem Titel Arbeiter verlassen die Fabrik eine filmarchäologische Studie vorgelegt, die an das Filmmotiv des Lumière-Films - eine Belegschaft beim Verlassen des Betriebes – andockt und einem filmgeschichtlichen Bildervergleich unterzieht.[3] In einer 37-minütigen, mit sparsamer Kommentierung versehenen Filmmontage werden Werktor-Szenen aus Dokumentar-, Industrie- und Propagandafilmen, aus Wochenschauen genauso wie aus Spielfilmen herausfiltert, aneinandergereiht und daraufhin befragt, welche Geschichten das Kino im Anblick des Werktors, der Fabrik und der an sie gebundenen Menschen zu erzählen und nicht zu erzählen vermag.[4]

Wir sehen Arbeiter beim Verlassen der Detroiter Ford-Werke 1926, deren Drängen zu den Toren vor allem dazu genutzt wird, in einem langsamen Kameraschwenk das Fabrikgebäude in seiner kathedralenartigen Imposanz in Szene zu setzen. Für einen kurzen Moment, im Stau der Ausgänge, entsteht das Bild einer machtvollen Arbeiterschaft, genauso wie hier von der Macht des Autoproduzenten Ford erzählt wird, der so viele Menschen in Lohn und Brot zu setzen vermag. Im nächsten Moment jedoch löst sich die Menge schon wieder auf, alles strebt eilig auf die Strassen, ins Jenseits der Arbeit, „als zöge sie etwas fort, als hätten sie schon zu viel Zeit verloren“.[5]

Oder: die Volkswagenwerke in Emden 1975. Auf dem Platz vor dem Werktor ein Bus der Gewerkschaft, der Arbeiterlieder, Verse von Majakowskij, gesungen von Ernst Busch, spielt und die Fabrik als geschichtlichen Ort des Protests und Arbeitskampfes zu beschwören sucht. Die Frühschicht verlässt das Werk, nur wenige bleiben stehen und nehmen den Aufruf zu einer Kundgebung gegen die geplante Verlegung des Werks in die USA zur Kenntnis. Der große Rest zerstreut sich ins Jenseits der Kamera, die Erinnerungsspur, die mit dem Lied der Oktoberrevolution evoziert werden soll, ist längst abgerissen. Zu einem ergiebigen Schauplatz wird der Vorplatz der Fabrik, wenn es um Streik- und Streikbruch, um Fabrikbesetzungen und -räumungen geht.

Im Film Desertir (Der Deserteur, UdSSR 1933) des neben Sergej Eisenstein und Alexander Dowschenko führenden Regisseurs des Revolutionsfilms, Wsewolod Pudowkin, findet sich die beeindruckende Darstellung einer Streik- und Streikbrecherszene im Hamburger Hafen. In wechselnder Perspektive sehen wir zerlumpte Streikbrecher, die Schiffe entladen. Unter den Blicken eines kühl und aufmerksam die Szenerie beobachtenden Streikposten bricht einer unter der Last der Kisten langsam zusammen. Die Schatten, die über das Gesicht des Streikposten huschen, werden von den Arbeitslosen geworfen, die nun zum Eingangstor hasten, um die Stelle des Zusammengebrochenen zu ergattern. Die Kamera schwenkt über die ausgemergelten, vergreisten Gesichter der in Arbeitslosigkeit Verelendeten hinter den Gitterstäben des Werfteinganges. Aus dem Gefängnis der Arbeitslosigkeit blicken sie auf eine Freiheit, die Lohnarbeit heißt. Und, so Farocki, durch die Gitterstäbe sieht es so aus, als habe man sie schon für überflüssig erklärt und in Lager gesperrt - ein Vorblick auf das Kommende, den Terror nationalsozialistischer und stalinistischer Vernichtungs- und Umerziehungslager?[6]

In der modernen Episode von Intolerance (Intoleranz/ Die Tragödie der Menschheit, USA 1916) des amerikanischen Regisseurs David Wark Griffith wiederum findet sich die wohl größte Schießerei vor einem Werktor in hundert Jahren Filmgeschichte. Streikende treten auf die Strasse und werden von der anrückenden Polizei in Maschinengewehrfeuer niedergemacht, entsetzt beobachtet von den Angehörigen der Arbeiter. Der Arbeitskampf als Bürgerkrieg - die hier vorgeführte Brutalität bilde jedoch laut Farocki eine Ausnahme, denn fast immer seien die Kämpfe der Arbeiter viel weniger gewalttätig gewesen, als die, die in ihrem Namen geführt wurden.

Und auch der totalisierende Effekt, der durch Farockis Filmmontage entsteht - als habe das Kino in hundert Jahren immer nur dieses einzige Motiv bearbeitet - könne nicht darüber hinwegtäuschen, „dass die Fabrik den Film kaum angezogen, eher abgestoßen hat. Der Arbeits- oder Arbeiterfilm ist kein Hauptgenre geworden, der Platz vor der Fabrik ist ein Nebenschauplatz geblieben.“[7] Die industrielle Organisationsform mit ihrer Zerlegung der Arbeit in kleinste Einzelschritte, dem Arbeitsprinzip der monotonen Wiederholung und dem Ausschluss von Entscheidungsmöglichkeiten der Arbeitenden eignet sich offenbar nur schwer, Wechselfälle, Bewegung, und das Handlungsvermögen von Menschen darzustellen, also die zentralen Dinge, auf die die Kamera und ihre Erzähllogik fixiert ist.

Als eine der wohl berühmtesten Ausnahmen, in denen der Nebenschauplatz Fabrik ins Zentrum rückt, ist Modern Times (Moderne Zeiten, USA 1936) von und mit Charlie Chaplin zu nennen, eine satirische Zuspitzung des fordistischen Systems zu Zeiten des New Deal. Der Arbeiter Chaplin wird hier vom unerbittlichen Rhythmus des Fließbands erfasst, um in ein mitreißend groteskes Ballett verwickelt zu werden. Und spätestens, als eine neu entwickelte Frühstücksmaschine Chaplin das Essen ins Gesicht schleudert, ist die optimistische Fiktion von den Maschinen, die nur dem Wohl der Menschen dienen, gestorben, in einer präzisen Bildersprache aufgelöst. Der Filmkomiker Chaplin erweist sich hier als großartiger De(kon)strukteur der Arbeit: „Die Würde des Menschen ist nur zu retten, wenn man die Arbeit und ihre Bedingungen fachgerecht kaputtmacht.“[8]

Der Ausweg aus der Unerbittlichkeit des Maschinensystems, den der Held Chaplin und mit ihm der Film am Ende findet, führt in die Arme einer Frau, das kleine private Glück also. Das sei ihm gegönnt und verweist aber gleichzeitig auf den Weg, den das Kino vor allem in seiner Spielfilmvariante einschlagen wird. Die meisten Erzählfilme wählen sich den Teil des Lebens als dramatischen Stoff, der die Arbeit hinter sich gelassen hat.

Doch was für gegenwärtige Diagnosen und Streitpunkte der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschung zur Arbeit gilt, ließe sich ebenso für den Spielfilm in allen Varianten festhalten: Es wäre verfrüht zu behaupten, dass die Arbeit in der Traumfabrikproduktion verschwindet bzw. verschwunden ist, bloß weil sie visuell abwesend ist oder gemacht wird. Ohne Arbeit kein Leben [9] und also kein Filmstoff.

Mit dieser Behauptung eröffnet sich auch der Geschichtswissenschaft ein unermessliches, filmanalytisch auszulotendes Terrain.

Wendet man den Blick von der Filmhistorie auf aktuelle Produktionen im Bereich des Arbeitsfilms, so scheint eine weitere Feststellung Seeßlens zutreffend: „Jetzt aber, da nicht die Arbeit, dafür aber die Bereitschaft der Profiteure, für sie zu zahlen, knapp wird, beginnen wir uns nach Bildern der  Arbeit zu sehnen. [...] An die Stelle der Leute, die sich endlos mit ihren Gefühlen beschäftigen, treten die Konflikte der ‘Ressources humaines’. Gibt es etwas Schrecklicheres als Arbeit? Keine Arbeit!“[10]

Als hilfreich, um sich einen ersten Eindruck und Überblick über das Spektrum des Filmschaffens zum Thema Arbeitsverhältnisse der Gegenwart zu verschaffen, erweist sich die Filmreihe Work in Progress, die im Rahmen des Programms „Arbeit in Zukunft“ der Kulturstiftung des Bundes von den Freunden der deutschen Kinemathek zusammengestellt und in begleitenden Festivals 2007 auf eine bundesweite Reise geschickt wurde.[11] Der Filmindex der Reihe listet 172 Langfilme, von  denen 128 in den 1990er und 2000er Jahren entstanden sind. Konzentriert man sich bei der inhaltlichen Sichtung auf den Dokumentarfilmbereich, der mit leichtem Übergewicht vertreten ist, so wird dies zu einem Panorama aller denkbaren Facetten des (Arbeits-)Elendes dieser Welt.

Als Interessensschwerpunkte der Filmschaffenden kristallisieren sich die Themen Globalisierung einerseits und Prekarisierung von Arbeit und Arbeitslosigkeit andererseits heraus. Zu einem Klassiker im (zumindest westlich geprägten) Kino der Globalisierung entwickelt sich das Ins-Bild-Setzen von Warenströmen und damit verbundenen Arbeits- als Ausbeutungsverhältnissen weltweit. Wo und unter welchen Verhältnissen wird meine Jeans und mein H&M-Shirt made in China, Bangladesh, Indien, Mexiko hergestellt? Welche menschlichen Schicksale verbinden sich damit?

Das Thema Migration vor allen Dingen in ihrer illegalisierten Variante ist in diesem Kino der Globalisierung ebenfalls gut vertreten, sei es, dass Grenzregionen an den Rändern westlicher und nördlicher Wohlstandregionen in den Blick geraten und damit auch die Protagonisten und Schicksale, die sich mit den mal gelingenden, mal scheiternden Versuchen verbinden, die Grenzen in Richtung gelobter Länder zu queren, sei es, dass das Los einer zunehmenden Zahl von Wanderarbeitenden in China visualisiert wird, und damit Leben unter den neuen kapitalistischen Verhältnissen der Volksrepublik Konturen gewinnt. Der Übergang zum zweiten Themenkomplex Prekarisierung von Arbeit(sverhältnissen) und Arbeitslosigkeit gestaltet sich an diesem Punkt (ineinander)fließend, denn bei den Illegalisierten handelt es sich (neben den Kindern) um die verletzlichsten Glieder im kapitalistischen System der Arbeit, billig ausbeutbare Ressourcen ohne Rechte und Ansprüche. Dementsprechend begibt sich der Dokumentarfilm auch hier auf die Suche, Arbeit und Arbeitende, die in den Wohlstandsgesellschaften meist unsichtbar bleiben, sichtbar zu machen und den System erhaltenden Charakter dieses Arbeitszusammenhanges zu rekonstruieren und anzuklagen.

Beim Thema Arbeitslosigkeit wiederum wendet sich der (euro-amerikanische) dokumentarische Blick überwiegend den eigenen Gesellschaften zu. Die beiden großen Ursachenkomplexe der (Massen-)Arbeitslosigkeit - Untergang des real existierenden sozialistischen Systems zum einen und zum anderen, erneut, „die Globalisierung“ beziehungsweise die befreiten Arbeitsverhältnisse und neuen Standortkonkurrenzsituationen infolge der internationalen Deregulierungs- und Liberalisierungspolitiken seit den 1980er Jahren - finden inzwischen gleichmäßig Beachtung in der dokumentarfilmerischen Bearbeitung. Man begibt sich vor Ort und auf die Mikroebene, beobachtet untergehende Industrien am konkreten Beispiel einzelner Betriebe, die im inter-nationalen Wettbewerb als zu teuer produzierend nicht mehr mitzuhalten in der Lage sind. Oder man verfolgt die längst sichtbaren Wirkungen und sich entfaltenden (Über-)Lebensstrategien von Menschen, Städten, Landstrichen in den im Wachstumssinne abgehängten schrumpfenden Regionen Ostdeutschlands, in den ehemaligen Sowjetrepubliken und EU-Anrainern, aber auch der westeuropäischen Provinzen. Neben einem eher strukturorientierten Zugang erfreut sich der biographische Ansatz großer Beliebtheit, wird das Leben mit der Arbeitslosigkeit oder mit prekären Beschäftigungsverhältnissen über die Porträts einzelner Menschen erzählt. In ihrer Herangehensweise werden bei der Mehrzahl der Filme eher altmodisch-klassische Formen gewählt, d.h. Porträt und Interviewfilm, Langzeitbeobachtung oder historische Dokumentation. Formen, die sich ganz in den Dienst der inhaltlichen Wissensvermittlung, Abbildung und Kommentierung stellen. Und auch, wenn die Bedeutung der dadurch geleisteten Aufklärung über die weltweite Welt der Arbeit nicht herabgesetzt werden soll, so vermisst man doch filmästhetisch, methodisch und inhaltlich experimentellere Formen im Umgang mit dem Thema. Eine wichtige Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang erneut Harun Farocki, der mit seinen Arbeiten gesellschaftliche, arbeits- und lebens-weltliche Veränderungsprozesse seit den späten 1960er Jahren begleitet und in einem filmethnographisch dichten Beschreibungszugriff sichtbar zu machen versteht. Farockis Filme kreisen, will man sie auf einen abstrakten inhaltlichen Nenner bringen, immer um Produktionsverhältnisse, und es ist das beharrliche, teilnahmslos interessierte, entschleunigt konzentrierte Beobachten, das seinen Kamerablick auf die Menschen, die Dinge und das Wie dieser Dinge kennzeichnet: Wie werden Waren produziert, wie Schönheit, wie Überwachung, Strafsysteme und Krieg, wie Shopping-Malls, Marketingkampagnen, Produkt-Images? Und wie menschliche Identität?

In Die Bewerbung (1997)[12] filmt Farocki Bewerbungsübungen und -kurse, in denen Dauerarbeitslose genauso wie Topmanager lernen, sich vor einer Kamera ins rechte Licht zu rücken. Erklärende Kommentare dessen, was dort in verdoppelter Beobachtung entsteht, werden überflüssig, denn in der Montage Farockis vermitteln die Bilder, welches die gesellschaftlichen Normen sind, denen man sich anzupassen hat, welches die Einsatz-strategien des Körpers und der Sprache sind, die Gewinn versprechen, in welchen Verhaltensmustern man sich zu üben hat, um sich im Wettkampf um Arbeit zu bewähren. Im Bewerbungsgespräch muss der ganze Mensch erscheinen, nicht mehr nur seine in Zeugnissen und Noten mess- und bewertbare Eignung, und es wird letztlich auch der ganze Mensch angenommen oder verworfen, wenn seine Bewerbung erfolgreich ist oder wenn sie scheitert. Es gerät in diesem Film nicht nur der boomende Berufszweig der Coaching- und Lebensberatungsindustrie ins Blickfeld. Vielmehr wird im Blick der Kamera auf die Arbeit diese als Instrument der (Selbst-)Beobachtung und (Selbst-)Überwachung kenntlich gemacht, wird ihre unsichtbare, menschliche Identität gebende und formende Arbeit und Macht sichtbar.

Diese Wirklichkeit strukturierende und -intervenierende Macht der Kamera wird ebenfalls in Schöpfer der Einkaufswelten von 2001 mit hervorgearbeitet. Der 70minütige Film fragt danach, wie der Akt des (Ver)Kaufens unter den gegenwärtigen, überwachungstechnologisch gegebenen Möglichkeiten organisiert wird. In alternierenden Szenen führt die Kamera in Strategie- und Planungsrunden, in denen es unter Zugrundelegung verschiedener architektonisch-räumlicher Gegebenheiten immer darum geht, die im Verkauf anreizenden Sinne optimale Infrastruktur zu finden. Wir werden Zeuge des Planungsprozesses zur Kreierung einer Shopping-Mall, bei der alles auf das richtige, menschliche Verhalten im Raum vorausberechnende Arrangement von Läden, Wegenetzen und Aufmerksamkeit bindenden Reizen ankommt; oder beobachten einen Workshop, in dem um den passgenauen, Innenarchitektur und Imagekampagne miteinander verschmelzenden Entwurf eines modernen Corporate Designs für eine Salzburger Trachtenmodenfirma gerungen wird; und landen am Ende vor Supermarktregalen, wo Verkaufsleiter und Firmenvertretern mit Toastbroten in der Hand die im Verkaufssinne beste, vertikale und horizontale Blickachsen mit einkalkulierende Anordnung von Backwaren suchen. Schöpfer der Einkaufswelten macht uns nicht nur mit einem Arbeits- und Berufsfeld bekannt, das kein Mensch braucht, das dafür aber umso wichtiger für das Funktionieren des gegenwärtigen Kapitalismus als Konsumanreizmaschine ist. Es zeigt darüber hinaus, wie weit eine in militärischen Zusammenhängen entwickelte Informations- und Überwachungstechnologie in das Gewebe unseres alltäglichen Lebens längst vorgedrungen, wie weit der Einkaufstrieb des Menschen inzwischen vermessen und ausgeforscht ist. Allgegenwärtige Kameras in den Shopping-Malls berechnen unsere Wege, registrieren, wo unser Blicke und unsere Aufmerksamkeiten hängen bleiben oder zerstreut werden. Versuchssupermärkte werden in virtuellem Raum aufgebaut, um impulsives Kaufverhalten in kalkulierte Planbarkeit zu überführen und „intelligente“ Einkaufswagen machen es möglich, bei jedem Kunden festzustellen, wo er stehen bleibt, welche Waren er in den Wagen lädt und welche er wieder entfernt. Es entsteht das Szenario einer fremdbestimmten Welt, in der der freiwillige Akt des Kaufens längst Teil eines ausgeklügelten Manipulationssystems geworden ist.[13]

Farockis Filme über gegenwärtige Produktions-, Arbeits- und Lebensbedingungen sind für eine Historiographie, die daran interessiert ist, die Geschichte der Arbeit unter Einbezug des Mediums Film zu erforschen, in mindestens zweifacher Hinsicht wichtig. Sie wenden sich Arbeits- und Berufsfeldern zu, die im zeitgenössischen Film, wie er sich in der Work in Progress-Filmreihe präsentiert, nur selten angesteuert werden, nicht zuletzt, weil sie nur geringe Schauwerte zu bieten haben.

Wie die Arbeiterschaft Lumières, so hat auch Farocki die Fabrik hinter sich gelassen, um eine immaterielle Arbeit sichtbar zu machen, wie sie sich im Segment der so genannten postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft entfaltet. Rohstoff dieser Arbeit ist die Kommunikation und Verhandlung, und der Berliner Filmemacher hat im Laufe der Jahrzehnte zu einem äußerst instruktiven Umgang mit der Frage gefunden, diese bildarme Arbeit spannend wie einen Krimi und gleichzeitig Erkenntnis fördernd in Szene zu setzen. Zum zweiten bestechen seine filmethnographischen Beschreibungen dadurch, dass sie die technologischen Entwicklungen, bildsprachlichen Konstruktionsprinzipien und manipulativen Möglichkeiten des Film(en)s mitreflektieren und die konstituierende und intervenierende Macht des Mediums bzw. des Kamerablicks in die Verhältnisse unseres Lebens und seine Darstellbarkeit hervorarbeiten. Genauso wie um die Aufklärung verdeckter gesellschaftlicher Strukturen und Machtmechanismen geht es Farocki in seinen Filmen damit immer auch um die Auslotung der Möglichkeiten eines eigenständig filmischen, nicht an Sprache orientierten Denkens und Wahrnehmens.

Für eine schriftorientierte und im analytischen Umgang mit bewegten Bildern eher ungeübte Geschichtswissenschaft heißt dies auch, dass wir es hier mit einer veritablen Schule und Schulung des Sehens zu tun haben. Sie lehrt, genau hinzusehen und über eine rein inhaltlich fixierte Filmanalyse und Beschäftigung (nicht nur) mit dem Thema Arbeit hinauszugehen.

 


[1] Georg Seeßlen, Überall, wo wir nicht sind, in: die tageszeitung Nr. 7435, 14.8.2004, S. 20-21. Wiederabgedruckt in: Freunde der deutschen Kinemathek e.V. (Hg.), Work in Progress. Kinematografien der Arbeit. Theorie, Kinopraxis, Filmindex, Berlin 2007, S.32-36.

[2] Vgl. Silvia Hallensleben, Aus der Fabrik raus ins Kino, in Freitag Nr. 3, 19.1.2007,  (09.1.2023).

[3] Ein kleiner Querschnitt des inzwischen 40 Jahre und an die 100 Filme umfassenden Schaffens Farockis ist in einer 5teiligen DVD-Box 2009 bei absolut MEDIEN erschienen. Unter den zusammengestellten Filmen befindet sich auch Arbeiter verlassen die Fabrik.

[4] Vgl. zum Folgenden neben dem Filmkommentar auch den Textkommentar Farockis, Arbeiter verlassen die Fabrik, in: Meteor 1, Dezember 1995, S. 49-55. Wiederabgedruckt in: Work in Progress (wie Anm.1), S. 19-24.

[5] Farocki im Filmkommentar.

[6] Farocki, in: Work in Progress (wie Anm.1), S. 22.

[7] Farocki, a.a.O., S.20.

[8] Seeßlen, in: Work in Progress, (wie Anm. 1), S. 32.

[9] Zumindest ist dies der Zwangszusammenhang, in dem sich gegenwärtig weltweit wohl alle Gesellschaften bewegen.

[10] Seeßlen, in: Work in Progress, S. 34.

[11] Siehe dazu: Petra Kohse in diesem Schwerpunkt. Im Begleitband Work in Progress (wie Anm.1) findet sich neben dem Kurzfilmprogramm auch ein hilfreicher Filmindex der ausgewählten Langfilme mit kurzen Inhaltsangaben.

[12] Beide im Folgenden besprochenen Filme finden sich auch in der in Anm. 3 erwähnten DVD-Box.

[13] Vgl. dazu auch die Recherche-Notizen Farockis unter dem Titel Amerikanische Einstellung, in: Jungle World Nr. 34/ 1999, 18.8.1999. Im Netz abrufbar. (09.1.2023). Und Work in Progress, S. 236.