Ein altertümlicher Zug rattert durch die Nacht. Das Licht seiner Scheinwerfer durchtrennt die Dunkelheit, auf beiden Seiten der Gleise erscheinen die dichten Wälder des Altvatergebirges. Für einen kurzen Moment wird ein Provinzbahnhof in gleißendes Hell getaucht. Alois Nebel, der Fahrdienstleiter von Bilý Potok, steht am Fenster seiner Amtsstube und sagt leise den Fahrplan auf. Kursbücher, wird er später seiner Freundin Květa erklären, helfen ihm, sich zu beruhigen. Denn er wird von verstörenden Szenen aus der Vergangenheit heimgesucht. Immer wieder kehrt die Erinnerung an den Abtransport der Deutschen vom Bahnhof in Bilý Potok – damals Weißbach – im Sommer 1945 zurück, den er als kleiner Junge miterlebt hat. Nach einem dieser Flashbacks landet Nebel in einer psychiatrischen Klinik und schließlich arbeitslos auf dem Prager Hauptbahnhof, wo sich im Durcheinander des Umbruchs von 1989 kein Mensch für ihn zuständig fühlt. Allein Frau Květa, die die Bahnhofstoilette führt, nimmt sich seiner an. Bevor es zum zarten Happy End mit Květa kommen kann, müssen Missverständnisse überwunden und ein sinnflutartiges Unwetter überstanden werden. Vor allem aber übt ein stummer Grenzgänger, dessen Identität sich erst spät erschließt, mit seiner Axt auf archaische Weise Rache für das Unrecht, das seiner Mutter 1945 widerfahren ist.
Der Film „Alois Nebel“ ist seit Mitte Dezember 2013 endlich auch in deutschen Kinos zu sehen. Das tschechische Original kam 2011 heraus, hatte im selben Jahr seine internationale Premiere auf dem Filmfestival in Venedig und wurde 2012 als bester Animationsfilm mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. In Tschechien hat er eine ganze Reihe von Preisen erhalten, hier ist Alois Nebel auch mehr als nur ein großer Kinoerfolg. Die Figur des einzelgängerischen Eisenbahners mit der dicken Brille hat längst Kultstatus. Sie ist ein Geschöpf des Autors Jaroslav Rudiš und des Zeichners Jaromír 99 und trat zunächst als Held einer dreiteiligen Graphic Novel auf. Zu dem Phänomen Nebel gehört nicht zuletzt auch die Band Priessnitz, deren Mitglieder selbst aus Jeseníky im Altvatergebirge stammen und seit den 1990er Jahren in verschiedenen Formationen Musik gemacht haben. In ihren Liedern verleihen sie dem Lebensgefühl der tschechischen Provinz an der Grenze zu Polen Ausdruck.
Diese Musik und der eigenwillige Stil des Comic-Romans bestimmen den Film. Die schwarz-weiße holzschnittartige Ästhetik der Graphic Novel wurde bei der Verfilmung durch ein aufwändiges Rotoskopieverfahren erhalten und sogar noch intensiviert. Zunächst drehte Regisseur Tomáš Luňák einen herkömmlichen Spielfilm, dieser wurde dann komplett überzeichnet. Entstanden sind ungewöhnlich lebendig wirkende Zeichentrickfiguren, scherenschnittartige Landschaften in Schwarz- und Grautönen, in denen Bäume, Wasser und Wiesen sich wie natürlich bewegen. Die insgesamt eher kargen Bilder sind mit Verweisen auf den Alltag des späten Sozialismus versehen, im Hintergrund vollzieht sich die „große Geschichte“ seines Niedergangs: Hier ist die Wandzeitung der Gewerkschaftsbewegung ROH schon abgehängt und steht auf dem Boden, um entsorgt zu werden, dort blickt hinter dem Bahnchef Präsident Gustáv Husák auf den Hilfe suchenden Nebel herab. Zeitungsverkäufer, die die neuesten Schlagzeilen ausrufen, und eine Stimme aus dem Radio informieren wie nebenbei darüber, dass Alexander Dubček in die Politik zurückgekehrt ist und Václav Havel zum Präsidenten gewählt wird.
Der Film „Alois Nebel“ bewegt sich zwischen zwei historischen Umbrüchen, die als persönliche Dramen erzählt werden: Die Ereignisse des Jahres 1945 in Bilý Potok/Weißbach erschließen sich in drei kurzen Rückblenden, die Nebels Trauma erklären und den Hintergrund für die Geschichte des stummen Fremden bilden. Der Herbst 1989 ist die Gegenwart, in der Nebel sein aus den Fugen geratenes Leben neu ordnen muss. Er und seine späte Liebe Květa sind stille, altmodische Figuren und gerade in ihrer unzeitgemäßen Art die Sympathieträger des Films. Dagegen erscheinen die Bewohner von Bilý Potok, die das System für ihre Interessen zu nutzen wissen, extrem abstoßend: Schmuggler und Schwarzhändler, die Polizei und der Chef der Nervenklinik stecken alle unter einer Decke. Gut und Böse werden also überdeutlich markiert, was sich auch in den Gesichtern und der Sprache der Protagonisten ausdrückt. Besonders unsympathisch ist der Weichensteller Wachek, der auf Nebels Posten gerückt ist, als dieser aus der Klinik zurückkehrt. Allein die Figur des Stummen, der über die Grenze kommt, um Rache zu üben, ist ambivalent angelegt. Der stille Fremde irritiert aber nicht in seiner Doppelrolle als Opfer und Täter, sondern weil er, der viel Raum im Film einnimmt, unzureichend in die Erzählung integriert ist. Zwar baut das Rätsel um seine Person Spannung auf, doch wirkt die Geschichte des Mannes, der nach über 40 Jahren die polnisch-tschechoslowakische Grenze illegal überquert, um den Vater zu suchen und zu richten, der ihn durch eine Vergewaltigung gezeugt hat, reichlich abwegig. Das stille Verständnis, das sich zwischen Nebel und dem unbekannten Mann einstellt, die unausgesprochene Verbindung beider Männer über die traumatische Vergangenheit und die Splatter-Movie-Szene, mit der sich der Fremde dieser Vergangenheit entledigen will, bleiben unvermittelt nebeneinander stehen.
Das kathartische Ende mit Unwetter und blutigem Mord ist bewusst plakativ inszeniert, daneben deutet der Film anderes nur an und überlässt es dem Zuschauer, seine Schlüsse zu ziehen. Wird der Erinnerungsschub, der Nebel in die Psychiatrie bringt, davon ausgelöst, dass er sieht, wie der Fremde am Bahnhof von Bilý Potok von Wachek und der Polizei brutal zusammengeschlagen wird? Welche Rolle spielt Wachek, der als Schieber und Spitzel überall mitmischt, für diese Einlieferung? Und ahnt Nebel, wer der geheimnisvolle Mann ist, der nicht spricht, aber ein Foto vom Bahnhof Bilý Potok/Weißbach bei sich trägt, das die Beteiligten des Dramas vom Juni 1945 zeigt? Sicher ist nur, dass der Weg des Alois Nebel, der mit seiner Vertreibung aus dem Bahnwärterhäuschen beginnt, letztlich zu einer vorsichtigen Öffnung führt. Die Revolution ist vorbei, die Sowjetarmee zieht ab, das Wasser hat die Schmuggelware davongerissen. Und Nebel hat unter den schrägen Vögeln am Prager Hauptbahnhof nicht nur Kumpel, sondern auch die Liebe gefunden. Was dieser Neubeginn bedeutet, bleibt offen und so heißt es im Lied „Mimosezóna“ von Priessnitz auch, dass es nicht schadet, eine Flasche Schnaps zur Hand zu haben, wenn der Winter vorüber ist, das Eis bricht und das Frühjahr kommt ...
Der größte Teil der Geschichte des Alois Nebel spielt im Jahr 1989. Viele Details, die diese Zeit symbolisieren – etwa die Langhaarigen in der psychiatrischen Klinik oder Nebel, der Frau Květa beim Abzählen und Falten des Toilettenpapiers hilft – verweisen auf die repressiven Seiten des Staatssozialismus und die Mangelwirtschaft. Auch die Gesellschaft des tschechisch-polnischen Grenzlandes wird wenig schmeichelhaft porträtiert. Wenn die Schmuggler und Schieber die von Václav Havel erlassene Amnestie abfällig kommentieren und klagen, in der neuen Zeit herrschten keine Sicherheit und Ordnung mehr, bleibt einem das Lachen im Halse stecken.
Diese Seite des Films ist bisher kaum diskutiert worden, die Aufmerksamkeit der Medien hat sich überwiegend auf die Darstellung der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konzentriert. Mit der Thematisierung tschechischer Täterschaft gehört „Alois Nebel“ zu einer ganzen Reihe neuer Filme, die mit jahrzehntelangen Tabus brechen, zuletzt hatte der Film „Habermann“ (Habermannův mlýn, 2010) großes Aufsehen in Tschechien und Deutschland hervorgerufen. Während „Habermann“ um differenzierte Charaktere bemüht ist, wird in „Alois Nebel“ mit dem alten Wachek, dem Vater sowohl des intriganten Schiebers als auch des stummen Rächers eine ungebrochen negative Figur präsentiert. Der Alte hat offenbar mit den deutschen Besatzern kollaboriert, bei der „nationalen Säuberung“ nach Kriegsende tut er sich besonders hervor, nutzt den rechtsfreien Raum, um eine persönliche Rechnung zu begleichen. Dem Film geht es aber nicht primär um das Schicksal dieses Bösen, der am Schluss nicht überrascht ist, mit seiner Tat von 1945 konfrontiert zu werden, er erzählt vor allem von der langfristigen Wirkung dieser Gewalt und des Schweigens, das sie umgibt. Die unbewältigte Erinnerung, mit der Nebel neben dem Täter von damals lebt, kann er nur durch das mantrahafte Zitieren des Fahrplans in Schach halten. Als seine Routine durch das Auftauchen des Fremden gestört wird, ist die mühsam aufrechterhaltende Ruhe dahin. Damit steht Nebel – der Name spielt nicht nur auf die Zustände des Eisenbahners an, die dieser selbst als Nebel (mlha) bezeichnet, sondern kann auch als Anagramm auf das deutsche Wort Leben verstanden werden – für eine Gesellschaft, die an ihren unterdrückten Traumata leidet.
Der Film „Alois Nebel“ ist ein kleines Kunstwerk. Das liegt weniger an seinem Plot, der stellenweise recht konstruiert wirkt, als an seinem liebenswerten schrulligen Helden, dem kleinen Eisenbahner, der einen Weg findet, mit der Last der Vergangenheit klarzukommen und dabei doch er selbst bleibt. Diese Geschichte wird in schwarz-weißen Bildern erzählt, die wenig mit dem zu tun haben, was man für gewöhnlich mit Zeichentrickfilmen verbindet. Eher erinnern sie an lebendig gewordene Holzschnitte von Frans Masereel.
Wer mehr von Alois Nebel erfahren möchte, für den steht nicht nur die Romantrilogie, sondern inzwischen auch der zweite Band mit Geschichten aus dem Altvatergebirge, „Leben nach Fahrplan“, ins Deutsche übertragen von der wundervollen Übersetzerin Eva Profousová, zur Verfügung.
Website zum Film: http://www.aloisnebel.cz/?lang=de
deutsche Website zur Graphic Novel: http://www.aloisnebel.de/
Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de