von Katrin Stoll

  |  

11. Mai 2023

Am 19. April 2023 jährte sich der Beginn des jüdischen Aufstandes im Ghetto in Warschau zum 80. Mal. Es war die erste Erhebung einer unbewaffneten Stadtbevölkerung gegen die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Die deutschen Besatzer hatten das Ghetto (1940–1943) in Warschau für ein Drittel der Stadtbevölkerung am 2. Oktober 1940 mitten im Zentrum in unmittelbarer Nachbarschaft zur katholisch-polnischen Bevölkerung innerhalb eines Gebietes errichtet, das sie als „Seuchensperrgebiet“ bezeichneten. Zwischen dem 22. Juli 1942 und dem 21. September 1942 deportierten die Deutschen und ihre Helfer vom sog. Umschlagplatz in der Stawki-Straße ca. 300 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus dem Ghetto in das 100 km von Warschau entfernt und von Feldern umgebene NS-Vernichtungslager Treblinka II. Unter den in Treblinka Ermordeten waren auch deutsche Juden und Jüdinnen, die im März und April 1942 aus mehreren Städten des Deutschen Reiches nach Warschau deportiert worden waren.

Nachdem die Jüdische Kampforganisation (Żydowska Organizacja Bojowa) im Januar 1943 zum ersten Mal bewaffneten Widerstand geleistet hatte, bereitete sich die im Ghetto verbliebene Bevölkerung in Warschau auf den Tag der Liquidierung durch die Deutschen vor. Am 19. April 1943 um vier Uhr morgens drangen die Deutschen mit schwerem militärischem Kriegsgerät ins Ghetto ein. Sie trafen auf bewaffneten Widerstand jüdischer Kämpfer*innen, die nur über wenige Pistolen verfügten. Nachdem sich die Deutschen aus dem Ghetto zurückziehen mussten, gingen sie dazu über, es niederzubrennen. Haus für Haus. Die Bilder der sich aus den brennenden Häusern stürzenden Menschen, die riesigen Flammen und die unerträgliche Hitze haben sich den wenigen Überlebenden des Ghettoaufstandes tief ins Gedächtnis eingegraben. Die jüdischen Aufständischen waren auf sich alleingestellt. Sie halfen sich in dieser aussichtslosen Situation selbst, wie das Beispiel von Kaziks Befreiungsaktion einer Gruppe von Kämpfer*innen aus dem brennenden Ghetto beweist. Die Mehrheit der Aufständischen überlebte aufgrund der Radikalität der NS-Vernichtungspolitik und deutsch-polnischer Zusammenarbeit bei der Ermordung der Juden und Jüdinnen nicht. Der Beitrag analysiert die historische Konstellation und verweist auf blinde Flecken der deutschsprachigen Historiographie, die, den „polnischen Kontext“ (Elżbieta Janicka) und polnischsprachige Quellen und Literatur ausklammernd, zu Kurz- und Fehlschlüssen neigt.

Der Text ist eine Antwort einer Historikerin und Wahlwarschauerin auf einen Beitrag, der am 24. April 2023 unter dem Titel „Kein einziger deutscher Historiker forscht derzeit darüber“ in der FAZ erschien. Unwahr ist, dass sich „derzeit nicht ein einziger deutscher Wissenschaftler mit dem Warschauer Ghettoaufstand“ beschäftigt, wie René Schlott schreibt.

Katrin Stoll forscht seit Jahren in situ zum geographischen Zentrum der Shoah, d.h. in Polen. Beim folgenden Text handelt sich um einen Auszug aus einem Vortrag, den sie am 26. April 2023 auf Einladung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft AG Köln in der Synagogen-Gemeinde in Köln hielt. Der Vortragstitel lautete: „Zur Spezifik und Topographie des (ehemaligen) Ghettogeländes in Warschau. Vergangenheit und Gegenwart eines Ortes der Shoah.“

 

Prolog: Warschau und Treblinka als Zentrum

Das in der Historiographie gezeichnete Bild der Tatorte der Shoah als abgelegen und abgekoppelt von der Umgebungsbevölkerung, sowohl während der deutschen Besatzung in Osteuropa als auch danach, gilt es zu revidieren. Polen im Allgemeinen sowie Warschau und Treblinka im Besonderen waren das geographische Zentrum des von den Deutschen verübten Mordes an den europäischen Juden und Jüdinnen während des Zweiten Weltkrieges.

Richard Glazar, Überlebender des NS-Vernichtungslagers Treblinka II, das die SS zum Zweck der Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder aus dem Warschauer Ghetto auf den Feldern der Gemeinde Wółka Okrąglik in der Nähe des Dorfes Treblinka[1] hatte erbauen lassen, bezeichnete Treblinka als Zentrum, an dessen Weiterexistieren alle, die von der Ermordung der Juden und Jüdinnen und ihrer Ausplünderung profitierten, ein Interesse hatten. Die Umgebung von Treblinka war auch eine Art Handelszentrum für die polnisch-christliche Bevölkerung. „[…]‚ein gleich großes Stück Brot‘,“ erzählte der polnische Jude David Brat dem jüdischen Arbeitssklaven in Treblinka Richard Glazar, für das du irgendwo im mittleren Polen zwanzig Zloty bezahlt hast‘, koste ‚östlich von Warschau doppelt so viel, und je mehr du dich Treblinka nähern würdest, um so teurer wäre es; in Treblinka selbst müßtest Du für eine Portion dreihundert Gramm fünfhundert Zloty oder zehn Dollar oder fünf goldene Rubel bezahlen. […] Die großen Spekulanten sitzen daheim, in Warschau, in Lublin, wo es sogar spezielle Organisationen geben soll, die ihre Leute mit vollgeladenen Fahrzeugen zu den Hütten um Treblinka herum schicken. Alle haben ein Interesse daran, daß Treblinka weiter bestehe, daß es das wertvolle Nebenprodukt abwerfe – Geld, Gold, Diamanten.‘ […]. Ein anderer polnischer Jude namens Lublink warnte Glazar und seinen Freund Karl Unger: „‚Sollte es euch durch irgendein Wunder gelingen, herauszukommen, dann dürft ihr nirgends merken lassen, ihr seid auf der Flucht aus Treblinka. […] Die Kleider würden sie euch stückweise bis auf den nackten Körper herunterreißen, totschlagen würden sie euch und dann vielleicht noch prüfen, ob ihr nicht Gold bei euch versteckt habt. ….“‘[2] Der Versuch, unter polnischen Nachbar*innen auf der „arischen“ Seite zu überleben, war für als Juden kategorisierte Menschen insbesondere während der von den Deutschen durchgeführten „Aktion Reinhardt“, d.h. der Ermordung aller Juden und Jüdinnen im Generalgouvernement und im Bezirk Bialystok, eine zermürbende Erfahrung. Richard Glazar wusste, dass es außerhalb von Treblinka, wo die Deutschen mindestens 900 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder grausam ermordeten, „keine Hilfe“[3] geben würde.

 

April 1943 im deutsch besetzten Warschau: Jüdische Selbstverteidigung

Am 1. April 1943 notierte eine junge jüdische Warschauerin namens Maryla, die in den Ghettobetrieben des Bremer Unternehmers Walter C. Többens beschäftigt war, u.a. Folgendes:

„Zusammen mit dem ersten Hauch des Frühlings kommen zu uns umso massenhafter Menschen, die vergeblich versucht hatten, ihr so sehr bedrohtes Leben auf der arischen Seite zu schützen. Die massenhafte Rückkehr ins Ghetto ist geradezu beunruhigend, aber man kehrt zurück, es gibt noch ein wohin, noch kehrt der zu seiner Mutter zurück und jener […] zu seiner Ehefrau, noch sind die Brücken nicht abgebrannt, man kann noch zwischen der einen und der anderen Falle lavieren, noch ist die Rückkehr nicht abgeschnitten. Also kehrt man zurück. Die Geschichten dieser Rückkehr, die Geschichten des Überlebens hinter der Mauer sind noch ein weiterer Beitrag zum gesamten Martyrologium unserer Geschichte, die sich gar nicht in Worte fassen lässt. Die Bekannten, die ich vor einigen Tagen erwähnte, kamen vor einigen Tagen zurück. Als ich eintrat, um sie zu begrüßen, hatte ich den Eindruck, dass ich vor mir ein Gespenst von blassen, ausgemergelten Gesichtern und verängstigten und traurigen Augen hatte.“[4]

Die deutschen Besatzer ermordeten die Bewohner*innen des Ghettos (1940–1943) in Warschau in mehreren Etappen. Die letzte Etappe begann am 19. April 1943. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch ca. 50 000 Juden und Jüdinnen im Ghetto, das sich im Herzen der Stadt im deutsch besetzten Polen befand.[5]

Kulturpalast in Warszawa. Ehemalige südöstliche Ghettogrenze. Projekt: Eleonora Bergman & Tomasz Lec (2008). Foto: Katrin Stoll

In seinen Erinnerungen, die 1984 auf Hebräisch in Israel erschienen, schreibt Simha Rotem „Kazik“ über den Morgen des 19. April 1943:  

„Am 19. April [1943] um vier Uhr morgens sahen wir deutsche Soldaten auf ihrem Weg ins Hauptghetto die Nalewki-Kreuzung passieren. Sie marschierten, endlos. Nach ihnen kamen Panzer, Panzerwagen, leichte Artillerie und Hunderte Männer der Waffen-SS auf Motorrädern. ‚Als ob sie in den Krieg ziehen‘, sagte ich zu Cypora, meiner Kameradin auf dem Posten. Plötzlich spürte ich, wie schwach wir waren. Wer waren wir, was zählte unsere Widerstandskraft gegen Panzer und Panzerwagen? Wir hatten nur Pistolen und Handgranaten. Dennoch blieb mein Kampfgeist unerschüttert. Endlich kam die Zeit, mit ihnen abzurechnen.“[6]                  

Es waren junge Männer und Frauen der Żydowska Organizacja Bojowa (ŻOB), der Jüdischen Kampforganisation,[7] die sich am 19. April 1943 den nationalsozialistischen Plänen entgegenstellten, die Überlebenden der ehemals größten jüdischen Gemeinschaft in Europa im 90 km von Warschau entfernten und von Feldern umgebenen NS-Vernichtungslager Treblinka II zu ermorden. Auf die Frage Hanna Kralls, warum sie den 19. April, den Vorabend des Pessach-Festes, auswählten, antwortete Marek Edelmann:

„Es waren nicht wir, die diesen Tag festsetzten. Das waren die Deutschen. An diesem Tag sollte die [endgültige] Liquidierung des Ghettos beginnen. Es erreichten uns Telefonate von der arischen Seite, dass sie sich vorbereiten, dass sie schon von außen die Mauern umstellten. Am 18. abends versammelten wir uns bei [dem Kommandeur] [Mordechaj] Anielewicz[8], alle fünf, der Stab. Ich war vermutlich der älteste, ich war damals 22 Jahre alt. Anielewicz war um ein Jahr jünger, zusammen waren wir fünf 110 Jahre alt.“[9] 

Edelman war der Stellvertreter Anielewiczs während des Aufstands im Warschauer Ghetto. Worum ging es dem jungen Bundisten Edelman, der gesehen hatte, wie die Deutschen vom 22. Juli bis 21. September 1942 vom Umschlagplatz in der Stawki-Straße in Warschau ca. 300 000 Männer, Frauen und Kinder in das NS-Vernichtungslager Treblinka deportiert hatten? „Es ging darum, die Art des Sterbens zu wählen.“[10] Icchak (Yitzak) Cukierman (Zuckerman) „Antek“, der am 28. Juli 1942 mit Vertretern der drei zionistischen Jugendorganisationen Haschomer Hazair, Dror und Akiwa die Żydowska Organizacja Bojowa (ŻOB)[11] gegründet hatte und zusammen mit Anielewicz und Edelman an der Spitze der Organisation stand, schreibt in seinen Erinnerungen: „Und es hat keine Bedeutung, ob ich am 13. April [1943] auf die arische Seite geschickt wurde oder nicht. Das war ein Element des Aufstandsplans. [...]. Wir wussten, dass unser Leben endet. Es blieb nur die Frage: wann es endet und wie es endet.“[12] Als Verbindungsoffizier der ŻOB sollte Cukierman Kontakt mit dem polnischen Untergrund aufnehmen. Er ersetzte Arie (Jurek) Wilner, der in Folge einer Denunziation im März 1943 bei einer Wohnungsdurchsuchung auf der „arischen“ Seite von der Gestapo verhaftet worden war.[13] Die Umstände seiner Verhaftung verschlechterten die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen der ŻOB und der Armia Krajowa (AK), der Heimatarmee. Der polnische Untergrund unterstützte die Idee der Selbstverteidigung in den Ghettos nicht.[14] Auf Cukiermans Forderung gegenüber einem Vertreter der AK, Waffen in das belagerte Ghetto zu liefern, wurde nicht reagiert. Als er forderte, Autos und Leute rechtzeitig bereitzustellen, um die überlebenden jüdischen Kämpfer*innen aus dem Ghetto zu holen, erzählte ihm ein Sprecher des polnischen Untergrunds die Lüge, dass das Ghetto eine Basis Sowjet-Russlands sei und „die Russen“ den Aufstand vorbereitet hätten. Er sei sicher, sie würden am Tag der Arbeit im Warschauer Ghetto landen.[15] In Wirklichkeit waren die Ghettokämpfer*innen während des Aufstandes auf sich alleingestellt. Cukierman schreibt: „Der Aufstand dauerte über einen Monat – bis Mitte, sogar bis Ende Mai. Aber der aktive Aufstand dauerte nur fünf Tage, vom 19. bis zum 23., vielleicht bis zum 24. April. In diesem Zeitraum attackierten unsere Abteilungen am Tag, und nachts organisierten sie sich für die weiteren Kämpfe.“ Und weiter: „In Wirklichkeit war der Aufstand nicht am 16. Mai beendet, wie Stroop in seinem Bericht behauptet. Die Mehrheit der deutschen Einheiten verließ das Ghetto am 8. Mai, in der Nacht.“[16] Es waren Juden und Jüdinnen, die sich in einer ausweg- und aussichtslosen Situation gegenseitig halfen.

 

Jüdische Selbsthilfe nach der Mordaktion im Sommer 1942 in Warschau und Treblinka

Wegweisend war der erste bewaffnete Widerstand im Ghetto im Januar 1943. Wie kam es dazu? Nach den Deportationen im Sommer 1942 errichteten die Deutschen ein Restghetto oder Rumpfghetto, in dem sich noch ca. 50 000 Menschen befanden. Davon hatten ca. 35 000 eine offizielle Genehmigung, entweder vom Judenrat oder den „Läden“ („szopy“ auf Polnisch), d.h. sie arbeiteten in den Betrieben und Fabriken im Ghetto.[17] Das Restghetto war eine Art Arbeitslager. Die verbliebenen Juden, meist junge Frauen und Männer[18], Überlebende ihrer von den Deutschen in Treblinka ermordeten Familien, wurden in verschiedenen Teilen des Ghettos untergebracht, die nicht miteinander verbunden waren.[19] Sie durften nicht von einem Teil zum anderen gehen, was die Aufstandsvorbereitungen erschwerte. Die Enklaven[20] waren von Gebieten umgeben, in denen sich als Juden kategorisierte Menschen ohne offizielle Genehmigung nicht aufhalten duften. Die jüdischen Arbeiter*innen mussten in geschlossenen Wohnblocks bei den deutschen Betrieben leben. Diese arbeiteten in Eigenregie für die Belange der Wehrmacht, obwohl Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler im Oktober 1942 verlangt hatte, sie ‚an Ort und Stelle‘ in einem KZ zusammenzufassen und dem Amt D im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt zu unterstellen. Bei seinem Besuch in Warschau am 9. Januar 1943 forderte Himmler erneut ‚die sofortige Ausschaltung der privaten Firmen‘ und verlangte vom SS- und Polizeiführer SS-Oberführer Dr. Ferdinand v. Sammern-Frankenegg  die Verlagerung der Betriebe und der Arbeitskräfte nach Lublin und Umgebung innerhalb von sechs Wochen.[21] Diejenigen, die nicht in Rüstungsfirmen arbeiteten, ca. 8000 Menschen, sollten nach dem Willen Himmlers nach Treblinka deportiert und dort ermordet werden.

Als die SS die Deportationen nach Treblinka am 18. Januar 1943 wiederaufnahm, leistete die Jüdische Kampforganisation mit Anielewicz an der Spitze bewaffneten Widerstand. Die Ghettobewohner*innen weigerten sich zur Selektion anzutreten, weil sie fürchteten, dass die Deutschen beabsichtigen alle ohne Ausnahme zu deportieren und zu ermorden. Die Deutschen brachen die Deportationen ab. Sie verschleppten „nur“ 5 000 Menschen in das Todeslager Treblinka, was als „Erfolg“ der ŻOB angesehen wurde.[22] Vladka Meed, die als Kurierin für die ŻOB auf der „arischen“ Seite in Warschau tätig war, bezeichnete den 18. Januar 1943 im Rückblick als „Wendepunkt“.[23] Die Deportationen und die Verteidigung im Januar 1943 hatten laut Yisrael Gutman insofern „einen kolossalen Einfluss auf die weiteren Ereignisse“, als die Juden und Jüdinnen sich „in einer Situation ohne Ausweg an ein Fünkchen Hoffnung klammerten“ und im Kampf einen richtigen Weg zur Rettung sahen.[24] In Erwartung neuer Deportationen begann die Ghettobevölkerung im Winter 1942/1943 damit, auf dem Ghettogelände Kellerverstecke anzulegen und Häuser unterirdisch miteinander zu verbinden. Es war eine Form jüdischer Selbsthilfe. Auf der „arischen“ Seite war das Risiko für jüdische Warschauer*innen, sich zu verstecken und von polnischen Nachbar*innen an die Deutschen ausgeliefert zu werden, viel zu groß. Allein eine bezahlbare Bleibe zu finden, war angesichts der Situation auf dem „Verstecke-‚Markt‘“[25] schwierig. Maryla schreibt in ihrem Tagebuch über horrende Preise, die jüdische Warschauer*innen für die Miete von Wohnungen auf der anderen Seite der Mauer an polnische Vermieter*innen zahlen mussten. Die Preise schossen insbesondere während der Deportationen in die Höhe: „Von jemandem wurden 1000 Złoty für eine Übernachtung gefordert, das war in der Zeit, als die Aktion hier wie verrückt tobte, also sprangen die Preise entsprechend der Konjunktur in die Höhe.“[26]

Verstecke mussten folglich im Ghetto angelegt werden. Yisrael Gutman schreibt, im Ghetto habe sich „eine Art ‚Bunker-Manie‘“[27] ausgebreitet. Die gesamte Ghettobevölkerung habe gut ausgestattete und „sophisticated“ Bunker gebaut, in denen man sich eine längere Zeit habe versteckt halten können. Das Bunkersystem war, so Gutman, ein „integraler Bestandteil des Widerstandsprogramms“[28], auch wenn es keine direkte Verbindung zwischen den Bunkerbauern und der ŻOB gegeben habe. Beide seien sich dessen bewusst gewesen, dass sie auf das gleiche Ziel hinarbeiteten.[29] Was war das Ziel? Simha Rotem sagte später in einem Interview zum Ereignis des April-Aufstands: „Was wir wollten, war zu wählen, wie wir sterben. Und das ist alles.”[30] Masza Glajtman Putermilch sagte Anka Grupińska rückblickend: „Wir wollten den Moment erleben, in dem wir uns würden verteidigen können, den mitat kavod erleben.“[31]

 

Antwort auf die „Großaktion“ im April und Mai 1943 in Warschau

SS-General Stroop, der nach dem anfänglichen Rückzug der Deutschen den Befehl erhalten hatte, den jüdischen Aufstand niederzuschlagen, glaubte, dies innerhalb weniger Tage tun zu können. Weit gefehlt. Kazik schreibt rückblickend, in „den ersten drei Tagen des Aufstands“ sei es den Deutschen nicht gelungen, „auch nur einen einzigen Juden aus den Häusern zu holen“. Die Täter änderten ihre Taktik: „Als ihre Versuche, ins Getto einzudringen, scheiterten, beschlossen sie – um Verluste zu vermeiden –, das Ghetto mit Hilfe von Artillerie und Luftbombardement von außen zu liquideren. Nach einigen Tagen war das Ghetto restlos zerstört. Diejenigen, die überlebten, blieben in den Bunkern.“[32] Die Deutschen trauten sich nach Kaziks Erinnerung nur tagsüber ins Ghetto – in der Annahme, es seien nur noch wenige am Leben. „Nachts waren sie vorsichtig und blieben außerhalb der Mauern. Während der Nächte herrschte die ŻOB über das Ghetto, und man konnte sich gefahrlos zwischen den Ruinen bewegen. Tatsächlich fanden alle Kontakte zwischen den Gruppen, die Versorgung mit Lebensmitteln und die Suche nach Überlebenden oder Leichen nachts statt.“[33] Aus den Tagesmeldungen des SS-Brigadeführers und Generalmajors der Polizei Jürgen Stroop[34] geht in der Tat hervor, dass die Deutschen sich abends aus dem Ghetto zurückzogen und die von ihnen so genannte „Großaktion“ morgens fortsetzten. Sie brannten das gesamte „Restghetto“ nieder. Haus für Haus. Sie erschossen Menschen vor Ort. Sie trieben Menschen aus den Bunkern zum Umschlagplatz und von dort nach Treblinka. Das Ziel der SS lautete vollständige Vernichtung.[35]

Auf einem Foto, das der polnische Feuerwehrmann Zbigniew Leszek Grzywaczewski vermutlich am 20. April 1943 von einem Gebäude in der Nowolipie-Straße machte, sind mehrere Deutsche und zwei Feuerwehrmänner zu sehen. Auf der Rückseite des Fotos findet sich folgender Kommentar des Fotografen: „etwa 20.4.1943. In Brandsetzen der von der jüdischen Bevölkerung verlassenen Häuser während der Evakuierung. Aus dem mit X (Balkon) gekennzeichneten Fenster sprang eine ganze jüdische Familie von 5 – 6 Personen und erlitt den Tod an Ort und Stelle. Weil sie sich versteckten und nicht zur Evakuierung gingen, konnten sie nach In-Brandsetzung nicht aus dem Haus fliehen, und wir konnten ihnen nicht helfen. Trotz technischer Möglichkeiten.“[36] Zu dieser Bildunterschrift ließe sich ein eigenes Seminar abhalten. Hier seien nur drei Punkte genannt: 1. „Evakuierung“ ist Tätersprache. 2. Der Feuerwehrmann stellt sich als passiver Zeuge der antisemitischen Gewalt dar, an der er aktiv teilnahm. 3. Polnische Feuerwehrleute, die eine besondere Wertschätzung von der polnischen Gesellschaft erfuhren und erfahren, insbesondere zu Ostern,[37] nahmen nicht nur in Warschau, sondern auch an vielen anderen Orten zusammen an den von den Deutschen organisierten und durchgeführten Liquidierungen der Ghettos teil. Die Bilder des brennenden Ghettos haben sich den wenigen Überlebenden tief ins Gedächtnis eingegraben. Kazik: „Das sich schnell ausbreitende Feuer im Ghetto machte den Aufenthalt in den Bunkern unerträglich. Auch unser Bunker füllte sich mit Rauch, und als wir nicht länger bleiben konnten, beschlossen wir, einen Weg ins Hauptghetto zu suchen. Wir versammelten uns im Hof. Dieses Bild werde ich nie vergessen: Es war Nacht, aber die Flammen beleuchteten die Umgebung wie zur Mittagszeit. Ringsherum brannte alles. Man hörte die krachend einstürzenden Häuserwände. Wir mussten, von Feuerflammen umgeben, durch brennende Geschäfte. Die Hitze war unerträglich. In den Hinterhöfen schmolzen die Glasscherben.“[38] Außerhalb des Ghettos ging die polnische Polizei auf die von den Deutschen so genannte „Judenjagd“,[39] während die Deutschen das Ghettogelände dem Erdboden gleichmachten.

Fotoplan Warszawy. Nördlicher Teil Warschaus im Juni 1945. Zu sehen ist das ehemalige Ghettogelände, das die deutschen Besatzer nach dem Ghettoaufstand am 19. April 1943 dem Erdboden gleichmachten. Links die unzerstörte St. Augustinus-Kirche in der Nowolipki-Straße, Quellenangabe: Archiwum Państwowe m.st. Warszawy, Kolekcja materiałów teledetekcyjnych, nr. zespołu 2078, sygn. F3.

Kazik, der am Abend des 9. Mai 1943 um 22 Uhr in die Abwasserkanäle stieg[40] mit dem Ziel, seine noch verbliebenen Kameraden aus dem Ghetto zu holen, lief, auf der Suche nach Überlebenden, völlig verzweifelt verschiedene Straßen des abgebrannten Ghettos ab. Er begegnete niemandem. Nur Leichen. Von Toten umgeben, erwog er, Selbstmord zu begehen:  

„Das Ghetto war restlos abgebrannt. Überall lagen Leichenhaufen – auf den Straßen, in den Höfen und zwischen den Trümmern. Eine plötzliche Ruhe überkam mich: Ich fühlte mich so wohl zwischen den Ghettoruinen, inmitten von toten Kameraden, die mir einst teuer waren, dass ich dort bleiben, den Tagesanbruch und das Kommen der Deutschen abwarten, so viele wie möglich von ihnen umbringen und schließlich selber fallen wollte. Vor meinen Augen lief, wie in einem Film, in rasender Geschwindigkeit mein ganzes Leben ab. Ich sah mich als letzten Juden des Warschauer Ghettos im Kampf fallen. Ich spürte, dass ich zwischen klarem Bewusstsein und Wahnsinn schwebte. Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es mir, mich von dem Gedanken an Selbstmord loszureißen und den Entschluss zu fassen, zu den Abwasserkanälen zurückzukehren.“[41]

Am 8. Mai 1943 nahmen sich der Kommandeur Mordechaj Anielewicz und über hundert jüdische Kämpfer*innen im Bunker der ŻOB in der Miła-Str. 18 das Leben.

Gedenkstein in der Miła-Straße 18, Warszawa. Foto: Katrin Stoll (8. Mai 2021).

Umzingelt von den Deutschen und zuvor vergeblich auf die Pläne des Kanalisationssystems wartend, nahmen sich einige Kämpfer*innnen das Leben, um sich der antisemitischen Gewalt zu entziehen. Andere wurden von den Deutschen grausam ermordet. Kaziks Kameraden erzählten ihm damals, der Bunker in der Miła-Straße sei im Laufe des 8. Mai entdeckt und „von allen Seiten umstellt“ worden. Nachdem „die Deutschen die Lüftungslöcher entdeckt hatten, leiteten sie Giftgas hinein. Im Bunker waren fast hundert Mitglieder der ŻOB versammelt, an ihrer Spitze der Kommandant Mordechaj Anielewicz. Sie waren erschöpft, zerschlagen, hungrig, in einer ausweglosen Lage… Ein Teil der Kämpfer[*innen] nahm sich das Leben, die anderen versuchten auszubrechen und fielen am Bunkereingang.“[42] Icchak Cukierman (Zuckerman) schreibt im Rückblick über die Reaktion der AK auf seine Bitte um Hilfe:

„Am 8. Mai 1943 wandte ich mich an die Leute aus der AK mit der Bitte um Hilfe beim Herausführen der restlichen Kämpfer*innnen aus dem Ghetto, aber sie wollten nicht nur mit dem Aufstand Schluss machen, sondern auch mit den Aufständischen. Als Kämpfer*innen waren wir – aus Sicht der AK – auf polnischem Boden überflüssig. Ich will damit nicht sagen, dass es unter ihnen keine Menschen gab, für die der humanitäre Aspekt wichtig war. Aber ihre Organisation war nicht darauf eingestellt. Die AK war keine Hilfsorganisation, sondern eine Militärorganisation. Und als solche brauchten sie uns weder im kämpfenden Ghetto, noch im arischen Teil Warschaus. Wir waren für sie auch im Partisanenkrieg überflüssig – als Juden waren wir überall überflüssig. Sie schlugen uns zwar vor, zu den Partisanen zu gehen, aber sie töteten uns. Auch im Partisanenkrieg töteten sie uns – die Partisanen selbst.“[43]

Die Kulturwissenschaftlerin Elżbieta Janicka schreibt in ihrem Buch Festung Warschau: „Zwischen dem 1. Mai und dem 10. Mai hätte man viel machen können. Für die Mitglieder der ŻOB, die um Hilfe bei der Rettung von Leben baten, hätte man alles machen können.“[44] Die Überlebenden des April-Aufstands wussten, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen konnten. Es war der Ghettokämpfer Simha Rotem „Kazik“, dem es am 10. Mai 1943 gelang, eine Gruppe von 40 Aufständischen, darunter Edelman, Masza Glajtman Putermilch, und Cywia Lubetkin durch die Kanalisation aus dem Ghetto zu befreien. Indes, mit einem Lastwagen „in Sicherheit bringen“[45] konnte Rotem seine Kameraden nicht, da es für Juden und Jüdinnen auf der „arischen Seite“ keine Sicherheit gab. Aufgrund der antisemitischen Gewalt konnten nicht alle, die in der Kanalisation ausharrten, in den wartenden Lastwagen steigen. Kaziks bester Freund Szlamek (Szlomo) Schuster, Mitglied der Gruppe Dror, der während des Aufstands in einer Einheit von Hanoch Gutman auf dem Gebiet der Bürstenmacher*innen gekämpft hatte, verblieb mit einer Gruppe in der Kanalisation, wo sie alle umkamen.[46] Aufgrund der Nähe zur deutschen Wache in der Żelazna-Straße und der Tätigkeit der polnischen Erpresser*innen (szmalcownicy) war es ein äußerst waghalsiges Unternehmen, das Kazik in der Prosta-Straße organisierte und am helllichten Tag durchführte. So hatten sich bereits „teilnehmende Beobachter*innen“[47] um den Deckel der Abwasserkanalöffnung in der Prosta-Straße versammelt, darunter solche, die abfällige Bemerkungen über die von ihnen als Juden „erkannten“ (rozpoznać[48]) machten. Kazik musste gegenüber einem polnischen Polizisten vortäuschen, er handele im Auftrag der AK, um das von den teilnehmenden Beobachter*innen praktizierte antisemitische Ritual des „Judenerkennens“ zu durchbrechen und seinen Kameraden das Besteigen des Lastwagens, der Fahrt in Richtung des Waldes in Łominanki aufnehmen sollte, zu ermöglichen. Die Mehrheit der über dreißig Kämpfer*innen, die Kazik aus dem Ghetto geholt hatte, überlebte den Zweiten Weltkrieg nicht. So ermordeten die Deutschen eine sechsköpfige Gruppe, darunter Guta Błones, Jurek Błones, Lusiek Błones und Zymunt (Zalmen) Frydrych im Dorf Płudy bei Warschau. Ein Pole, der ihnen ein Versteck versprochen hatte, lieferte alle sechs aus.[49] Janek Biały, der auch dank Kazik am 10. Mai 1943 aus der Kanalisation kam, habe sich, so Anka Grupińska, einer Gruppe polnischer Partisanen angeschlossen. Alle zehn Kämpfer*innen der ŻOB wurden nach ihren Recherchen von polnischen Partisanen ermordet.[50] Eine weitere, von Merdek (Mordechaj) Growas angeführte Gruppe, die während des Aufstands im Ghetto in dem Gebiet der Straßen Nalewki, Zamenhofa und Miła gekämpft hatte, entkam am 10. Mai 1943 durch den Abwasserkanal aus dem brennenden Ghetto, erreichte den Wald bei Łomianki und stieß im Wyszków-Wald zur AK. Die in den Reihen der AK kämpfenden Chaim Arbuz, Abraham Zandman, Chagit Putermilch, Israel Krótki, Joel, Tamar, Bel Tasenkraut, Julek Junghajzer, Izio Lewski seien, so Grupińska, „höchstwahrscheinlich von polnischen Partisanen der Narodowe Siły Zbrojne-Einheiten ermordet“[51] worden. Die von Anka Grupińska dokumentierten Fälle zeigen, dass eine Historiographie, die den „polnischen Kontext“ (Elżbieta Janicka) ausklammert, ein verzerrtes Bild der Ereignisse zeichnet. Ein weiteres Beispiel für die polnische Beteiligung sei hier genannt: Auf dem jüdischen Friedhof in der Okopowa-Straße in Warschau befindet sich ein Grabstein für ŻOB-Kämpfer*innnen, die im Wyszków-Wald kämpften. Sie wurden verraten und ermordet. Vor einem Stein mit der Inschrift „Hier ruhen die sterblichen Überreste der heldenhaften Kämpfer*innen des Warschauer Ghettos – der Partisanen der M. Anielewicz-Einheit“ sind zwölf kleine Grabsteine platziert, auf denen die Namen und Pseudonyme der folgenden jüdischen Kämpfer*innen eingraviert sind: Tola Rabinowicz, Joel Junghajer, Rachela, Edek, Chaim Cyrenaika, Michał Rosenfeld „Biały“, Szmulek Juszkiewicz „Stefan“, Janek Szwarcfus, Rutka, Józef Papier, Icek Jankielewicz.  

„Hier liegen die sterblichen Überreste der heldenhaften Kämpfer:innen des Warschauer Ghettos – der Partisanen der M. Anielewicz-Einheit.“ Jüdischer Friedhof, Okopowa-Str., Warszawa. Foto: Katrin Stoll (8. Mai 2023)
„Hier liegen die sterblichen Überreste der heldenhaften Kämpfer:innen des Warschauer Ghettos – der Partisanen der M. Anielewicz-Einheit.“ Jüdischer Friedhof, Okopowa-Str., Warszawa. Foto: Katrin Stoll (8. Mai 2023)

 

Epilog: 3. und 4. November 1943 im Distrikt Lublin

Zurück zum April-Aufstand im Warschauer Ghetto und der NS-Vernichtungspolitik. Zwischen dem 27. und 30. April 1943 verschleppten die Deutschen in vier Deportationszügen ca. 13 000 Juden und Jüdinnen aus Warschau nach Lublin, davon den Großteil nach Majdanek. Ferner brachten sie ca. 15 000 Juden und Jüdinnen nach Poniatowa, 6 000 nach Trawniki und ca. 850 Menschen nach Budzyń bei Kraśnik.[52] Die Deutschen ermordeten alle jüdischen Warschauer*innen, die in den Arbeitslagern Poniatowa und Trawniki arbeiten mussten, im Rahmen des Massenmordes am 3. und 4. November 1943. Die Täter bezeichneten das von ihnen verübte Verbrechen, an denen Einheiten der SS-Polizeiregimenter 22 und 25 beteiligt waren,[53] als „Aktion Erntefest“[54]. Bei der Mehrzahl der am 3. November 1943 in Majdanek Ermordeten – ca. 18 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder – handelte es sich um jüdische Warschauer*innen, die zuvor von SS- und Polizeieinheiten aus den Zwangsarbeitslagern für Juden und Jüdinnen an der Lipowa-Straße und der Wrońska-Straße (Flugplatz) nach Majdanek getrieben worden waren, wo sie sich auf „Feld V“, das die Täter als Sammelpunkt für das Massaker nutzten, einfinden mussten. Die Menschen wurden nackt und unter Beschallung von Marschmusik in Gräben ermordet, die Häftlinge auf dem auf einer Anhöhe gelegenen Teil des Lagers hinter dem Barackenareal „Feld V“ in der Nähe des Krematoriums hatten ausheben müssen. Jens Hoffman schreibt dazu:

„Um die Schützen zu unterhalten, die Opfer zu desorientieren sowie die Schreie und Schüsse zu übertönen, beschallten die Täter das Lagergelände seit Beginn der «Aktion» mit Musik aus zwei Lautsprecherwagen. Auf dem «Feld 5» wurden die Zusammengetriebenen von deutschen Posten gezwungen, ihre Wertsachen herauszugeben und ihre Kleidung abzulegen. Völlig nackt, mit erhobenen Armen und hinter dem Nacken verschränkten Händen wurden die Menschen in kleinen Gruppen durch ein in den Zaun geschnittenes Loch im Laufschritt zu den Gruben getrieben. Dort mußten sie sich mit dem Gesicht zu Boden auf die Erde bzw. auf die Leichen der bereits Erschossenen legen. Die Schützen, SS-Männer und Ordnungspolizisten, achteten darauf, daß sich die Opfer gleichmäßig in den Gräben verteilten, und erschossen die Liegenden mit Salven aus Maschinenpistolen. Jakob Sporrenberg kreiste in einem Leichtflugzeug über dem Tatort und beobachtete den Ablauf der Erschießungen. Von den Dächern der umliegenden Häuser sahen auch polnische Zivilisten bei den Erschießungen zu.“[55]

Gelände des ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslagers Lublin. Erschießungsgräben in der Nähe des Krematoriums. Foto: Katrin Stoll (28. Februar 2023).

Für die polnische Bevölkerung in unmittelbarer Umgebung, nicht nur für diejenigen, die von ihren Häusern aus dem Mord beiwohnten, war das Verbrechen sichtbar. Die Deutschen hatten das Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin (1941–1944) auf Feldern, ca. 4 km südöstlich des Stadtzentrums von Lublin gelegen, an der Chaussee nach Chełm und Lemberg errichtet. Lublin-Majdanek, ca. 150 km südöstlich von Warschau, war das erste KZ, das von Einheiten der sowjetischen Armee am 23. Juli 1944 befreit wurde.      

 


[1] Dass das NS-Vernichtungslager Treblinka II etwa „eineinhalb Kilometer“ vom Dorf Treblinka entfernt lag, stimmt. Unwahr ist, dass es „in einem Wald gelegen [war]“, wie Stephan Lehnstaedt schreibt. Vgl. Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017, S. 56.
[2] Richard Glazar, Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka, Frankfurt am Main 1992, S. 106 und S. 107.
[3] Richard Glazar, International Liberators Conference, Washington D.C., October 1981, Uprising panel. USHMM: Aufruf am 19. April 2023.
[4] Dziennik Maryli. Życie i śmierć w getcie warszawskim, redakcja naukowa Dariusz Libionka, Warszawa 2023, S. 159–161.
[5] Der Prozess der Ghettobildung zog sich über ein Jahr hin. Vgl. Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939–1942. Mit einem Vorwort von Israel Gutman, München 1986, S. 122 und S. 124.
[6] Sima Rotem Kazik, Erinnerungen eines Ghettokämpfers. Aus dem Hebräischen von Ronit Mayer Beck, Berlin/Hamburg 2017, S. 52.
[7] Laut Vladka Meed bestand sie aus 500 Kämpfer*innen, aufgeteilt auf 22 Einheiten. Vgl. ihr Referat im „Uprising panel“ auf der International Liberators Conference, die im Oktober 1981 in Washington D.C. stattfand: 19. April 2023. Vgl. Vladka Meed, On both sides of the wall. Memoirs from the Warsaw Ghetto. Translated by Dr. Steven Meed, Beit Lohamei Hagetaot 1972.
[8] Szmuel Ron beschreibt Anielewicz als Revolutionär, der Tag und Nacht für die Sache lebte. Vgl. Wtedy było mnóstwo legend... Opowieść Szmuela Rona, in: Anka Grupińska, Ciągle po kole. Rozmowy z żolnierzami getta warszawskiego, Wołowiec, S. 29–38, hier: S. 37. Ron, Mitglied von Hashomer Hacair, lebte nach Anielewiczs Ankunft in Będzin „Ende Juni oder Anfang Juli 1942“ zwei Monate mit ihm zusammen und führte ihn durch die Ghettos von Zawiercie und Będzin. Vgl. Shmuel Ron, Die Erinnerungen haben mich nie losgelassen. Vom jüdischen Widerstand im besetzten Polen, Frankfurt am Main 1998, S. 49. Ron ging 1941 auf die „arische“ Seite. Am meisten habe er Angst vor den Polen gehabt sagte er Grupińska. Vgl. Wtedy było mnóstwo legend…, S. 36.
[9] Hanna Krall, Zdążyć przed Panem Bogiem, in: dies., Fantom Bólu, Kraków 2017, S. 17–98, hier: S. 21. Kralls Reportage entstand 1976 und erschien zum ersten Mal 1977 in Polen.
[10] „Chodziło tylko o wybór sposobu umierania.” Krall, Zdążyć przed Panem Bogiem, S. 25.
[11] Zu den Gründungsorganisationen der Żydowska Organizacja Bojowa gehörten verschiedene linke Gruppen der zionistischen Pionierbewegung. Der erste Führungsstab der ŻOB bestand aus: Yitzak Cukierman, Josef (Józef) Kaplan, Samuel Breslaw, Cywia Lubetkin, Mordechaj Tenenbaum-Tamaroff und Izrael Kanał. Später schlossen sich Angehörige der politischen Gruppierungen Bund, Sozialistische Zionisten, Poale Zion sowie Kommunisten an. Mitte Oktober 1942 stießen Vertreter*innen des Bund zur ŻOB. Vgl. To wszystko nie ma żadnego znaczenia, in: Grupińska, Ciągle po kole, S. 215–246, hier: S. 225. Edelman und Grupińska führten das Gespräch in den Jahren 1999 und 2000. Die zionistischen Revisionisten gründeten ihre eigene militärische Formation, den Jüdischen Militärverband (Żydowski Związek Wojskowy).
[12] Icchak Cukierman, „Antek”, Nadmiar pamięci (Siedem owych lat). Wspomnienia 1939–1946. Przełożyła z języka hebrajskiego Zoja Perelmutter, Warszawa 2000, S. 193. Hervorhebung im Original.
[13] In der biographischen Notiz, die Anka Grupińska auf der Grundlage des Buches Churban umered szel jehudej warsza. Sefer edujot weazkorotvon Melech Neustadt sowie mündlicher und schriftlicher Zeugnisse verfasste, heißt es u.a.: „Im Januar 1943 nahm er an den ersten Kämpfen im Ghetto teil. Nach einigen Wochen in Folge einer Denunziation verhaftet. Gefoltert – er bekannte sich zu keiner Tätigkeit, wurde ins Pawiak [-Gefängnis] gebracht und danach in ein Arbeitslager nach Kawęczyń geschickt. Dank der Hilfe Henryk Grabowskis und einer Aktion der ŻOB kehrte er ins Ghetto zurück. Am 8. Mai war er im Bunker der ŻOB in der Miła-Str. 18. Es wurde viele Male geschrieben, dass Jurek die Aufständischen zum Selbstmord aufrief.“ Grupińska, Ciągle po kole, S. 262.
[14] Vgl. Wtedy było mnóstwo legend..., S. 34; Co było znaczące w getcie? Nic! Nic! Nie mówcie bzdur! Rozmowa z Markiem Edelmanem, in: Grupińska, Ciągle po kole, S. 11–27, hier: S. 20. „Das Problem bestand aber darin, daß die Armia Krajowa, die bewaffnete polnische Untergrundbewegung, die der polnischen Exilregierung in London unterstellt war, keine jüdischen Kämpfer in ihren Reihen duldete, um es gelinde auszudrücken.“ Ron, Die Erinnerungen haben mich nie losgelassen, S. 60. Cukierman schreibt zur Armia Ludowa (AL): „Ich muss jedoch hervorheben, dass die AL im Allgemeinen ein positives Verhältnis zu Juden und Jüdinnen hatte, obwohl es Ausnahmen gab. Man muss jedoch unterscheiden zwischen der Spitze der AL, deren Verhältnis zu uns ausgezeichnet war […] und den Menschen im Gelände, deren Haltung zu den Juden und Jüdinnen nicht einheitlich war.“ Cukierman, Nadmiar pamięci, S. 335–336. Zu Beginn des Warschauer Aufstandes traten einige der Kämpfer*innen, die den Aufstand im Ghetto überlebt hatten, der AL als ŻOB-Gruppe bei, darunter Icchak Cukierman, Marek Edelman, Cywia Lubetkin und Stefan Grajek. Vgl. Wiem, co wiem, i pamiętam, co pamiętam. Rozmowa z Kazikiem Ratajzerem, in: Grupińska, Ciągle po kole, S. 175–213, hier: S. 177.  
[15] Yisrael Gutman, The Jews of Warsaw. 1939–1943. Ghetto, Underground, Revolt, Bloomington 1989, S. 417.  
[16] Cukierman, Nadmiar pamięci, S. 264 und S. 265.
[17] Der „Kommissar für den jüdischen Wohnbezirk“ Auerswald hatte gezielt Unternehmen angeworben, „die im Ghetto auf eigene Rechnung mit jüdischen Arbeitskräften für das Rüstungskommando der Wehrmacht Textil-, Pelz- und Lederwaren verarbeiteten“. Andreas Mix, Warschau – Stammlager, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2008, Bd. 8, S. 91126, hier: S. 92.
[18] Gutman, The Jews of Warsaw, S. 270.
[19] Vgl. ebd., S. 268269.
[20] Siehe die Karte „Warschauer Getto 1942“, abgedruckt im Einband von: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 9: Polen: Generalgouvernement August 1941–1945, München 2014.  
[21] Vgl. Mix, Warschau – Stammlager, S. 93.
[22] Vgl. Maria Ferenc, „Każdy pyta, co z nami będzie”. Mieszkańcy getta warszawskiego wobec wiadomości o wojnie i Zagładzie, Warszawa 2021, S. 451.
[23] Vladka Meed, International Liberators Conference, Washington D.C., October 1981, Uprising panel: Aufruf am 19. April 2023.
[24] Israel Gutman, Ocena Powstania w getcie warszawskim w historiografii, in: Główna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce / Instytut Pamięci Narodowy (Hrsg.), Powstanie w getcie warszawskim. Sesja w 45 rocznicę (14–15 kwietnia 1988 r.), Warszawa 1989, S. 140–145, hier: S. 144.
[25] Jan Grabowski, Ratowanie Żydów za pieniądze: przemysł pomocy, in: Zagłada Żydów. Studia i Materiały 4 (2008), S. 81–109, hier: S. 96.
[26] Dziennik Maryli, S. 133.
[27] Vgl. Gutman, The Jews of Warsaw, S. 351 und Appendix, in: Barbara Engelking / Jacek Leociak, The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City. Translated by Emma Harris, New Haven and London 2009, S. 796–800.
[28] Gutman, The Jews of Warsaw, S. 353.
[29] Ebd., S. 353.
[30] „Co chcieliśmy, to wybrać sobie jak umrzeć. I to wszystko. I na tym koniec.” Kazik, in: Agnieszka Arnold, Rotem, 2013. Der Film ist online verfügbar unter: Aufruf am 19. April 2023.
[31] „Chcieliśmy dożyć tego momentu, kiedy będziemy mogli się bronić, dożyjemy mitat kavod.” Ktoś musiał tę szafę dosunąć od zewnątrz.... Rozmowa z Maszą Glajtman Putermilch, in: Grupińska, Ciągle po kole, S. 29–38, hier: S. 48. Das Gespräch wurde im Mai 1989 und im Oktober 1999 geführt.
[32] Kazik, Erinnerungen eines Ghettokämpfers, S. 57.
[33] Ebd., S. 58.
[34] Vgl. Dok. 444.: 23.–27. April 1943, Warschau (Warszawa) – Tagesmeldungen des SS-Brigadeführers und Generalmajors der Polizei Jürgen Stroop an den Höheren SS- und Polizeiführer Ost SS-Obergruppenführer und General der Polizei Krüger über den Verlauf der weiteren Kämpfe im Warschauer Getto, in: Jüdisches Historisches Institut (Hrsg.), Faschismus – Getto – Massenmord, Berlin 1960, S. 528–532. Vgl. auch Dok. 445. Tagesmeldungen von Stroop, in ebd., S. 533–539.
[35] Am 8. Mai 1943 versicherte Stroop dem HSSPF Krüger, er sei entschlossen, „die Großaktion nicht eher zu beenden, bis auch der letzte Jude vernichtet“ sei. Vgl. Dok. 445. Tagesmeldungen von Stroop, in: Jüdisches Historisches Institut (Hrsg.), Faschismus – Getto – Massenmord, S. 533–539, hier: S. 538.
[36] Bildunterschrift und Foto sind abgedruckt in: Dziennik Maryli, S. 28 und S. 29. Es handelt sich um ein Foto aus einer Serie, die sich im Archiv der Familie Grzywaczewski befinden.
[37] Vielerorts sind polnische Feuerwehrmänner am Ostersamstag in Polen mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, sich in katholischen Kirchen um den symbolisch aufgebahrten Leichnam Jesu zu gruppieren und ihn zu beschützen. Elżbieta Janicka hat die feierliche Zeremonie mehrfach für das 11 km von Treblinka entfernt gelegene Städtchen Kosów Lacki, in dem Juden und Jüdinnen vor dem Krieg 90 Prozent der Bevölkerung stellten, fotografisch dokumentiert. Während des Kriegs hatten polnische Feuerwehrmänner u.a. die Aufgabe, den öffentlichen Raum von dem Blut, das aufgrund der von den Deutschen und ihren Helfern in situ verübten Morde Straßen und Gehwege hinunterlief, zu reinigen. Ich danke Elżbieta Janicka für die gemeinsame Exkursion mit den Teilnehmer*innen meiner Seminare, die ich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena leitete, und die neuen Perspektiven und Entdeckungen in Warschau, Treblinka, Wółka Okrąglik und Kosów Lacki im September 2022 und im April 2023.  
[38] Kazik, Erinnerungen, S. 47.
[39] Vgl. Fernschreiben SS- und Polizeiführer im Distrikt Warschau an den HSSP Krüger v. 8. Mai 1943, in: 445. Tagesmeldungen von Stroop, in: Faschismus – Getto – Massenmord, S. 533–539, hier: S. 538.
[40] Kazik erinnert sich wie folgt an den Abend des 9. Mai 1943: „Tadek [Tuwia Szejngut] und Kostek blieben oben, zwei Kanalarbeiter, Rysiek [Maselman] und ich stiegen in die Abwasserkanäle hinab und wandten uns in Richtung Ghetto. […] In den Abwasserkanälen herrschte absolute Finsternis. Noch bevor wir in die Kanäle hinabstiegen, schöpfte der ‚König der Erpresser‘ Verdacht und fing an, die ganze Geschichte von der Rettung der Christen anzuzweifeln.“ Kazik, Erinnerungen, S. 68.
[41] Ebd., S. 69–70. 
[42] Ebd., S. 71.
[43] Cukierman, Nadmiar pamięci, S. 261.
[44] „Między 1 a 10 maja można było wiele. Dla członków ŻOB-u proszących o pomoc w ratowaniu życia można było wszystko.” Elżbieta Janicka, Festung Warschau, Warszawa 2011, S. 235.
[45] Markus Roth, Widerstand und Aufstand im Warschauer Ghetto. Von der Untergrundarbeit zum bewaffneten Kampf, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 9 (2013), S. 14–20, hier: S. 20.
[46] Vgl. Grupińska, Ciągłe po kole, S. 260.
[47] Elżbieta Janicka, Obserwatorzy uczestniczący zamiast świadków i rama zamiast obrzeży: O nowe kategorie opisu polskiego kontekstu Zagłady,in: Teksty Drugie 18 (2018), S. 131–141.
[48] Elżbieta Janicka schreibt über die Bedeutung des Wortes rozpoznać się im Polnischen der Kriegszeit: „To recognize in wartime Polish didn’t mean ‘to identify somebody from having encountered them before’ but ‘to identify somebody as Jewish’.” Elżbieta Janicka, Herbarium Polonorum (Heimatphotographie), in: Studia Litteraria et Historica 9 (2020), S. 85–86, Fußnote 61. Online verfügbar: Aufruf am 19. April 2023.
[49] Grupińska, Ciągłe po kole, S. 249.
[50] Ebd., S. 248.
[51] Vgl. ebd., S. 252–253.
[52] Vgl. Dariusz Libionka, Losy tekstu, in: Dziennik Maryli, S. 302.
[53] Stefan Klemp nennt die folgenden deutschen Täter: „Zum Polizeiregiment 22 gehörten die Polizeibataillone 41 und 53 sowie ein aus Einzelkompanien neu zusammengestelltes II. Bataillon. Zum Polizeiregiment 25 Lublin gehörten die Polizeibataillone 65, 67, 101, die Polizei-Reiterabteilung II, die Reiterschwadron Lublin, zurzeit der Aktion Erntefest auch das Polizeibataillon 316 und das I. Gendarmeriebataillon. Das Bataillon 65 war allerdings an der Aktion Erntefest nicht beteiligt, es war vorher nach Dänemark verlegt worden. Wahrscheinlich waren Teile der Reiterschwadron Lublin in Majdanek beteiligt. Andere Schwadronsteile waren möglicherweise in Trawniki eingesetzt. Mit dem Polizeibataillon 101, dem I. Gendarmeriebataillon, der Polizei-Reiterschwadron Lublin, möglicherweise der Polizei-Reiterabteilung III und dem III. Bataillon des SS-Polizei-Regiments 17 stellte allein die Ordnungspolizei 1.500 bis 2.000 Mann für die Aktion.“ Stefan Klemp, „Aktion Erntefest“. Mit Musik in den Tod. Rekonstruktion eines Massenmordes (Villa ten Hompel Aktuell 19), Münster 2013, S. 28.
[54] Wojciech Lenarczyk, Dariusz Libionka (Hrsg.), 3–4 listopada 1943. Erntefest. Zapomniany epizod Zagłady, Lublin 2009. Vgl. insbesondere den Aufsatz von Alina Skibińska. Er handelt, auf der Grundlage jüdischer Zeugnisse, von den aus dem Warschauer Ghetto in den Distrikt Lublin Deportierten. Zum Tathergang der „Aktion Erntefest“ und den Spurenverwischungsversuchen vgl. Jens Hoffmann, „Das kann man nicht erzählen“. «Aktion 1005» – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten, Hamburg 2008, S. 304321.
[55] Ebd., S. 306.