„Tschernobyl ist überall“ - dieser Slogan, den die Partei der Grünen erstmals kurz nach dem Reaktorunfall verwendete, fand und findet sich in vielen Abwandlungen auch heute noch auf Demonstrationszügen gegen die Nutzung der Atomenergie und gegen Kernwaffen. Auch die DDR-Opposition nutzte mit „Tschernobyl wirkt überall“ im Frühsommer 1986 eine ähnliche Losung, um in einem Appell auf die Gefahren durch radioaktive Strahlung aufmerksam zu machen und ein Umdenken in der Atompolitik zu fordern.
Die Analyse beider deutscher Teilstaaten unmittelbar nach Tschernobyl veranschaulicht sehr deutlich, dass die Untersuchung umweltrelevanter Ereignisse wie der Katastrophe von Tschernobyl sehr lohnend ist – auch und insbesondere im Hinblick auf systemübergreifende Entwicklungen Ende der 80er Jahre. Die Auswirkungen Tschernobyls machten auch vor dem Eisernen Vorhang nicht halt und deckten dabei auf politischer und gesellschaftlicher Ebene Prozesse auf, die nicht immer in einem direkten Zusammenhang mit der Katastrophe stehen mussten, sondern viel mehr auf eine tiefgreifende allgemeine Verunsicherung Ende des 20. Jahrhunderts verweisen, das auch als das „Umweltzeitalter“ bezeichnet wird.
Erste Nachrichten
Nachdem die ersten erhöhten Messwerte im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark festgestellt wurden, kursierten in der Bundesrepublik schnell Gerüchte über einen Atomunfall bisher unbekannten Ausmaßes in der Sowjetunion. Sehr schnell wurden Spekulationen über Tausende Tote verbreitet, ohne dass jegliche Informationen zur Verfügung standen.
Trotz der engen, als „brüderlich“ deklarierten Verbindungen zur Sowjetunion erhielt auch die DDR in den ersten Tagen von sowjetischen Stellen keinerlei weitere Informationen über den Unfall. Statt aus Moskau kam die Unfallmeldung auch für die DDR aus dem Westen. Während das Westfernsehen die Hiobsbotschaft bereits in die ostdeutschen Wohnzimmer trug, war es eine internationale Organisation mit Sitz in Wien, welche die Regierung der DDR über den Unfall in Kenntnis setzte. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) informierte das zuständige Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR (SAAS) am Abend des 28. April 1986 über die erhöhten Radioaktivitätswerte, die in Schweden gemessen worden waren.
In beiden deutschen Teilstaaten wurden sofort nach Eintreffen der ersten Hinweise aus Skandinavien Prüfmessungen angeordnet. In der Bundesrepublik wies der Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU), in dessen Zuständigkeitsbereich die Regulierung der Atompolitik fiel, die Strahlenschutzkommission an, die Messungen vorzunehmen. Ihr ostdeutsches Pendant, das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz, intensivierte die Radioaktivitätsmessungen auf dem Territorium der DDR. Die Ergebnisse der Messungen und die darauf beruhenden Einschätzungen des Amtes für Atomsicherheit veranlassten die DDR-Führung zu keinen besonderen Vorsorge- oder Schutzmaßnahmen, obwohl die gemessenen Belastungen und die unsicheren Prognosen durchaus Grund zur Sorge hätten darstellen können. Dieses Vorgehen ähnelte dem der Bundesregierung in den ersten Tagen. Zimmermann erklärte, dass keine Gefahr für die Bundesrepublik bestünde. Er fügte hinzu, dass Tschernobyl viel zu weit weg sei. Die dabei offenbar zur Beruhigung der Bevölkerung abgegebene Entfernungseinschätzung von 2.000 Kilometern bis zum Unglücksreaktor entsprach jedoch nur sehr weit westlich gelegenen Ortschaften der Bundesrepublik.
Neben den ersten Prüfmessungen hatten beide Teilstaaten angeordnet, die Sicherheit der eigenen Atomkraftwerke zu überprüfen. Schon bevor die bundesdeutsche Strahlenschutzkommission ihren Bericht im Juni 1986 vorlegte, stellten die Vertreter der Bundesregierung immer wieder heraus, dass die bundesdeutschen Kernkraftwerke sich von den osteuropäischen grundlegend unterschieden und die sichersten der Welt seien. Eine Katastrophe wie die in der sowjetischen Ukraine sei in der Bundesrepublik schlicht undenkbar. Um seine These zu untermauern, riskierte Innenminister Zimmermann durchaus auch gewagte Äußerungen: „Bei uns kann ein Jumbo auf ein Kernkraftwerk aufplatzen, und es wird dem Reaktor nichts passieren.“[2] Die Strahlenschutzkommission vermeldete schließlich im Juni 1986, dass keine speziellen Maßnahmen notwendig seien, um die Sicherheit der bundesdeutschen Atomkraftwerke zu erhöhen. Dass diese Beurteilung nur einen Monat nach dem Störfall im Kernkraftwerk Hamm-Uentrop, bei dem radioaktive Substanzen freigesetzt wurden, abgegeben wurde, gab nicht nur den kritischsten Atomkraftgegnern zu Denken.
Das Amt für Atomsicherheit der DDR kam im Mai und November 1986 zu eher kritischen Ergebnissen, auch wenn es gleichzeitig betonte, dass die „nukleare Sicherheit und (der) Strahlenschutz im Betrieb der eigenen Anlagen „im erforderlichen Umfang“ gewährleistet sei. Die einzelnen Punkte, die das geheime Gutachten auflistet, zeugen allerdings von erheblichen Sicherheitsmängeln.[3] Vor allem die älteren Reaktoren wiesen aufgrund von Materialschäden und mangelnder Ausrüstung eine Reihe von Problemen auf. Hinzu kam unzureichend qualifiziertes Personal. Darauf, wie prekär dieser Zustand war, deutet die Aussage hin, dass die Sicherheitssysteme die „Qualität und Fehlerfreiheit der Konstruktionswerkstoffe“ voraussetzten. Dies konnte nicht gewährleistet werden. Eines der beiden Atomkraftwerke der DDR, Rheinsberg, war sogar im März 1986, gut anderthalb Monate vor Tschernobyl, zur „Durchführung eines umfassenden Werkstoffprüfprogramms und von Rekonstruktionen zur Erhöhung der nuklearen Sicherheit“ abgeschaltet worden. Anders als in der Bundesrepublik, wo Innenminister Zimmermann die bundesdeutschen Kernkraftwerke öffentlich für so sicher erklärte, dass sie selbst das „Aufplatzen“ eines Jumbojets aushalten würden, war das Zentralkomitee der SED zögerlicher mit solchen überschwänglichen Aussagen. In Bezug auf die Gefahr eines Flugzeugabsturzes auf eines der Kraftwerke beschloss es sogar, die Anlagen gegen solche Unfälle zu sichern, was allerdings nicht umgesetzt wurde.[4]
Grenzwerte: Meinungsverschiedenheiten und Verwirrungen
In der Bundesrepublik waren weder die Kompetenzen im Katastrophenmanagement eindeutig geklärt, noch gelang es in den ersten Wochen, Aktionen und Maßnahmen zwischen Bund, Ländern und Kommunen, sowie zwischen staatlichen Einrichtungen und unabhängigen Forschungseinrichtungen abzustimmen oder wenigstens verlässlich zu kommunizieren. Verantwortlichkeiten wurden hin- und her geschoben, es häuften sich gegenseitige Schuldzuweisungen. Erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestanden vor allem in Bezug auf den Grad der radioaktiven Verstrahlung und den daraus resultierenden Maßnahmen. Am eklatantesten zeigten sich die Differenzen zwischen Bund, Land und Kommunen beim Festsetzen von Grenzwerten für radioaktives Jod in der zum Verkauf freigegebenen Frischmilch. Während die Bundesregierung einen Höchstwert von 500 Becquerel pro Liter zuließ, legten manche Bundesländer eigenständig weitaus strengere Grenzwerte an. Der Senat von West-Berlin und die Landesregierung in Schleswig-Holstein sahen lediglich 50 Becquerel pro Liter als vertretbar und sicher an. Hessen unterbot selbst diese Grenze mit einer 20-Becquerel-Bestimmung. Bayern, wo die höchsten Werte gemessen worden waren, sah sich nicht zu strengen Regelungen veranlasst und hielt sich an die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission. Selbst Landkreise agierten unabhängig von Bundes- oder Landesbestimmungen. Konstanz ordnete seine Molkereien an, keine Milch mit einer höheren Belastung als 100 Becquerel pro Liter in Umlauf zu bringen, obwohl diese Herangehensweise nicht mit der Landespolitik übereinstimmte. Wie die einzelnen Länder und Kommunen mit den Empfehlungen der Strahlenschutzkommission umgingen, beruhte sehr stark darauf, dass sie unterschiedlichen Zugang zu Forschungseinrichtungen in den jeweiligen Ländern hatten. Aber besonders stark beeinflussten die Entscheidung die politischen Machtverhältnisse in dem jeweiligen Stadt- oder Landesparlament. Die meisten CDU-regierten Länder hielten sich an die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission.
Weil die Verwirrung in der Bevölkerung aufgrund der unterschiedlichen Empfehlungen und Anweisungen nur zunahm und sich die Anti-AKW-Proteste häuften, ordnete die Bundesregierung schließlich am 8. Mai an, dass sich die Länder an die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission zu halten haben. Sie fügte hinzu, dass sich die Bevölkerung ganz normal verhalten und ernähren solle. Das Chaos, das in den Bundesländern und Kommunen bereits bestand, konnte damit jedoch nicht umgehend beseitigt werden. In Hessen, wo die niedrigsten Grenzwerte für Milch galten, durften Kühe nicht mehr ins Freie. Im Odenwald (Baden-Württemberg) hingegen weideten sie weiter auf den Wiesen. Die hessische Landesregierung riet davon ab, Kinder draußen spielen zu lassen. Sie ließ wie später auch andere Bundesländer Spielplätze, Sport- und Freizeitanlagen schließen, während diese zur gleichen Zeit in Baden-Württemberg als sicher galten, obwohl die gemessenen Werte dort höher waren als in Hessen. Auch in Bayern war das Spielen unter freiem Himmel untersagt. Die Kindergärten und Horte stellten auf Anweisung der bayrischen Landesregierung von Frischmilch auf H-Milch oder Tee um, obwohl relative hohe Belastungswerte erlaubt waren. Sie strichen auch oberirdisches Gemüse von den Speiseplänen. Flure, Gruppen- und Nebenräume durften nicht mehr mit Straßenschuhen betreten werden. Im Münchner Stadtparlament schlug die Fraktion der Grünen sogar vor, die Kinder aus Sicherheitsgründen mit städtischen Bussen nach Portugal, Frankreich oder Spanien bringen zu lassen.
Die Bundesregierung dagegen erklärte, dass Spielverbote im Freien, Nutzungsbeschränkungen für Sport- und Freizeitanlagen unnötig und unbegründet seien. Unabhängige Forscher, große Teile der Bevölkerung sowie eine Reihe von Politikern kritisierten diese „Normalisierungsempfehlung“ angesichts der Ungesichertheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Wirkungen der radioaktiven Strahlung auf den menschlichen Körper als verharmlosend und inakzeptabel.
Nachdem die Bevölkerung aus Sorge davor, verstrahlte Lebensmittel zu essen, selbst schon freiwillig weitestgehend auf frisches Gemüse verzichtete, galten zeitweilig auch Verkaufsverbote für Spinat, Feld- und Kopfsalat, Rhabarber, Wildgemüse und Wildpilze. Statt Marktgemüse zu kaufen, horteten die Bundesbürger Tiefkühlkost oder Dosengemüse. Dabei kam es auch zu paradox anmutenden Kehrtwendungen bei manchen Ernährungsgewohnheiten. Ökologisch bewusste Kunden griffen nun nicht mehr zur Bio-Milch, sondern bevorzugten die zuvor verschmähte H-Milch und vor dem Unfall hergestellte Fertigprodukte.
Statt Grenzwerte festzusetzen, formulierte die DDR-Führung intern kurzfristig „Richtwerte“ für die Belastung mit radioaktivem Jod. Während die erlaubten Werte für Milch denen der Bundesrepublik entsprachen, lagen sie für Blattgemüse weitaus höher (Bundesrepublik: 250 Becquerel, DDR: 1000). Das Amt für Atomsicherheit war überzeugt, dass „bei ihrer Einhaltung mit Sicherheit keine unmittelbaren gesundheitlichen Schäden auf(treten), wobei auch kurzfristige Überschreitungen der Werte nicht bedenklich sind“.[5] Interessant ist hierbei der Einschub, dass keine „unmittelbaren“ gesundheitlichen Schäden zu erwarten seien. Ob damit mögliche Spätfolgen in Kauf genommen und wie mit Lebensmitteln verfahren wurde, deren radioaktive Belastung die Richtwerte weit überstiegen, lässt sich nach jetzigem Kenntnisstand noch nicht abschließend beantworten. Die ehemals geheimen Statistiken belegen jedoch, dass die Messungen nicht selten Verstrahlungen aufdeckten, die den Rahmen der Richtwerte sprengten.[6] Auch deuten die Dokumente darauf hin, dass diese Lebensmittel nicht aus dem Verkehr gezogen wurden.
Die Berichte des Amtes an das Zentralkomitee der SED belegen, dass es sich mit verschiedenen Risiken, die mit der freigesetzten Radioaktivität verbunden waren, durchaus auseinandersetzte. Allerdings zog das Amt daraus meist andere Schlüsse, als dies verschiedene Behörden in der Bundesrepublik taten. So schloss das SAAS eine Gesundheitsgefährdung auch beim Tragen von Kleidung aus, die von radioaktiven Niederschlägen durchnässt wurde. Als ebenso ungefährlich schätzte es Säuberungsarbeiten an radioaktiv verunreinigten Fahrzeugen oder die Weiterverarbeitung von Milch mit erhöhter radioaktiver Belastung ein. Auf der Grundlage dieser Annahmen sah sich die Regierung der DDR zu keinerlei Handlungsnotwendigkeit veranlasst, etwa Empfehlungen, Kinder nicht im Freien spielen zu lassen oder Freizeitanlagen unter freiem Himmel schließen zu lassen.
In der Bundesrepublik setzten auf politischer Ebene sehr schnell Debatten um die weitere Nutzung der Atomenergie ein – eine Kontroverse, die in der DDR völlig fehlte. Vorreiter waren die Grünen und die SPD, die bereits in der Bundestagssitzung am 14. Mai die Bundesregierung wegen ihrer nachlässigen Informationspolitik scharf kritisierten. Sie kreideten insbesondere die mangelnde Veröffentlichung von Messdaten und die ihrer Ansicht nach viel zu starke Bekräftigung der Sicherheit der bundesdeutschen Atomkraftwerke an. Während die SPD ein Moratorium und den schrittweisen Rückzug aus der Atomenergie forderte, plädierten die Grünen für den sofortigen Ausstieg. Massendemonstrationen der Anti-AKW-Bewegungen begleiteten die aufgeheizte Debatte in Städten wie Hamburg, Berlin, Stuttgart, München und Hannover, aber auch am geplanten Standort der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf, wo im März 1986 bei heftigen Protesten zwei Atomkraftgegner ums Leben gekommen waren. Die Demonstranten schlossen sich der Position der Bundestagsgrünen an und forderten lautstark den sofortigen Ausstieg.
Als Reaktion auf das Kompetenz- und Kommunikationschaos der ersten Wochen wurde am 6. Juni das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gegründet. Damit wurden die Kompetenzen, die bis dato auf verschiedene Ministerien - vor allem auf die Ministerien für Inneres, Landwirtschaft sowie Familie und Gesundheit - verteilt waren, in einer Institution vereinigt.
Die Medien und Tschernobyl
Ab dem 30. April füllte die Nachricht über die Havarie die ersten Seiten sämtlicher bundesdeutscher Zeitungen. Weil die Sowjetunion nur äußerst spärlich informierte, war völlig unbekannt, wie lange überhaupt Strahlung austreten würde und um welche Strahlung es sich handeln könnte. Die nachfolgenden Tage und Wochen waren in der Bundesrepublik von einem medial ausgetragenen Chaos aus Entwarnungen, Alarmmeldungen, Information und Desinformation gekennzeichnet. Experten- und Gegenexperten meldeten sich - mal beschwichtigend und beruhigend, mal panisch und warnend – nahezu pausenlos zu Wort. Die einen verlangten Maßnahmen und gaben Ratschläge zum Schutz vor der Strahlung, die anderen belächelten die vermeintliche Hysterie der anderen.
Die Berichterstattung der DDR war an die Vorlagen und Beschränkungen aus der Sowjetunion gebunden, dennoch berichteten die Medien der DDR im Vergleich zu den meisten anderen sozialistischen Ländern relativ ausführlich über Tschernobyl. Der Grund dafür muss in der besonderen Situation gesucht werden, welche die DDR im Reigen der anderen sozialistischen Länder als deutscher Teilstaat einnahm. Weil der Vergleich mit den Westmedien, zumindest, was die Fernsehsendungen anbelangte, für fast jeden DDR-Bürger möglich war, musste die DDR-Führung darauf reagieren.
Die Berichterstattung begann in der DDR am Abend des 29. April mit dem Verlesen der Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS gegen Ende der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“. Am nächsten Tag druckte das „Neue Deutschland“ die gleiche Meldung auf Seite fünf der Zeitung. Hinweise auf die freigesetzte Radioaktivität, Opfer oder Evakuierungen fanden sich darin nicht.
Das wurde einen Tag später nachgeholt. Eine „gewisse Menge radioaktiver Stoffe“ sei dem beschädigten Reaktor entwichen, hieß es.[7] Darüber hinaus wurde über zwei Todesfälle und die Evakuierung der Bevölkerung aus der Nähe des Reaktors berichtet. Am Abend des 30. April ergänzte das Fernsehen der DDR die „Aktuelle Kamera“ um eine Sondersendung zum Reaktorunfall, in der Experten zu Wort kamen, die die Ungefährlichkeit des Unfalls bescheinigten.[8]
Ostdeutsche Medien publizierten erstaunlich viele Einschätzungen westlicher Experten und Regierungen, inklusive der Bundesrepublik, wenn diese den gleichen beschwichtigenden Ton anschlugen wie er der DDR-Linie entsprach. Auch manche internationale Organisationen, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder die Internationale Atomenergie-Organisation, die zu dem Ergebnis kamen, dass die Situation ungefährlich und von manchen Seiten übertrieben werde, fanden ausführlichen Widerhall in den ostdeutschen Medien.
Kritische Stimmen bezichtigten die Staatsvertreter der Hysterie und Panikmache. Sehr früh begann auch die Einordnung differenzierter Ansichten in das Freund-Feind-Schema des Kalten Krieges. Dabei warfen SED-Funktionäre und loyale Journalisten den Kritikern propagandistische Hetze gegen die Sowjetunion und die sozialistischen Errungenschaften zum Wohle des arbeitenden Volkes vor. Von einer regelrechten „Kampagne“ gegen die Sowjetunion war die Rede, von der „Verteufelung“ des Sozialismus. Diese feindliche Propaganda, so war es täglich in den Zeitungen zu lesen, sei nur darauf ausgerichtet, die Weltöffentlichkeit von den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen abzulenken.
Wie sahen die Reaktionen in der Bevölkerung aus?
„Muss ich für meine Kinder Jodtabletten kaufen? Ich war mit meinem kleinen Sohn spazieren, soll ich ihn jetzt duschen? Dürfen Kinder überhaupt noch ins Freie? Ist der Salat aus unserem Garten noch genießbar?“, diese und ähnliche Fragen bewegten zehntausende Anrufer, die in den ersten Tagen nach Bekanntwerden der Katastrophe zum Hörer griffen, um sich Rat bei verschiedenen bundesdeutschen Stellen zu holen.[9] Es waren vor allem um ihre Kinder besorgte Mütter, die anriefen, aber auch Reisende, die einen Urlaub oder eine Dienstreise in Osteuropa planten. Obgleich alle Bundesländer aufgrund der mitunter gefährlichen Nebenwirkungen und dem zweifelhaften Nutzen sehr früh davor warnten, ohne ärztlichen Rat Jod-Präparate einzunehmen, stürmten besorgte Bürger die Apotheken. In München waren bereits am 2. Mai keine Jod-Tabletten mehr erhältlich. Im gesamten Bundesgebiet führte die selbstständige Einnahme von Jod zu Vergiftungen.[10]
Der Schock der ersten Tage führte zu einer rasanten Abnahme der Kernenergiebefürworter. Die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung sprach sich jetzt gegen den Weiterbetrieb und für den Ausstieg aus der Atomenergie aus. Laut einer Emnid-Umfrage, die „Der Spiegel“ Anfang Mai 1986 veröffentlichte, urteilten 69 Prozent der Befragten, dass die Gefahren zu groß seien, um weitere Atomanlagen zu bauen.[11] Insgesamt 66 Prozent der Interviewten waren entweder für den sofortigen oder zumindest für einen schrittweisen Ausstieg. Während 1980 noch 56 für den Bau weiterer Atomkraftwerke in der Bundesrepublik stimmten, war diese Gruppe nun auf 29 Prozent geschrumpft. Aus einer Minderheit war nun eine Zwei-Drittel-Mehrheit geworden.Die Verunsicherung und Unzufriedenheit über den Umgang mit den Auswirkungen des Reaktorunfalls führte in der seit den siebziger Jahren protesterfahrenen bundesdeutschen Bevölkerung zu zahlreichen Demonstrationen und Aktionen. Die Anti-AKW-Bewegung bekam neuen Aufwind und Unterstützung von vorher nicht integrierten Bevölkerungsschichten. Weil die Folgen des Unfalls eine potentielle Gefahr für alle darstellen, schlossen sich Bürger den Protesten an, die zuvor eine indifferente Haltung zur Nutzung der Atomenergie hatten.Neben klassischen Demonstrationen organisierten kleinere und größere Initiativen andere Aktionen, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. In Kassel verteilte eine anonyme Anti-AKW-Gruppe Flugblätter mit der Aufforderung, Gemüse, Kleidung, Schuhe und Putzlappen in Plastiktüten verpackt ins Rathaus zu bringen, wo sie auf Radioaktivität überprüft würden. Sie wollte damit auf die mangelhafte Informationspolitik und das Fehlen von unabhängigen Messstationen hinweisen. Vierzig Mitglieder des „Arbeitskreises Umweltschutz“ besetzten das Umweltministerium in Wiesbaden, um ihrem Ärger über die nicht eindeutige Haltung der Grünen Luft zu machen. An den Universitäten streikten die Studierenden und forderten eine fachübergreifende Diskussion der Gefahren der Atomenergie. Besorgte Mütter organisierten Demonstrationen mit Kindern. Feministische Frauengruppen betonten auf Veranstaltungen die besondere Rolle von Männern in der Erschaffung und Betreibung der Risikotechnologien.
Die Mehrheit der Demonstranten forderte, sich auf „von Natur aus“ sicherere und umweltverträglichere Lebensweisen zu besinnen und dafür vielleicht auch einen Rückschritt im technischen Fortschritt in den Kauf zu nehmen. Im Gegensatz dazu befürchteten die Atomkraftbefürworter auch nach Tschernobyl, dass der Rückzug aus der Nutzung der Atomenergie gleichbedeutend wäre mit einer Destabilisierung der Gesellschaft und dem Auslösen von Verteilungskämpfen, „die uns alles auf ein primitives Niveau zurückwerfen würden“, wie es der bayrische Ministerpräsident und frühere Atomminister Franz Josef Strauß ausdrückte.[12]
Während die Verunsicherung der Bevölkerung im Westen Deutschlands vor allem auf den kontroversen Deutungen der Folgen der Katastrophen beruhte, basierte sie in der DDR vor allem auf dem Mangel an kritischer öffentlicher Auseinandersetzung. Dabei lässt sich auch für den Osten festhalten, dass bei weitem nicht alle DDR-Bürger Angst und Verunsicherung empfanden. Das Vertrauen in Technik, Expertenaussagen und Bekundungen der Staatsspitze war in Teilen der Bevölkerung ungebrochen. Die Berichte der Westmedien klangen in den Ohren dieser Menschen tatsächlich wie unangemessene Panikmache. Doch ein großer Teil der DDR-Gesellschaft war genauso besorgt wie ihre Landsleute in der Bundesrepublik. Susi Franke, Mitglied der Frauengruppe Karl-Marx-Stadt und junge Mutter, hielt in ihrem Tagebuch fest:
„Ganz alltägliche banale Dinge, die plötzlich Aufmerksamkeit gewinnen. Ich bin ängstlich und reagiere mit höchster Vorsicht. Ich habe Milch gekauft, die ich dann – fast in panischer Angst, meinem Kind bewusst Schaden zuzufügen – wegschütte. Ich laufe an Gemüseläden vorbei, an deren Salatkisten eine Schildchen steht: ‚Aus dem Treibhaus’ und in Klammer ‚Überdacht’. Die Leute lachen, den Salat kauft keiner.“[13]
Gerade dieses Unvermögen, die Gefahren der Radioaktivität, die mit den menschlichen Sinnen nicht wahrnehmbar waren, im Alltagsleben abzuschätzen, lösten tiefgreifende Ängste aus. Im Gegensatz zur Bundesrepublik konnten diese jedoch nicht öffentlich artikuliert werden.
Bis Tschernobyl war die Auseinandersetzung mit den Risiken der zivilen Nutzung der Atomenergie und der Energiepolitik im Allgemeineren eher eine Ausnahmeerscheinung in den oppositionellen Gruppierungen. Der Umgang mit der Katastrophe in der DDR, aber auch in anderen Ländern sowie die grenzenübergreifende Verunsicherung wirkten nun wie ein Katalysator für die unabhängigen Friedens- und Umweltgruppen in der DDR. Dabei war es zunächst vor allem christlich motivierter Widerstand, der sich unter dem schützenden Dach der Kirche formierte. Die Kirchen boten dafür die optimalen Ausgangsbedingungen, weil sie eine gewisse Autonomie gegenüber staatlicher Kontrolle wahren konnten. Die Themen und Kritikpunkte der Umweltkreise ähnelten denen der Anti-AKW-Bewegung im Westen, zu der zumindest einige Initiativen auch Kontakte pflegten. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen der Zweifel an der Sicherheit der Atomkraftwerke, die Gefahren der Niedrigstrahlung im Normalbetrieb der Reaktoren, das ungelöste Problem des Atommülls, die Entwicklung alternativer Energiequellen sowie die Besinnung auf „gesunde und natürliche Bedürfnisse des Menschen“, die einen rationellen Einsatz von Energie und einen sparsamen Umgang mit einschlossen.
Neben oppositionellen Aktionen, wie dem Verbreiten von selbst gedruckten Zeitschriften; Flugblättern und Aufklebern, wandte sich eine Vielzahl von Bürgern mit Eingaben an die Staatsorgane. Die Reaktionen auf Eingaben waren unterschiedlicher Natur. In manchen Fällen ignorierten sie die Adressaten einfach, in anderen Fällen setzten sie ausführliche Antwortschreiben auf. Es kam auch zu Treffen von unabhängigen Initiativen und Staatsvertretern. Diese Treffen hatten oft einen deutlich weniger ideologischen Charakter als die Briefe.
Die Beschäftigung mit dem Thema in den Umweltgruppen riss bis zum Ende der DDR nicht mehr ab. 1988 erschien im Samisdat des Kirchlichen Forschungsheimes Wittenberg die bis dato einzigartige Darstellung des Uranbergbaus in der DDR von Michael Beleites, der zu einer wichtigen Identifikationsfigur innerhalb der ökologischen Bewegung der späten DDR wurde. Ausgehend von Berlin entstanden an immer mehr Orten kleine Umweltbibliotheken, die Materialien und Literatur zum Thema Umweltschutz und Atomenergie sammelten und interessierten Lesern zur Verfügung stellten. Das Ministerium für Staatssicherheit verfolgte die Aktionen argwöhnisch. Nicht wenige der Aktivisten waren Repressalien und Verhaftungen durch das Ministerium ausgesetzt.
Das Ende der Atomkraftwerke auf dem Territorium der DDR wurde im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses 1990 besiegelt. Alle Reaktoren wurden abgeschaltet, die in Bau befindlichen stillgelegt.
Schlussbemerkung
„Tschernobyl ist überall“ – der Slogan hat sich in vielerlei Hinsicht bewahrheitet und mit Fukushima noch einmal eine neue Dimension erreicht. Es war nicht nur der radioaktive Fallout, der sich weit über die Landesgrenzen der Sowjetunion ausbreitete, und dessen Niederschlag noch heute zu messen ist. Den nachhaltigen Einfluss „Tschernobyls“ machen vielmehr die vielfältigen Debatten aus, die durch die Reaktorkatastrophe in Europa und darüber hinaus ausgelöst worden sind. Die Auseinandersetzung um die Nutzung der Atomenergie hat mit dem Eintreffen des „Restrisikos“ durch die Explosion des vierten Reaktors im Kernkraftwerk Tschernobyl einen – ersten, muss man jetzt hinzufügen - Höhepunkt erreicht. Der Reaktorunfall zeigte nicht nur die Grenzen des technischen Fortschritts auf, sondern auch die Grenzen staatlicher Macht, sich um die ihm anvertrauten Bürger zu kümmern, sie umfassend vor den auch unintendierten Folgen der Moderne zu schützen.
Dieser Beitrag ist der Text eines öffentlichen Vortrages den die Autorin auf der internationalen Konferenz "After Chernobyl" am 8. April 2011 hielt.
[2] „Frankfurter Neue Presse“ (FNP), 5.5.1986, S.1.
[3] Das Gutachten ist abgedruckt bei de Dorothée de Nève, Die Atomkatastrophe von Tschernobyl: Reaktionen in der DDR, S. 59ff.
[4] De Nève, Atomkatastrophe, S. 90.
[5] Zit. n. de Nève, Atomkatastrophe, S. 51.
[6] Kopien der Statistiken sind zu finden bei: Ibid., S. 56ff.
[7] „Neues Deutschland“, 30. April 1986, S. 1.
[8] Die folgenden Ausführungen sind dem Bericht der „Jungen Welt“ über die Sendung vom 2.5.1986 entnommen.
[9] Vgl. FNP, 2.5.1986, S. 5.
[10] „Münchner Merkur“ (MM), 3./4.5.1986, S. 1.
[11] „Der Spiegel“, 12.5.1986, S. 28-32.
[12] MM, 7./8.5. 1986, S. 1.
[13] Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft / PS 68/2.