von Frieder Günther

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1. Februar 2016

Die westdeutsche Gesellschaft wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der 1960er Jahre maßgeblich von Millionen von Flüchtlingen geprägt. Freigelassene Kriegsgefangene, Vertriebene aus den Ostgebieten sowie Flüchtlinge aus der SBZ und der DDR drückten für viele Jahre dem Alltag in den Großstädten und auf dem Lande ihren Stempel auf. Von den Einheimischen wurde erwartet, sich für die Fremden ein Stück weit einzuschränken, obwohl sie selbst zunächst in einer Mangelgesellschaft lebten; zugleich wurden sie mit ganz neuen Einflüssen konfrontiert, mit anderen Lebensgewohnheiten, Umgangsformen und fremden Dialekten, die man oft nur schwer verstand. Auch wurde das bis dahin bestehende, relativ homogene konfessionelle Gefüge des Landes innerhalb kurzer Zeit von Grund auf durchmischt. Insofern trafen die Flüchtlinge nicht nur auf Hilfsbereitschaft und Zustimmung, sondern an vielen Orten überwogen Ressentiments und Ablehnung. Fühlten die Einheimischen doch das seit langem Vertraute, das ihnen in dieser „Zeit der Außer-Ordentlichkeit“ (Martin Broszat) besonderen Halt und Schutz bieten sollte, in Frage gestellt.

Eine größere Flüchtlingsgruppe, die heute kaum mehr in Erinnerung ist, sind jene Opfer von NS-Terror und Gewalt, die es geschafft hatten zu überleben. Viele von ihnen standen 1945 buchstäblich vor dem Nichts: Sie waren heimatlos und hatten keinerlei Besitz, ihre Gesundheit war häufig angeschlagen und ihre Angehörigen hatten oft nicht überlebt. Zudem waren viele in hohem Maße traumatisiert. Die Besatzungsmächte richteten für sie gleich nach Kriegsende besondere Lager ein, damit sie wieder Fuß fassen und eine Lebensperspektive entwickeln konnten. Mittelfristig sollten sie in ihre früheren Herkunftsländer zurückkehren. Eines dieser Lager war Föhrenwald im oberbayerischen Wolfratshausen, das die US-amerikanische Besatzungsmacht 1945 für jüdische Displaced Persons errichtete. Föhrenwald hatte zuvor als eine Art Mustersiedlung für deutsche Arbeitskräfte und ausländische Zwangsarbeiter gedient. Es war durch einen Maschendrahtzaun von der Umwelt abgegrenzt, war selbstverwaltet, verfügte über eigene Läden, eine Synagoge, ein Krankenhaus und eine Schule und entwickelte sich schließlich zu einer wichtigen Anlaufstelle für Holocaust-Überlebende aus Osteuropa. Im Jahr 1949 hatte die Mehrzahl der Bewohner das Lager verlassen und war nach Israel ausgewandert. 1951 war die Zuständigkeit für das Lager gegen den Willen der verbliebenen Bewohner an deutsche Stellen übergeben worden. Seit 1952 spitzte sich indes die Situation im Lager zu, da immer mehr Rückwanderer aus Israel nach Westdeutschland kamen und in Föhrenwald Zuflucht suchten. Sie waren in Israel mit dem Versuch gescheitert, sich eine neue Existenz aufzubauen.[1]

Im Bundesministerium des Innern (BMI) war Kurt Breull (1907-1987) als Leiter des Referats für Aufenthalts- und Ausländerrecht für das Lager Föhrenwald zuständig. Auf seine Person ist hier näher einzugehen, da es sich bei ihm nachweislich um einen Beamten mit einer rassistischen Grundeinstellung handelte, der sich schon in seiner Zeit als Gerichtsreferendar durch eine dezidiert antisemitische Haltung hervorgetan hatte.[2] In einer Fachdiskussion mit seinem vorgesetzten Richter über einen Rechtsfall war es im Jahr 1936 am Amtsgericht Hennef zum Eklat gekommen. Der Fall: Ein Bauer hatte einem Juden eine Kuh verkauft, die Kuh jedoch nicht geliefert. Der Bauer erhob den Einwand, als er wegen Schadensersatz in Anspruch genommen wurde, er habe erst nachträglich erfahren, dass der Käufer Jude sei. Da er als Angehöriger des Reichsnährstandes an einen Juden nicht liefern dürfe, sei er schließlich vom Kaufvertrag zurückgetreten. Während der Amtsrichter dem Bauer entsprechend der damaligen herrschenden Meinung nur ein Anfechtungsrecht zubilligte, bestand Breull auf einem Rücktrittsrecht des Bauern, was einen Schadensersatz ausschloss. Dabei berief er sich in seiner Argumentation auf die NS-Ideologie. Um die Situation nicht weiter zuzuspitzen, brach der Amtsrichter daraufhin die Diskussion mit Breull ab. Dieser insistierte aber und denunzierte den Amtsrichter beim Sicherheitsdienst, da er „in seinen heiligsten Gefühlen als Nationalsozialist verletzt und herausgefordert worden“ sei.[3]

Mit dieser Auseinandersetzung wurden daraufhin verschiedene übergeordnete Stellen betraut. Für Kurt Breulls Karriere wirkte sich die Angelegenheit zunächst negativ aus, da ihm der Aufstieg als Jurist von Seiten der Justizverwaltung von nun an erschwert wurde. Nachdem er sich reuig gezeigt und seine Vorwürfe gegen den Hennefer Amtsrichter zurückgenommen hatte, wurde er 1939 in Merseburg zum Verwaltungsbeamten ernannt. Nach seinem Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft und anschließender Arbeitslosigkeit gehörte Breull im Oktober 1949 zu den Ersten, die im Bundesministerium des Innern ihren Dienst antraten, wobei er in seinen Unterlagen den Eintritt in die NSDAP von 1930 auf 1937 um sieben Jahre zurückdatierte.[4] Schon nach zwei Jahren stieg er zum Referatsleiter auf und war von da an für das Lager Föhrenwald zuständig. Aus seiner Sicht handelte es sich bei jenen, die von Israel nach Deutschland zurückkehrten und in Föhrenwald Zuflucht suchten, schlichtweg um „Illegale“, da sie sich ohne behördliche Genehmigung in Föhrenwald aufhielten. Viele waren zudem ohne Einreise- oder Aufenthaltstitel ins Bundesgebiet gelangt.

Kurt Breull agierte aufgrund seiner Auffassung von der Illegalität der Rückkehrer in vier Richtungen. Zum Ersten wollte er den Zustrom weiterer „illegaler Juden“ nach Föhrenwald stoppen, indem die bundesdeutschen Auslandsvertretungen angewiesen wurden, „den jüdischen ausländischen Rückwanderern aus Israel“[5] nicht länger Sichtvermerke zur Einreise zu erteilen, und indem der Bundesgrenzschutz seine Grenzkontrollen verstärkte. Zum Zweiten wollte er die Zurückgekehrten von Föhrenwald in andere Lager verlegen, um sie so schneller polizeilichen Maßnahmen auszusetzen. Zum Dritten kam der Vorschlag hinzu, sie von staatlichen Leistungen auszuschließen, und zum Vierten wollte Breull sie so schnell wie möglich nach Israel abschieben. Er selbst sprach hierbei sogar davon, dass „die Möglichkeit der sofortigen Abschiebung innerhalb der 48 Stunden-Spanne“ genutzt werden solle.[6]

In der Praxis wurde jedoch schnell klar, dass sich Breulls Ideen nicht so einfach realisieren ließen. Zum einen wehrten sich die circa 700 „illegalen Juden“ mit allen Kräften, Föhrenwald zu verlassen, zum anderen meldeten sich lokale und internationale jüdische Organisationen zu Wort, die ihre Hilfe anboten und gleichzeitig eine Ausweisung vehement ablehnten. Vor allem die bayerische Staatsregierung gab rasch zu erkennen, dass sie zu diesen scharfen Maßnahmen nicht bereit war, da sie die öffentliche Meinung fürchtete.[7] So kam es im August 1953 auf Initiative des Auswärtigen Amtes zur Aushandlung einer „Stillhaltevereinbarung“ darüber, dass alle zu diesem Zeitpunkt in Föhrenwald registrierten „Illegalen“ sechs Monate lang die Bundesrepublik nicht verlassen mussten und öffentliche Fürsorge erhielten, um so ihre Auswanderung vorzubereiten. Da sich die Auswanderung jedoch hinzog, wurde diese Frist in den folgenden Jahren trotz des vehementen Widerspruchs von Seiten des BMI immer wieder verlängert.

In den weiteren Auseinandersetzungen um das Lager Föhrenwald und seine Bewohner zeigte sich, dass Breull und das BMI eine Verschärfung der Maßnahmen gegen die „Illegalen“ und ihre möglichst rasche Abschiebung forcierten, während das Auswärtige Amt und die Behörden vor Ort sich dem nicht nur widersetzten, sondern vielmehr zu Kompromissen mit den Bewohnern und den involvierten jüdischen Organisationen bereit waren. Zudem wurde dem BMI deutlich gemacht, dass es zwar für die Kosten für Föhrenwald größtenteils aufkommen musste, ihm zugleich aber kaum Handlungsoptionen blieben, da es über keine eigenen lokalen Verwaltungsstrukturen und keinen direkten Zugriff auf Polizeikräfte vor Ort verfügte. Als sich die Dinge über Monate und Jahre hinzogen, resignierte Breull mehr und mehr, da er mit seinen Plänen zur Abschiebung oder wenigstens zur Beschleunigung der Emigration der Juden in Drittländer nicht vorankam.

Das Lager Föhrenwald wurde Anfang 1957 endgültig aufgelöst. Bis dahin waren vier Personen abgeschoben worden, während der größte Teil der „Illegalen“ langfristig in der Bundesrepublik geduldet wurde. Gegen den Willen des BMI hatte sich schließlich eine pragmatische Linie durchgesetzt, die den Rahmenbedingungen einer international eng verflochtenen und pluralistischen Demokratie entsprach, da man bemüht war, auf die öffentliche Meinung im In- und Ausland sowie auf die Interessen jüdischer Organisationen Rücksicht zu nehmen.

Was Kurt Breull angetrieben haben dürfte, war die Verbindung von scheinbar unpolitischer, rein sachorientierter Gesetzesgläubigkeit, Ausländerfeindlichkeit und einer antisemitischen Grundhaltung, welche schon während seiner Juristenausbildung im Jahre 1936 deutlich geworden war. Dies machte ihn zehn Jahre nach dem Ende des Holocaust unfähig zur Empathie mit jüdischen Schicksalen.

Das Beispiel Föhrenwald zeigt, wie sehr NS-Opfer und Flüchtlinge in der Nachkriegszeit Rassismus und Antisemitismus ausgesetzt waren und wie sich diese Einstellungen auf das Handeln staatlicher Behörden und hier speziell eines Bundesministeriums auswirkten. Dennoch ist zu vermuten, dass es bei Breull letztlich zu einem Lernprozess kam und er einsah, dass das BMI nicht im „luftleeren Raum“ agierte, sondern auf die öffentliche Meinung und politische Interessen innerhalb der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen hatte. Das hieß, dass sich fremdenfeindliche Ressentiments innerhalb der Behörden zwar nicht auflösten, aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit mittelfristig jedoch eine Zivilisierung und Liberalisierung des Verwaltungshandelns erfolgte.

 

[1] Zum Lager allgemein vgl. Angelika Königseder/Juliane Wetzel: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M. 1994, S. 99-172; Andrea Sinn: Jüdische Politik und Presse in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2014, S. 218-226; sowie die Akte des BMI zu Föhrenwald, in: Bundesarchiv (künftig: BArch), B 106, 47398.

[2] Zur Person von Kurt Breull vgl. die Personalakten, in: BArch, ZA VI 0395, A. 8; BArch, Pers 101, 76552, 76555-76558; zum oftmals fremdenfeindlichen und rassistischen Agieren von Breull im Kontext der Ausländerpolitik allgemein bis zum Beginn der 1960er Jahre vgl. Karen Schönwälder: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001, S. 214-345.

[3] Vermerk von Müller-Hoppenworth vom Reichsministerium des Innern, 20.06.1938, in: BArch, ZA VI 0395, A. 8; zur diesbezüglichen juristischen Auseinandersetzung während der NS-Zeit vgl. Diemut Majer: „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard a. Rh. 1981, insbes. S. 688-692.

[4] Vgl. Lebenslauf von Kurt Breull, 30.08.1952, in: BArch, Pers 101, 76555. Breulls Betrug bei der Angabe zur NSDAP-Mitgliedschaft wurde 1957 im BMI entdeckt, führte aber nicht zu seiner Degradierung oder Entlassung; vgl. BArch, Pers 101, 76555, 76557.

[5] Niederschrift über die Besprechung im Bayerischen Staatsministerium des Innern, München, 09.06.1953, in: BArch, B 106, 47398.

[6] Ebd.

[7] Vgl. z. B. Vermerk von Engert betr. unerlaubten Aufenthalt israelischer Staatsangehöriger im Lager Föhrenwald (Bayern), 18.08.1953, in: BArch, B 106, 47398.