von Dorothee Wierling

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14. Dezember 2016

Über das Soziale an den Dingen

Als Sozialhistorikerin möchte ich meine Arbeit nur ungern auf die Sphäre des Alltäglichen reduzieren, nicht zuletzt, weil das Konzept des Alltags vage und zugleich in einer unbestimmten Weise anmutend ist, mit der ich mich wenig identifizieren kann. Deshalb erscheint mir der von Wolfgang Ruppert vorgeschlagene Begriff des „Lebenszusammenhangs“ für das Verständnis des sozialen Gebrauchs, der von den Dingen gemacht wird, angemessener. Wenn ich „das Soziale“ in den Mittelpunkt meiner Arbeit als Historikerin stelle, dann ist klar, dass es hierbei um Beziehungen durch Kommunikation, Austausch und Vermittlung geht, also soziale Interaktionen verschiedenster Art, die alle an der Basis das herstellen, was wir Gesellschaft nennen. Deshalb spreche ich in diesem Sinne von Selbst-Vergesellschaftung als dem Basisprozess des Zusammenlebens. Meiner Ansicht nach gibt es nichts Soziales in den Dingen. Alles, was wir meinen können, wenn wir über „the social life of things“ sprechen, ist das, was wir durch unser (soziales) Handeln den Dingen an Bedeutung zufügen. Außerhalb unserer Interaktion existiert nichts Soziales, weswegen es mir angemessener erscheint, über das Soziale an den Dingen zu sprechen, indem wir untersuchen, wie die Dinge in den Dienst des Sozialen gestellt werden.

Meine ursprüngliche Inspiration für die folgenden Überlegungen geht auf einen Text von David Sabean zurück, den er Anfang der 1990er Jahre in dem von Wolfgang Ruppert herausgegebenen Band „Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge“[1] veröffentlicht hat: „Die Produktion von Sinn beim Konsum der Dinge“. Mit Bezug auf Baudrillards Kritik an Marx’ Konzept der Bedürfnisse und Michel de Certeaus „Kunst des Handelns“[2] zeigt er an drei Fallbeispielen (dem Karneval in der Renaissance, der plebejischen Kultur des 18. Jahrhunderts und Baseball als Zuschauersport in den USA), dass bei jeder Art des Gebrauchs von Dingen nicht die Subjekt-Objekt-Beziehung entscheidend ist für den Sinn des Tuns oder die Bedeutung des Objekts, sondern die Subjekt-Subjekt-Beziehung. Im Verbrauch wie in jedem anderen Umgang mit dem Objekt wird eine intersubjektive Beziehung hergestellt, gepflegt oder erneuert, und damit sozialer Sinn (re)produziert. Nach einem solchen sozialen Sinn möchte ich im Folgenden fragen.

Die Beispiele sind spontan bzw. pragmatisch ausgewählt worden, und es soll an ihnen nur ausprobiert werden, wie weit die Suche nach sozialem Sinn an einem bestimmten Gegenstand beziehungsweise einer dinglichen Kategorie getrieben werden kann. Dies soll an dieser Stelle zunächst nur in Ansätzen gezeigt werden. Mein Zugang ist anekdotisch und autobiographisch. Die ersten beiden Beispiele stammen aus meiner eigenen Nachkriegskindheit im Ruhrgebiet. Bei beiden geht es um das Essen und Trinken beziehungsweise Geschmacksfragen. Das andere Beispiel – ein Haarwaschmittel – geht auf das Oral-History-Projekt der „volkseigenen Erfahrung“ zurück, das ich 1987 zusammen mit Lutz Niethammer und Alexander von Plato in der DDR durchgeführt habe.[3]

 

Der Henkelmann

Das folgende Bild zeigt einen sogenannten Henkelmann – ein verschließbares Gefäß aus Aluminium, in welches Vorgekochtes eingefüllt und in der Mittagspause vom Arbeiter aufgewärmt und aufgegessen wurde. Der Henkelmann stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist eng mit Fabrikarbeit sowie geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der Industriearbeiterschaft verknüpft. Dem Konzept und praktischen Gebrauch des Henkelmanns liegt die Voraussetzung zugrunde, dass der männliche Arbeiter einer einfachen und gesunden Mahlzeit am Arbeitsplatz bedarf, die zudem preisgünstig im eigenen Haushalt zubereitet wurde.

Henkelmann

Abb. 1 Henkelmann
"Essenträger (Henkelmann), Aluminium, ca 1950er", Foto: Hannes Grobe, 11.09.2014, Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 3.0.

Sozialreformer/-innen vom späten 19. Jahrhundert bis hin zum 21. Jahrhundert und Paul Noltes Äußerungen[4] haben immer wieder darauf verwiesen, dass eine häuslich zubereitete Mahlzeit die Unterschichten vor Fehlernährung und anderen Lastern schützt und außerdem den Armen ermöglicht, im Rahmen eines niedrigen Haushaltsbudgets satt zu werden. Vor vielen Jahren führte ich lange Gespräche mit Ulrich Borsdorf[5], dem langjährigen Direktor des Ruhrmuseums, über den sozialen Sinn und die historische Bedeutung des Henkelmanns – als Beispiel für das sozialgeschichtliche Potential an Zuschreibungen, mit dem die Dinge von Menschen angereichert werden. Im Henkelmann sind zwei zentrale Sozialbeziehungen miteinander verbunden: jene zwischen der sorgenden Hausfrau und dem umsorgten Ehemann; und die der männlich-kollegialen Gemeinsamkeit am Arbeitsplatz, wenn in der Pause die diversen Henkelmänner in einen großen Bottich mit heißem Wasser zum Aufwärmen gestellt wurden. Ein Vorgang, der gelegentlich auch von den Lehrlingen zu erledigen war und manchmal auch dadurch ersetzt wurde, dass Frau und Kinder dem „Ernährer“ den noch heißen Henkelmann vor das Fabriktor brachten, um dort mit ihm die Pause zu verbringen.

Das ist die Basisgeschichte um den Henkelmann. Aber auch mein Vater, ein kleiner Angestellter in einem großen Druckereibetrieb in Essen, ging in den 1950er Jahren mit einem Henkelmann zur Arbeit, und er war sicher nicht der Einzige. Offensichtlich handelt es sich also um ein Ding, dessen Bedeutung weit über das 19. Jahrhundert und die Arbeiterschicht hinausging. Da mein Vater in einem Büro arbeitete, hat er den Henkelmann wahrscheinlich in einem Topf aufgewärmt, in dem mit einem Tauchsieder das Wasser erhitzt worden war. Er tat dies, bis sein Betrieb in den 1960er Jahren eine Betriebskantine einrichtete, wo er dann täglich seine warme Mahlzeit einnahm, während es zum familiären Abendessen Tee und belegte Brote gab. Hausfrau und Kinder nahmen ihre warme Mahlzeit mittags ein – der Gedanke, dies auf den Abend zu verlegen und mit dem Vater gemeinsam die warme Hauptmahlzeit zu verzehren, kam niemandem in unseren Kreisen und in dieser Generation. Das verweist auf die Dominanz von Häuslichkeit im kleinbürgerlichen Familienleben der 1950er und 1960er Jahre und sollte sich erst mit der Generation der Nachkriegskinder ändern, in der auch die Berufstätigkeit verheirateter Frauen und Mütter zunehmend akzeptiert wurde.

Bis dahin jedoch bestand das Ritual der sorgenden Essensvorbereitung durch die Hausfrau und Mutter: Jeden Morgen nahm der Vater den gefüllten Henkelmann, die Kinder ihre in Butterbrotpapier eingewickelten Schulbrote aus der mütterlichen Hand in Empfang – ich erinnere mich auch an Aluminiumbrotbehälter, die wir Kinder aber nicht benutzten. Wir verließen damit die Wohnung, die danach ganz der Mutter gehörte.

 

Die Sammeltasse

Mein nächstes Beispiel ist die sogenannte Sammeltasse. Sie ist ein für das konventionelle volkskundliche Interesse typischer Gegenstand. Gibt man den Begriff bei Google ein, stößt man auf der ersten Seite auf den entsprechenden  Wikipedia-Artikel, in dem es heißt, „die Tradition der Sammeltasse [gehe] zurück auf die Zeit des Biedermeiers. Im frühen 19. Jahrhundert [...] entwickelte sich in bürgerlichen Kreisen der Brauch, Tassen zu sammeln sowie zu besonderen Anlässen oder als Freundschaftsgabe, oft mit namentlicher Widmung, zu verschenken.“[6]

Ansonsten bestehen die ersten Suchseiten fast ausschließlich aus ebay-Anzeigen, aus denen auch das Bildbeispiel stammt. Offensichtlich hat meine Generation von ihren Eltern Unmengen an „Sammeltassen“ geerbt und versucht jetzt, sie gegen Geld loszuwerden. Die Sammeltasse auf diesem Bild hat, wie ich finde, einen etwas traurigen Platz zugewiesen bekommen, in der Ecke einer schmucklosen Fensterbank unter einem Kunststofffenster; auch der angelehnte grüne Plastikzweig kann den Eindruck nicht verbessern. In der Wohnung meiner Eltern dagegen stand eine Vitrine, ein dunkler Holzschrank, hinter dessen oberen, seitlich verschiebbaren Glastüren eine Anzahl von Sammeltassen zur Schau gestellt wurde.

Sammeltassen sind nicht zum Gebrauch, sondern ausschließlich zum Zeigen da. Deshalb war ich einigermaßen geschockt, als ich in den 1990er Jahren im Haus einer jüngeren Kollegin den Espresso nach dem Abendessen in einer von mehreren unterschiedlichen Sammeltassen serviert bekam – offensichtlich eine ironische, vielleicht aber auch sentimentale Geste. Unsere Sammeltassen hatten nur zwei Funktionen: die wichtigste bestand in der Demonstration eines bestimmten Geschmacks und sozialen Status’, den meine Mutter für bürgerlich hielt, der aber tatsächlich kleinbürgerlich war. Und schließlich übernahm die Sammeltasse die Rolle eines rituellen Geschenks, in meinem Fall vermutlich zur Feier der Erstkommunion. Der Erhalt einer eigenen Sammeltasse markierte den Übergang in den Status eines schon vernünftigen Kindes und der damit verbundenen Statusverbesserung in der Familie, ähnlich wie die erste Armbanduhr. Eine Gabe der Eltern, die in der Vitrine landete. Ich habe sie verwahrt, sie hat also funktioniert.

Im Verlauf der 1960er Jahre war die Situation in meiner Familie jedoch uneindeutig. Wir drei Schwestern (geboren zwischen 1940 und 1950) machten uns über die Sammeltassen lustig, ebenso wie über eine Porzellantänzerin, ein Ölgemälde mit Sonnenblumen und die ganze Wohnzimmereinrichtung im Stil des Gelsenkirchener Barocks – ein Begriff, den wir selbstverständlich ironisch benutzten. Während wir uns mit solchen Reden geschmacklich von unseren Eltern absetzen wollten, stimmten diese gutmütig ein, ohne dass dies ihre ästhetischen Vorlieben in irgendeiner Weise geändert hätte. Sie fühlten sich nämlich in ihrem Wohnzimmer schon deshalb absolut sicher, weil es bis ins Detail denen unserer Verwandten und Nachbarn glich. Anders als gelegentlich postuliert, war ihr Kleinbürgertum nicht nur von Statusunsicherheit geprägt oder vom Drang nach Höherem bestimmt, sondern hauptsächlich vom Wunsch, als Gleiche unter Gleichen anerkannt zu werden. Solange das gewährleistet war, waren sie auch zur Selbstironie fähig. Erst der drohende Besuch echter „Bürger“ versetzte zumindest meine Mutter in Panik. Wie wenig ihr das auratische Konzept von „Echtheit“ bedeutete, zeigt eine kleine Anekdote: Im Versuch, ihren Geschmack in diese Richtung zu lenken, kaufte ich ihr einmal in einem gehobenen Trödelladen ein kleines Set mit Salz-und Pfefferfässchen aus dem späten 19. Jahrhundert. Auf meinen stolzen Hinweis, dass der Gegenstand wirklich alt sei, antwortete sie nur nachsichtig: „Das macht nichts.“

 

Die Schauma-Flasche

Die Älteren werden sich noch an eine Schauma-Reklame erinnern, die in den 1980er Jahren unter dem Motto "Jedem das Seine"[7] ihre breite Produktpalette von Haarwaschmitteln anpries, und zwar in einer Szene, in der sich Familienangehörige scherzhaft um das Haarwaschmittel stritten, wo doch für jeden das passende vorhanden war. Im Jahre 1987 hatten Lutz Niethammer, Alexander von Plato und ich die Genehmigung der DDR-Behörden erhalten, in drei Städten der DDR (Eisenhüttenstadt, Karl-Marx-Stadt und Bitterfeld) lebensgeschichtliche Interviews mit Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1900–1930 durchzuführen. Viele dieser Gespräche fanden in den Privatwohnungen unserer Interviewpartner/-innen statt, und da die Gespräche lange dauerten und dabei viel Kaffee getrunken wurde, benutzten wir gelegentlich deren Toiletten. So ein Badezimmer ist natürlich ein besonders interessanter Raum, da er Auskünfte über das Leben der Bewohner/-innen gibt, die im jeweiligen Wohnzimmer nicht zu erhalten sind – in diesem Fall über die benutzte Shampoomarke. Vor allem Alexander begann, möglichst in jeder Wohnung das Bad zu benutzen, um zu überprüfen, ob die Körperpflegemittel aus dem Westen stammten, und um deren Häufigkeit photographisch zu dokumentieren. Im Austausch mit unseren DDR-Kolleg/-innen stellte sich allerdings heraus, dass zwar die Flaschen aus dem Westen stammten, nicht aber ihr Inhalt. Denn wenn zum Beispiel das Schauma alle war, dann füllte man in die Flasche Florena ein.

Soweit der Befund. Aber was bedeutet er eigentlich? Zunächst das Offensichtliche: Es ging nicht um die Qualität der Ware, sondern um ihre Verpackung, also den Zeigeeffekt der Westflasche. Dieser Effekt bestand zunächst in dem Beweis, dass man über Westgeld oder Westverwandtschaft verfügte, mit deren Hilfe man sich das Produkt hatte verschaffen können. Aber verhalf einem dieser Verweis zu einer herausgehobenen Position in der DDR der 1980er Jahre? Wohl kaum, war das Westgeld doch zu einer üblichen Schattenwährung geworden, deren in der DDR kursierende Gesamtmenge inzwischen auf mehrere Millionen geschätzt wird. Außerdem war das Bad innerhalb der Wohnung der „privateste“ Raum, der nur in Ausnahmefällen von Fremden betreten wurde, wohl aber von Verwandten, Nachbar/-innen und Freund/-innen. Der Gebrauch der Schaumaflasche war also zumindest teilweise ein „heimliches“ Vergnügen, ein vielleicht sogar ironisches Spiel mit dem gleichzeitigen Zeigen und Verbergen des Produkts. (Darüber, wie der Werbespruch Jedem das Seine bei DDR-Bürgern gewirkt hat, die ihn als schmiedeeiserne Schrift im Eingangstor der KZ-Gedenkstätte Buchenwald kannten, ließe sich auch nachdenken, aber das gehört nur am Rande zum Thema.)

Als Spiel verweist der Gebrauch der Schaumaflasche auf die Bedeutung des Dings für das Subjekt, seine Phantasie vom guten Leben. Dieser Aspekt hat natürlich auch eine soziale Seite, denn offensichtlich handelt es sich um eine massenhafte Nachahmung, einen klassen- und milieuüberschreitenden Badezimmerstandard, denn auch beim Besuch der Toiletten einiger unserer DDR-Kolleg/-innen konnten wir dasselbe Phänomen feststellen. In diesem Sinne bedeutete die Schaumaflasche nicht soziale Abgrenzung, also den Wunsch nach Distinktion, sondern im Gegenteil „Normalität“ auch im Sinne der Normierung von Standards und zwar im gemeinsamen Wissen um das Täuschungsspiel.

Wenn allerdings der westdeutsche Gast ins DDR-Bad ging, wurde in seinen Augen die Schaumaflasche zu einem erstaunlichen, ja kuriosen Ding, das würdig war, fotografiert zu werden. Hier hatte sich jemand einen Gegenstand angeeignet und dabei mit neuem Sinn ausgestattet, der eigentlich seiner, der westlichen Gesellschaft angehörte. Der Westdeutsche konnte sich geschmeichelt fühlen, dass seine Dinge so wertgeschätzt wurden. Er musste sich aber auch ausgeschlossen fühlen aus der Gemeinschaft derer, die der Flasche ein Vergnügen entlockten, das ihm nicht zugänglich war. Erst beim Schreiben dieser Zeilen ist mir der Gedanke gekommen, dass die Flaschen vielleicht extra aus Anlass des Westbesuchs in die erste Reihe der Badezimmerregale gestellt wurden. Das würde der Sache und dem Ding noch einmal eine zusätzliche Bedeutung geben, auf die ich hier aber nicht eingehen kann – ebenso wenig wie auf die Möglichkeit, dass es nicht nur um die Flasche als Westmarke, sondern auch als Westmaterial, also die Qualität des Plastiks ging. Das hätte dem Schaueffekt eine weitere Dimension hinzugefügt.

 

Fazit

Bei diesen Überlegungen handelt es sich (noch) nicht um die Frage, wie wir empirisch einlösen, was wir in Gedankenspielen entdecken. Es ging mir darum, das Potential von Dingen, sozialen Beziehungen und den (rituellen) Handlungen, in denen sie realisiert werden, zu zeigen. Für Sozialhistoriker/-innen heißt das, Dinge auf verschiedenen Ebenen des Sozialen für ihre Arbeit produktiv zu machen.

Eine dieser Ebenen ist die Mikroebene des alltäglichen Handelns konkreter Personen in konkreten Interaktionen unter Vermittlung von Dingen: zwischen Ehepartner/-innen, Eltern und Kindern, unter Kolleg/-innen, Nachbar/-innen, Freund/-innen und Fremden. Auf einer anderen Ebene der Beziehungsanalyse geht es um den sozialen Ort in der Gesellschaft als ganzer, der durch Dinge und ihren Gebrauch gefunden und bestätigt wird – und zwar sowohl durch soziale Distinktion, als auch durch Ähnlichkeit und Zugehörigkeit. Diese sich gegenseitig bedingenden Modi gelten im Übrigen sowohl für kapitalistisch wie sozialistisch verfasste Gesellschaften. Und schließlich reicht der soziale Umgang mit Dingen und ihre Auswahl, etwa für den Akt des „Zeigens“, weit über die Grenzen spezifischer Epochen, Kulturräume, Klassen und politische Systeme, wie das Beispiel der Wohnzimmerschränke (siehe oben) verdeutlicht. Offensichtlich schöpfen Menschen aus einem großen Fundus an Dingen, der zeitlich an das 19. Jahrhundert anknüpft und sozial an einen dominanten Geschmack, den wir kleinbürgerlich nennen können. Dass es hierbei bemerkenswerte Varianten gibt, die auch auf soziale Schichtung verweisen, hat Paul Fussell in seinem unterhaltsamen Klassiker über Statussymbole in Amerika gezeigt.[8]

Im weitesten Sinn aber ist es das Potential der Dinge, historische Phantasie anzuregen und Fragen zu erzeugen, die dann auch mit Hilfe anderer Quellen bearbeitet werden können. In diesem Zusammenhang verstehe ich die grundlegende Tatsache, dass die Dinge selbst beziehungsweise die mit ihnen verbundenen Interaktionen mehrdeutig sind keineswegs als Nachteil. So wie auch die mehrdeutigen mündlichen Erzählungen in der Oral History, und die Vieldeutigkeit mancher schriftlicher Quellen aus dem 20. Jahrhundert, reflektieren die Materialien, mit denen wir als Zeithistoriker/-innen arbeiten, lediglich die Mehrdeutigkeit der in ihnen repräsentierten Erfahrungen dieser widersprüchlichen Epoche. Es geht nicht darum, Mehrdeutigkeit in Eindeutigkeit umzuwandeln, sondern darum, sie anzuerkennen und anzunehmen.
 

* Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um ein überarbeitetes Vortragsmanuskript.
Der Vortrag wurde von Dorothee Wierling aus Anlass der Tagung „Dinge in der Zeitgeschichte“ gehalten. 
Die Tagung wurde von den Mitarbeiter/-innen des Forschungsprojektes „Materielle Kultur als soziales Gedächtnis einer Gesellschaft“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung organisiert und fand am 15./16. Oktober in Potsdam statt.
Dazu der Tagungsbericht von Sandra Schürmann auf HSozKult vom 23.12.2016.

Mehr zum Thema im aktuellen Heft der Zeithistorischen Forschungen 3/2016: Der Wert der Dinge

 

[1] Wolfgang Ruppert: Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Geschichte der Industriekultur, Frankfurt/M. 1993.
[2] Michel de Certeau: Kunst des Handelns,Berlin 1988.
[3] Lutz Niethammer, Alexander v. Plato und Dorothee Wierling: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991.
[4] Paul Nolte: Das grosse Fressen. In: Die ZEIT, 17.12.2003 (Nr. 52).
[5] Ulrich Borsdorf ist Historiker und Sozialwissenschaftler. Er war von 1986 bis zu dessen Schließung im Jahr 2007 Direktor des Ruhrlandmuseums in Essen, von 2008 bis 2011 leitete er das neue Ruhr Museum.
[6] Artikel "Sammeltasse". In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 21.10.2015.
[7] Diese „Redewendung“ fand sich auch nach innen gerichtet im Tor des 1937 errichteten Konzentrationslagers Buchenwald. Bei der Umwandlung des KZs in eine Gedenkstätte wurden die Schriftzüge nach außen gedreht.
[8] Paul Fussell: Class. A Guide Through the American Status System, New York 1983.