von Stefan Noack

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21. Februar 2017

Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit stand in Deutschland lange im Schatten der Aufarbeitung des Holocaust, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Erst Mitte der 1990er Jahre konnte die Kolonialismus-Forschung im Fahrwasser neuer globalhistorischer Ansätze eine eigenständige Dynamik entwickeln. In Zeiten kontrovers geführter Debatten um Fremdenhass, Flüchtlingspolitik und internationale Militärinterventionen erscheint es mehr denn je notwendig, die Ergebnisse dieser Forschung auch außerhalb akademischer Kreise zu vermitteln. Das Deutsche Historische Museum in Berlin hat dazu in den vergangenen Jahren durch Ausstellungen wie „Tsingtau  ̶  ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China“[1] (1998) und „Namibia – Deutschland. Eine geteilte Geschichte“[2] (2004) wichtige Beiträge geleistet. Mit der Sonderausstellung „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“[3] setzt es seine Arbeit in diese Richtung fort. Die Schau, die noch bis Mai 2017 im Untergeschoss des Pei-Baus zu sehen ist, widmet sich nicht nur der kurzen Episode deutscher Kolonialherrschaft zwischen 1884 und 1914, sondern nimmt auch deren Vor- und Nachgeschichte in den Blick.

Die Ausstellung ist in acht Themenschwerpunkte gegliedert, die forschungsnah zentrale Aspekte kolonialen Denkens, Lebens und Erinnerns diskutieren. Ausgangspunkt sind die frühen kolonialen Verflechtungen deutscher Territorien, skizzenhaft repräsentiert durch Exponate wie eine „Mohrenmaske“ aus Prag (1555) und Überreste der brandenburgisch-preußischen Festung Groß-Friedrichsburg an der Küste des heutigen Ghana (1683). Den Kolonien des Deutschen Kaiserreichs sind drei Abschnitte gewidmet, die sich mit Herrschaftsverhältnissen, Aushandlungen im kolonialen Alltag und Grenzziehungen auseinandersetzen. Ein zentraler Bereich beschäftigt sich hier mit den verschiedenen Formen kolonialer Gewalt   ̶ von der Prügelstrafe mit der gefürchteten Nilpferdpeitsche bis zu blutigen Massenmorden wie der Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes in Deutsch-Ostafrika (1905-1907) und dem Genozid an den Herero und Nama (1904-1908) in Deutsch-Südwestafrika. Darüber hinaus finden sich Exkurse zu Missionaren, Medizinexpeditionen, Landwirtschaft, Handel, Anthropologie, Wohnraumpolitik, Geschlechterbeziehungen und Völkerschauen. Unter der Überschrift „Koloniale Sammlungen, kolonialer Blick“ wird schließlich die Frage diskutiert, auf welchen Wegen Objekte aus den Kolonien in die Hände europäischer Museen und Privatleute gelangten. Die Kuratoren präsentieren dabei bewusst Exponate mit problematischer Provenienz wie die Bibel des Orlam-Kapteins Hendrik Witbooi (1830-1905), die 1893 bei einem Überfall der Schutztruppe erbeutet wurde und seit einigen Jahren vom Staat Namibia als Teil seines kulturellen Erbes zurückgefordert wird. Der sechste Abschnitt beschäftigt sich mit dem „Kolonialismus ohne Kolonien“, der 1920er, 30er und 40er Jahre. Hier werden die Mythologisierung der Kolonialkämpfe des Ersten Weltkrieges, das Spannungsfeld zwischen Kolonialrevisionismus und Antikolonialismus, die Weiterentwicklung kolonialer Institutionen und das Verhältnis zwischen Kolonialbewegung und Nationalsozialismus erklärt. Der siebte Abschnitt wirft einen knappen Blick auf den Prozess der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und die geteilte Kolonialerinnerung im Verlauf des Kalten Krieges. Über diesen Abschnitt gelangen die Besucher schließlich zum Ende der Ausstellung, an dem gestürzte Denkmäler, Straßenschilder, Familienfotos, Dokumentarfilme und Schautafeln verdeutlichen, wie weit die Schatten des Kolonialismus in die Gegenwart reichen. 

Der „Deutsche Kolonialismus“ ist ein derart weites, komplexes und polarisierendes Thema, dass es unmöglich scheint, ihn im Rahmen einer einzigen Ausstellung umfassend abzubilden. Die Verantwortlichen des Deutschen Historischen Museums haben diesen Versuch gewagt, und das Ergebnis ist trotz einiger Schwächen positiv zu bewerten. Die Ausstellung bietet ein breites Panorama von 500 Exponaten aus über 75 Sammlungen, darunter nicht nur zahlreiche Briefe, Dokumente, Gebrauchsgegenstände und Kunstwerke, sondern auch einige skurrile Kolonialsouvenirs wie etwa die Spitze des Kilimandscharo, die der Afrikaforscher Hans Meyer (1858-1929) nach der Erstbesteigung des Berges im Jahr 1889 abschlug und mit nach Hause nahm. Diese Gegenstände mit ihren faszinierenden Hintergrundgeschichten haben das Potential, Menschen aller Bildungsschichten zu einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kolonialismus anzuregen.

Der Journalist Andreas Kilb hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Oktober 2016[4] das Grundkonzept der Ausstellung in Frage gestellt. Er beklagt sich in seinem Artikel darüber, dass das Deutsche Historische Museum seinem Publikum die Trümmer einer universitären Hauptseminar-Debatte vor die Füße werfe, anstatt mit einer klassischen Überblicksschau aus wohl sortierten und verdichteten Beiträgen zu zentralen Personen, Orten und Entwicklungen eine allgemeine Einführung in den Themenkomplex zu geben. Kilbs Kritik ist zwar sehr pointiert, das Konzept sollte deshalb aber nicht vorschnell verworfen werden. Die Kuratoren der Ausstellung haben sich große Mühe gegeben, einen thematischen Überblick zu gestalten, der einem möglichst breiten Publikum zugänglich ist. Alle Begleittexte sind sowohl in deutscher und englischer Sprache als auch in Blindenschrift und Gebärdensprache verfügbar. Eine zusätzliche Beschilderung in „Leichter Sprache“[5] richtet sich an Kinder und Menschen mit Beeinträchtigungen. Zwar ist auf diese Weise gewährleistet, dass alle BesucherInnen die Texte verstehen, das heißt aber nicht automatisch, dass sie in der Lage sind, die darin enthaltenen Informationen zu kontextualisieren. Dazu wäre entweder ein ereignishistorischer Bezugsrahmen oder ein roter Faden im Ausstellungsnarrativ notwendig, beides wird jedoch nur bruchstückhaft vermittelt. Erschwerend kommt hinzu, dass die offene Ausstellungsarchitektur besonders in der ersten Hälfte der Schau nur wenige Wege und Räume klar definiert, wodurch Gäste zwischen den vielen Schaukästen und Vitrinen schnell die Orientierung verlieren. BesucherInnen ohne Vorwissen sei deshalb geraten, zunächst entweder an einer Führung teilzunehmen oder einen elektronischen Audioguide zu benutzen. So lassen sich einige der größeren Untiefen umschiffen.

Abschließend sei auf den Begleitband zur Ausstellung verwiesen, der auch unabhängig von einem persönlichen Besuch eine lohnende Lektüre darstellt. Er enthält neben der reich bebilderten Dokumentation der Exponate eine Sammlung von 16 Essays, die Kolonialismus-ExpertInnen wie Ulrike Lindner, Rebekka Habermas, Jürgen Zimmerer und Andreas Eckert verfasst haben.
 

Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, Deutsches Historisches Museum Berlin, 14.10.2016-14.05.2017; Begleitband: Theiss Verlag Darmstadt 2016, ISBN: 978-3-86102-198-8, 337 S., ca. 220 farbige Abb.

Mehr dazu auf HSK: Hanco Jürgens, Ausstellungsrezension zu: Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, 14.10.2016 – 14.05.2017, Deutsches Historisches Museum Berlin, in: H-Soz-Kult, 26.11.2016.
 

 

 
[1] Siehe dazu: Tsingtau - ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China. 1897-1914. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museum, Stand: 20.02.2017.
[2] Siehe dazu: Namibia - Deutschland. Eine geteilte Geschichte. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museum, Stand: 20.02.2017.
[3] Siehe dazu: Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museum, Stand: 20.02.2017.
[4] Kilb, Andreas: Grimmiger Arier am Kilimandscharo, in: FAZ vm 21.10.2016, Stand: 20.02.2017.
[5] Siehe dazu  Leichte Sprache. Mit-bestimmen, Stand: 20.02.2017.