Es ist etwas in Bewegung geraten in der ohnehin komplizierten deutsch-deutschen Erinnerungslandschaft. Nach dreißig Jahren wandeln sich die Rückblicke auf die jüngste Vergangenheit. Im Fokus steht dabei die Zeitenwende von 1989/90, die Deutschland und Europa wieder intensiv umtreibt. Eine neue Welle von Populismen und Nationalismen spült scheinbar vergessene, verdrängte oder überwunden geglaubte Fragen zu den materiellen wie ideellen Erbschaften von Staats- und Postsozialismus erneut an die Oberflächen. Als zuletzt auch die sonst in dieser Hinsicht so schweigsame Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Interview gegenwärtig – angesichts bisweilen heftiger publizistischer Debatten – ein ostdeutsches „1968“ aufdämmern sah, wurde offensichtlich: Vormals festgefügte Meister- beziehungsweise Siegererzählungen (West?) und hierauf bezogene Gegen- beziehungsweise Opfererzählungen (Ost?) werden brüchig und verlieren an Überzeugungs- und Bindekraft.[1] Politische, generationelle, wissenschaftliche und kommunikativ-technologische Dynamiken überschneiden sich in einem nur schwer überschaubaren Geflecht aus vielfältigen Interessen, Meinungen und Emotionen. Und mittendrin: eine gerade erst dieses neue Feld empirisch für sich entdeckende Zeitgeschichtsforschung.
„1989/90“ als Testfall für die Public History?
Dabei scheint gerade die Zeitgeschichte hierzulande von akuten und vielleicht auch chronischen Selbstzweifeln befallen zu sein. Nicht ohne Grund erhoben beim jüngsten Münsteraner Historikertag gerade die führenden Häupter der Zunft kraftvoll die Forderung, den akademischen Elfenbeinturm angesichts einer gerade auch an ihren Vergangenheiten verunsicherten Gegenwartsgesellschaft zu verlassen.[2] Die soeben (wieder-)aufbrechenden Debatten um „1989/90“ und die langfristigen Folgewirkungen könnten somit ein Testfall für die in den letzten Jahren vieldiskutierte Public History sein. Ins Positive gewendet: Können vielleicht gerade auch Zeithistoriker*innen im aufbrandenden öffentlichen Stimmengewirr eigene oder gar neue Impulse setzen?
Im Folgenden möchte ich einige subjektive Beobachtungen aus der Praxis in Ost und West zwischenbilanzieren. Eine ganze Reihe von Terminen hat mich nach der Veröffentlichung meiner Dissertation zur Treuhand und ihrem Personal im letzten Jahr in verschiedene Museen und Gedenkstätten, zu Stiftungen, Bürgergruppen oder anderen Gesprächskreisen in Ost und West geführt. Vorab: der Rede-, Diskussions- und Orientierungsbedarf scheint allerorten immens.
Der Treuhandanstalt: ein „Schutzschild“ für die Politik?
Die Treuhand ist im Osten ein Mythos – aber kein positiver. Die Organisation war zwischen 1990 und 1994 für den raschen Umbau der sozialistischen Plan- in eine kapitalistische Marktwirtschaft zuständig. Sie fungierte in ihrer chaotischen Frühzeit als eine Art Wirtschaftsregierung des Ostens, ausgestattet mit immensen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen und zugleich eingeklemmt in zahlreiche Widersprüche und massive Erwartungen. Geführt von westdeutschen Industriemanagern und Unternehmern setzte sie im sich nach der Wirtschafts- und Währungsunion ab dem Sommer 1990 entfaltenden ökonomischen Krisenszenario auf möglichst rasche Privatisierungen und Abwicklungen. Zumeist waren es westdeutsche Unternehmen, die als Investoren auftraten. Detlev Rohwedder als Treuhandpräsident und nach dessen Ermordung seine Nachfolgerin Birgit Breuel bauten die Organisationen massiv aus und um, so dass diese auch in der Praxis ab 1992 ordentlich aufs Tempo drücken konnte. Und tatsächlich hatte man bereits Ende des Jahres 1992 den Großteil der über 8.500 DDR-Industriebetriebe privatisiert oder stillgelegt, mehr als drei Millionen Arbeitsplätze waren dabei im raschen Umbauprozess verloren gegangen. Die Treuhand war in dieser Zeit hochumstritten und fungierte als eine Art „Schutzschild“, der die massiven Frustrationen vieler Ostdeutscher vom politischen System auf die West-Manager ablenkte.[3] Die Kalkulation dahinter: Lieber kurz und schmerzhaft als lang und qualvoll.
Der Osten: die Bewältigung kollektiver Traumata
Ende 1994 feierte die ab 1993 in massive Skandale verwickelte Treuhand dann ihre „Selbstauflösung“. Doch damit verschwand die Treuhand eben nicht auch aus der Erinnerung vieler Ostdeutscher. Im Gegenteil: Vor zwei Jahren hatten Constantin Goschler und ich in einer Studie herausgearbeitet, dass gerade die Treuhand wie eine erinnerungskulturelle „Bad Bank“ funktioniert, in der sich vielfältige Negativerfahrungen im kommunikativen Gedächtnis stellvertretend anlagerten.[4] Insbesondere bei stets überaus gut besuchten Auftritten und Diskussionsrunden in ostdeutschen Klein-, Mittel- und Großstädten bestätigt sich dieser Befund stets eindrucksvoll: Gerade für viele Ostdeutsche der heute mittleren und älteren Altersklassen ist die Treuhand zentrales Symbol für ungleiche Machtverhältnisse und tiefe Konfliktlinien zwischen Ost und West nach 1989/90. Heftige Emotionen brechen sich Bahn; aus vielen Menschen sprudeln lange Erzählungen über erlebte Ungerechtigkeiten, Betrügereien, Skandale und Enttäuschungen heraus. Nachwendezeit, Wirtschaftsumbau und Treuhand werden kritisch als kapitalistisch-neoliberale „Abwicklung“, „Unterwerfung“ oder „Kolonialisierung“ des Ostens durch den Westen gedeutet und mit „Ellenbogengesellschaft“, Massenarbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und Abwanderung verknüpft. Doch dieser Befund bleibt zugleich ambivalent. Denn viele ältere Ostdeutsche bewerten die individuellen Folgen der Wiedervereinigung andererseits als positiv, heben neue politische Freiheiten, umfassende Konsum- und Reisemöglichkeiten sowie vielfältige Karrierechancen hervor. Zugespitzt: Was kollektiv als zutiefst ungerechte, ja geradezu traumatisierende „Abwicklung“ empfunden wird, erscheint subjektiv als überaus begrüßenswerter Aus- und Aufstieg aus den vielfältigen Zwängen und Zumutungen eines repressiven DDR-Alltags.
Der Westen: die Rückkehr eines auserzählten Themas
Diese ausgeprägte Zerrissenheit und Ambivalenz, die für die ostdeutsche Erinnerungskultur prägend ist, findet sich so verständlicherweise im „alten“ Westen nicht. Doch gleichermaßen zeigen sich auch in Düsseldorf, Frankfurt oder Hamburg interessante Verschiebungen. Lange Zeit erschien „der“ Osten in seiner vorgeblich uferlosen Larmoyanz gerade hier als auserzählt-anstrengendes Un-Thema, dem mit einer entsprechenden Diskussionsunlust begegnet wurde. Man war es oft schlichtweg leid, über langfristige Diktatur-Folgen, immer neue Transfermilliarden oder abstrakte Einheitsbilanzen zu diskutieren. Doch andererseits scheint sich auch im Westen gerade in der jüngsten Zeit ein erneuertes Interesse an neuen Perspektiven zu regen: Warum, so lautet die immer wieder gestellte Frage, ist der „Aufbau Ost“ aller materiellen, ideellen und personellen Transfers und durchaus in brandneuen Infrastrukturen und runderneuerten Stadtbildern sichtbaren Resultate keine Erfolgsgeschichte, insbesondere in den von vielfältigen Ernüchterungen und politkulturellen Verdrossenheiten geprägten Wahrnehmungen vieler Ostdeutscher? Hatte sich der damals angesichts gerade einsetzender globaler Entwicklungen ohnehin in die Jahre gekommene „Rheinische Kapitalismus“ im triumphalen Rausch nach dem endgültig-unverhofften „Sieg“ über den Staatssozialismus schlichtweg selbst überschätzt und dabei überhoben? Hatte man vielleicht nicht doch, so die bange gestellte Frage, die desorientierten Ostdeutschen in guter Absicht am Ende doch zu schnell, zu kompromisslos und zu paternalistisch zum eigenen, bundesdeutschen Erfolgsmodell von Demokratie und Marktwirtschaft führen wollen?
Die Jüngeren: das Fremdeln mit den alten Konflikten
Man könnte formulieren, dass gerade die mittleren und älteren Generationen noch immer an den enttäuschten Erwartungen der Jahre 1989/90 abarbeiten: Während man im Osten den vollmundig versprochenen „blühenden Landschaften“ nachtrauert, schwingt im Westen nach wie vor die Enttäuschung über das gleichermaßen nicht eingehaltene Versprechen nach, dass sich durch die Einheit gerade auch hier nichts verändern werde. Diese hergebrachten Ost-West-Konfliktkonstellationen erscheinen gerade jüngeren, unter-30-jährigen mehr und mehr wie ein Buch mit sieben Siegeln: Warum Osten, warum Westen? In Leipzig haben junge Schüler*Innen und Studierende eine Gruppe namens „Aufbruch Ost“ gebildet, die sich durch vielfältige Aktivitäten inner- wie außerhalb der digitalen Welt der jüngsten Vergangenheit eigensinnig anzunehmen versucht – etwa mit Podcasts und mit Demonstrationen.[5] Es wird schnell deutlich, dass die scheinbar so festgefügten Kategorien und Konflikte der Älteren nicht zwingend diejenigen sind, die heutige Schüler*innen und Studierende bewegen oder gar verstehen können. Die Gefahren einer intergenerationellen Übernahme althergebrachter Deutungen oder Ignoranz sowie die Chance intragenerationeller Neuaneignungen scheinen sich derzeit die Waage zu halten. Gerade die weitgehende Nicht-Präsenz dieses für die Gegenwart doch so bedeutsamen Themenkreises in den Schulen, Universitäten oder politischer Bildungsarbeit erzeugt hier ein immenses Vakuum. Vielleicht könnten hier aber auch gerade die Zeitgeschichtsforschung und hier insbesondere der akademische Nachwuchs wertvolle generationelle Vermittlungs- und Dialogarbeit leisten?
Die Zeitgeschichte: der Wunsch nach neuen Perspektiven
Das Redebedürfnis erscheint also immens. Doch wie sollte unsere Zunft damit umgehen? Bislang hat es sich die etablierte Zeitgeschichte häufig zur Angewohnheit gemacht, in gesichertem Herdetrieb gemütlich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu trotten und sich dabei in fest umrissenen Gefilden zu bewegen. Doch abgesichertes, oftmals Empirie- und Kategorie-fixiertes „business as usual” dürften die krisen- und konflikthaften Geschichten der frühen 1990er-Jahren kaum bieten. Gerade nach 1989/90 wurden grundlegende Denkmuster, Weltdeutungen und Selbstentwürfe in Ost und West auf dramatische Weise abgebrochen, verwirbelt oder transformiert. Griffige neue Gegensatzpaare ersetzten oder überformten alte Deutungs- und Wahrnehmungsmuster. An scharfen, geschichtspolitisch immens aufgeladenen Oppositionen herrscht kein Mangel: „Ost“ und „West“, „rechts“ und „links“, „Opfer“ und „Täter“, „Gewinner“ und „Verlierer“, „Männer“ und „Frauen“, „jung“ und „alt“ – für die Zeitgeschichtsforschung erscheinen dieses (post-)revolutionäre Chaos sowie seine mittel- und langfristigen materiellen und mentalen Folgewirkungen als immense methodisch-theoretische Herausforderung. Der bequeme Rückzug in überschaubare staatliche Archive oder das bloße Wiederkäuen sozial- beziehungsweise transformationswissenschaftlicher Debatten dürfte da kaum ausreichen. Vielmehr gilt es, sich hier im offenen Dialog mit eigenen, reflektierten Perspektiven in die öffentlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskussionen umfassend einzubringen – auch wenn das manchmal durchaus unbequem sein dürfte und mit Widerspruch zu rechnen ist. Doch wenn jenseits des vermeintlichen Elfenbeinturms die geschichtspolitisch-erinnerungskulturelle Großkonflikte unserer Zeit hin und her wogen, sollten gerade Zeithistoriker*innen nicht schweigen – sondern vielmehr selbstbewusst differenzierte Befunde, gegenläufige Perspektiven und vor allem neue Erzählungen anbieten. „1989“ könnte in diesem Sinne durchaus ein hochinteressanter Testfall für eine angewandte, engagierte „public history“ sein.
[1] „Parität erscheint mir logisch“, in: Die ZEIT vom 24.1.2019 [zuletzt abgerufen am 17. März 2019]; dazu exemplarisch: Köpping, Petra: „Integriert doch erstmal uns!“ Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018; Engler, Wolfgang; Hensel, Jana: Wer wir sind. Über die Erfahrung, Ostdeutsch zu sein, Berlin 2018.
[2] Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie, verabschiedet von der Mitgliederversammlung am 27. Sept. 2018 in Münster, [zuletzt abgerufen am 17. März 2019]; dazu jüngst kritisch: Annette Schuhmann, Thema verfehlt!. Der VHD lädt zur Diskussion einer spannenden und hochaktuellen Frage ein: Wie politisch kann/darf Geschichtswissenschaft heute sein? Allein, niemand spricht darüber...., in: Zeitgeschichte-online, Februar 2019 [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[3] Seibel, Wolfgang: Verwaltete Illusionen. Verwaltete Illusionen Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990–2000, Frankfurt/M. u.a. 2005.
[4] Böick, Marcus; Goschler, Constantin: Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt, Bochum 2017 (= Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie), [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[5] Vgl. den Twitter-Account unter: Aufbruch Ost [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].