von Claudia Weber

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23. August 2019

Claudia Weber ist Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Viadrina und Beiratsmitglied von Zeitgeschichte I online. Ihre aktuelle Monographie Der Pakt. Hitler, Stalin und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939 - 1941“ ist in diesem Monat im Verlag C.H.Beck erschienen.
Wir veröffentlichen an dieser Stelle und mit freundlicher Genehmigung des CH. Beck Verlages die Einleitung dieses außerordentlich spannenden Bandes.

 

Der Morgen des 22. Juni 1941 begann für Winston Churchill mit einem zufriedenen Lächeln. Lange hatte der britische Premier am zurückliegenden Abend mit seinem Außenminister Anthony Eden und John Winant, dem US-amerikanischen Botschafter, die Kriegslage in Europa diskutiert. Es war kein leichtes Treffen gewesen, und das gute Essen, die ausgesuchten Spirituosen und unvermeidlichen Zigarren dienten der abendlichen Entspannung ebenso wie der Sinnesschärfung in den Stürmen der Zeit. In rasender Geschwindigkeit hatten sich die seit Monaten schwelenden Gerüchte über einen deutschen Angriff auf die Sowjetunion verdichtet und waren Gewissheit geworden. Dass sich der Krieg, in dessen Verlauf Hitlers Wehrmacht Europa besetzt hatte und das britische Weltreich bedrohte, nun gen Osten richtete, bot Churchill die Chance, neue Bündnisse zu schmieden; Bündnisse, so mächtig, dass die Deutschen auf dem Kontinent geschlagen, die Invasionsgefahr vom Inselreich abgewandt und das Empire vor der Expansionslust der Achsenmächte in Fernost geschützt sein würde. Für seinen Plan benötigte er die Unterstützung der Amerikaner, und aus diesem Grund hatte Churchill Roosevelts Botschafter nach Chequers eingeladen, wo ihm am Vorabend des 22. Juni 1941 der Coup gelang. Amerika willigte ein, der Sowjetunion im Falle eines deutschen Angriffs auf das Land eine trilaterale Allianz gegen Hitler anzubieten, inklusive umfangreicher Wirtschaftshilfen und einer militärischen Unterstützung, ohne die Stalin den für sein Land existentiellen Kampf nicht gewinnen konnte. Die Allianz der großen Drei, die den Zweiten Weltkrieg vier Jahre später siegreich beendete, war geschmiedet, noch bevor die ersten Flugzeuge von Görings Luftwaffe sowjetische Städte bombardierten. Churchill hatte alles richtig gemacht, und so lächelte er, als Eden ihm die Nachricht vom Überfall der Deutschen überbrachte.[1]

 

Foto: Atlantic Conference Between Prime Minister Winston Churchill and President Franklin D. Roosevelt 10. August 1941. Wikimedia Commons. Public Domain.

 

Vor dem Hintergrund des apokalyptischen Kriegspanoramas, das auf den Juni folgte, und im Angesicht des millionenfachen Sterbens irritiert die Zufriedenheit, mit der Churchill dem deutschen Einmarsch entgegensah. Hätte er nicht besser erschrocken sein sollen? Dabei war er nicht der Einzige, den die Nachricht zu entlasten schien. Selbst in Moskau mischten sich unter das Erschrecken und die Angst Gefühle der Erleichterung, hauptsächlich bei den aus aller Herren Länder geflüchteten Linken und den Kadern der Kommunistischen Internationale (Komintern), deren schon geplante Auflösung nun vom Tisch war.[2] Und auch in Berlin teilten viele die Gefühle von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels, der seinem Tagebuch anvertraute, dass nun die «Last vieler Wochen und Monate» von ihm abfalle.[3] Für die Zeitgenossen bedeutete der Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges – rückblickend eine der zentralen Zäsuren in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs[4]– zunächst das Ende einer Gegenwart, die Demokraten wie Winston Churchill, Kommunisten wie Georgi Dimitroff und Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels gleichermaßen schwer ertrugen: die Gegenwart des Hitler-Stalin-Pakts.

Das Bündnis zwischen Stalin und Hitler bestimmte die ersten 22 Monate des Krieges im Osten und im Westen Europas. Dennoch kommt es oft wie ein Präludium daher, wie ein hinführendes Vorspiel zum «eigentlichen» Krieg, der, so auch der Tenor vieler Geschichtsdarstellungen, erst an jenem Junimorgen mit dem erbitterten Kampf zwischen Hitlers «Drittem Reich» und Stalins Sowjetunion begann.[5] In der teleologischen Sichtweise läuft der gesamte Krieg auf diesen Moment zu, in dem der Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideologien Sinn verleihen sollte. Die Kriegsgegnerschaft zwischen Hitler und Stalin bestätigte die Grundspannung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und war für Zeitgenossen wie für die Nachgeborenen das sichere Terrain der Weltkriegserinnerung, während die Geschichte ihres Pakts ein damals wie heute beeindruckendes Unbehagen auslöste. Die Beobachtung dieses Unbehagens, manchmal sogar einer Angst, im weltkriegsauslösenden Bündnis von Nationalsozialismus und Stalinismus mehr zu sehen als ein atonales Vorspiel, stand am Beginn dieses Buches, das an frühere Überlegungen anknüpft.[6] Sie verstärkte die Neugier und den Willen, sich noch einmal diesem Kriegskapitel zuzuwenden und dabei einer für die Geschichtswissenschaft grundlegenden Aufgabe nicht auszuweichen; nämlich den Geschichten zu begegnen, die irritieren und vom Unbehagen verstellt werden.

 

Foto: Abschluss des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages am 28. September 1939. Von links nach rechts: Hintergrund: Richard Schulze-Kossens (Ribbentrops Adjutant), Boris Schaposchnikow (Generalstabschef der Roten Armee), Joachim von Ribbentrop, Josef Stalin, Vladimir Pavlov (sowjetischer Übersetzer); Vordergrund: Gustav Hilger (deutscher Übersetzer) Alexey Schkvarzev und Wjatscheslaw Molotow. Wikimedia Commons. Public Domain.

Dass Hitler und Stalin einen Pakt schlossen – meist wird damit nur der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 identifiziert –, ist bekannt.[7] Jeder, der sich auch nur flüchtig mit dem Thema beschäftigt hat, kennt die Bilder, die Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann von der nächtlichen Vertragsunterzeichnung im Moskauer Kreml schoss. Auf ihnen ist Stalin umringt von seinem Dolmetscher Pawlow, von Boris Schaposchnikow, dem Generalstabschef der Roten Armee, von Botschaftsrat Gustav Hilger und dem deutschen Botschafter Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg, während die Chefdiplomaten beider Regime, Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, das Bündnis mit ihren Unterschriften besiegelten.[8] Hoffmanns Fotografien sind Bildikonen, zu deren Nachteilen die Suggestion gehört, die Geschichte sei mit Bildern, die Bände sprechen, (aus)erzählt. Was dieser Pakt nach sich zog, diskutierte die Geschichtswissenschaft für eine kurze Zeit in den 1990er Jahren, in denen das berüchtigte geheime Zusatzprotokoll zum Nichtangriffsvertrag nach Jahrzehnten der staatssozialistischen Tabuisierung und Leugnung veröffentlicht wurde.[9] Für das nationale Selbstverständnis der sich aus dem sowjetischen Imperium lösenden osteuropäischen Staaten besaßen die historischen Debatten jener Jahre eine immense Bedeutung. Auf der Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls hatte Stalin Polen und das Baltikum schließlich in sein Reich gezwungen, und aus dieser historischen Erfahrung leiteten die Länder einen politischen Gedenk- und Erinnerungsanspruch ab. So prägte der Pakt die zeitgenössischen Kontroversen um Europas Erinnerung ganz maßgeblich. Die Forderungen nach der gleichberechtigten Anerkennung der Opfer stalinistischer Gewalt neben denen des Nationalsozialismus und nach einer europäischen Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt sind seitdem, einerseits, als Angriff auf die Singularität des Holocaust missverstanden worden.[10] Tatsächlich ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern, sondern ein westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild zu hinterfragen, das die grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte. Es lohnt sich darüber nachzudenken, ob und inwiefern den europäischen Erinnerungsdebatten das (westliche) Unbehagen an Geschichten wie der des Hitler-Stalin-Pakts zugrunde lag, das dann auf die Erinnerungskonkurrenz aus dem «peripheren» Osten übertragen wurde. Dass die dort vehement erhobenen Ansprüche, andererseits, den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehmlich osteuropäische Angelegenheit, gehört ebenfalls zu den Resultaten der Geschichtsaufarbeitung in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg, und nicht einmal die Einführung des 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus konnte daran viel ändern.

 

Foto: Stalin's Victims. Work representing the victims of Stalin at Moscow's Sculpture Park. Quelle: Flickr, Chris Hill. Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0.

 

Nach wie vor wird die historische Bedeutung, die der Hitler-Stalin- Pakt für die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs besitzt, unterschätzt. Auf das «Dritte Reich» bezogen, fristet er ein Dasein als taktischer Schachzug, der Hitler den Feldzug gegen Polen gestattete, ohne an der Absicht, die Sowjetunion zu vernichten, auch nur einen Deut zu ändern. Aus der sowjetischen Perspektive galt er als Versuch Stalins, den vermeintlich zwangsläufigen Überfall hinauszuzögern; eine Interpretation, die Stalin 1941 selbst erfolgreich in die Welt setzte. Die in den 1990er Jahren favorisierte Lesart wiederum lenkte den Blick auf die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte geopolitische Teilung Osteuropas. Und obschon die Gültigkeit dieser Interpretationen nicht ernsthaft bezweifelt werden kann – jede hat ihre historische Berechtigung –, erfassen sie die Bedeutung, die das deutsch-sowjetische Bündnis für die Weltkriegsgeschichte und die europäische Gewalt- und Diktaturgeschichte im 20. Jahrhundert besitzt, nur unzureichend. Vor diesem Hintergrund verstehe ich meine Darstellung der mörderischen Allianz als ein Angebot und eine Anregung, die herkömmlichen Sichtachsen, die entweder der nationalsozialistischen oder der stalinistischen Kriegs- und Besatzungspolitik folgten, mittels einer Verflechtungsgeschichte des Hitler-Stalin-Pakts neu auszurichten. Ich bin davon überzeugt, dass dieser methodische Ansatz geeignet ist, Ost-West-Trennungen im Sinne einer gesamteuropäischen Gewaltgeschichte und Weltkriegserinnerung heuristisch gewinnbringend zu überwinden.[11] Mein Erkenntnisinteresse ist daher auf jene Zeiten, Orte und Situationen, auf jene Anlässe gerichtet, die die Dynamik des deutsch-sowjetischen Bündnisses aus dem Miteinander und als Ergebnis der Zusammenarbeit nationalsozialistischer und stalinistischer Politiken und ihrer Akteure erklären. Damit einher geht die Frage, wie und in welchem Ausmaß das Bündnis die europäische Kriegspolitik und den Verlauf des Zweiten Weltkriegs bestimmte. Es ist ein überfälliges und spannendes Unterfangen, den Hitler-Stalin-Pakt in die Mitte des Weltkriegsgeschehens zu rücken. Denn obwohl die berechtigte Kritik an seiner Marginalisierung und den «Entweder-oder-Achsen» in den vergangenen Jahren immer lauter geworden ist, hat sich nicht einmal an der historiographischen Schieflage viel geändert.[12] Selbst das einflussreichste Werk der vergangenen Jahre – Timothy Snyders ausgezeichnete Studie zu den Bloodlands – gab das Versprechen, eine Geschichte des verhängnisvollen deutsch-sowjetischen Entanglements zu sein, zugunsten der Darstellung eines Nebeneinanders auf.[13] Eine Untersuchung, die nach dem Einfluss des Pakts auf den westeuropäischen Kriegsschauplatz fragt und über die bloße Feststellung hinausgeht, Hitler habe sich durch sein Zusammengehen mit Stalin im Osten den «Rücken freigehalten», existiert ohnehin (noch) nicht.

Die Gründe für praktizierte Geschichtstrennungen und Erinnerungshierarchien liegen in den historischen Mental Maps und der Wirkungsmacht der langen Teilung des Kontinents im Kalten Krieg. Darüber hinaus denke ich, dass sie auch etwas mit einem Unbehagen zu tun haben, hinter dem sich die Ahnung verbirgt, dass der Hitler-Stalin-Pakt den manifesten Kanon der europäischen Weltkriegserzählung herausfordert. Womöglich waren mit den Zeitgenossen auch Historiker, die sonst selten übereinstimmen, erleichtert, dass der Pakt nach knapp zwei Jahren seines Bestehens als historischer Unfall ohne großen Erkenntniswert gelten konnte. Tatsächlich wohnt der Geschichte der Verstrickung von Nationalsozialismus und Stalinismus eine revisionistische Kraft inne, vor der schon kein Geringerer als Michail Gorbatschow zurückschreckte. Inmitten der von ihm ausgelösten Glasnost-Politik, der schonungslosen Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltgeschichte, war Gorbatschow gezwungen, die Täterschaft des sowjetischen NKWD bei den Massenerschießungen von Katyń zuzugeben. Allerdings entschloss er sich zu diesem Schritt nicht etwa, weil es ihm in erster Linie um die Aufarbeitung des Kriegsverbrechens, sondern um Beschwichtigung und Eindämmung ging. Trotz des erheblichen Drucks aus Polen zögerte Gorbatschow, bis ihm sein Außenminister Eduard Schewardnadse, Walentin Falin und der Chef des KGB, Wladimir Krjutschkow, ausmalten, was andernfalls drohte. «Vielleicht», mahnten die drei Gorbatschow, «wäre es zweckmäßiger zu sagen, was wirklich geschehen ist», um «die Sache zu beenden» und keine «Diskussion des Hitler-Stalin-Pakts in Gang zu setzen». «Ein solches Vorgehen», schrieben sie, «richtet letzten Endes weniger Schaden an, als wenn wir weiterhin untätig bleiben», denn

„mit dem Thema [...] werden jetzt selbst Fragen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges und des Überfalls Deutschlands auf Polen künstlich überspielt. Der Hintergrund dieser Kampagne ist klar – den Polen soll eingeredet werden, die Sowjetunion sei keineswegs besser, sondern eher noch schlechter als das damalige Deutschland; sie trage keine geringere Verantwortung für den Ausbruch des Krieges und sogar für die militärische Zerschlagung des damaligen polnischen Staates.“[14]

Gorbatschow gab die sowjetische Täterschaft bei den Massenerschießungen von Katyń zu, um den zentralen Mythos des Großen Vaterländischen Krieges zu schützen und – in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus schon (zu) viele Gewissheiten erschütterte – keinen Zweifel an der fundamentalen Gegnerschaft von Nationalsozialismus und Stalinismus zuzulassen. Doch auch in Westeuropa und vor allem in Deutschland verhinderte die Furcht vor dem Vorwurf des Geschichtsrevisionismus die systematische Auseinandersetzung mit der deutsch-sowjetischen Kooperation in den ersten zwei Weltkriegsjahren. Dabei disziplinierte sie nicht nur die wissenschaftliche Neugier, sondern widersprach zuerst dem professionellen Grundverständnis, Vergangenheiten stets neu zu betrachten, umzudeuten, kurzum: die Geschichte der Revision zu unterziehen.[15] Womit, wenn nicht mit der Veränderung, beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft?

Die deutsch-sowjetischen Beziehungen sind, wie Sebastian Haffner vor mehr als fünfzig Jahren schrieb, «aufregender als jeder Roman». Schon in Zeiten der 68er-Bewegung wunderte sich der scharfsinnige Chronist der deutschen Verhältnisse vielleicht nur rhetorisch darüber, dass «im allgemeinen Bewusstsein Westdeutschlands jede klare Vorstellung von diesem ungeheuerlichen Geschehen», von dieser «so tödlich-intimen gegenseitigen Verknäuelung und Verstrickung zweier Völker» fehle.[16] Haffners Beobachtung einer «fehlenden Geschichte» traf und trifft für den Hitler-Stalin-Pakt zu, der ohne Übertreibung als schrecklicher Höhepunkt der «tödlich-intimen Verstrickung» bezeichnet werden kann. Seine historische Untersuchung, die Beantwortung von Fragen nach der praktischen Umsetzung und den beteiligten Akteuren stehen zweifelsohne ebenso vor einem Quellenproblem wie die Analyse gemeinsamer Aktionen, der deutsch-sowjetischen Bevölkerungsumsiedlung oder des Flüchtlingsaustausches. Unzählige Dokumente, beispielsweise zu den bilateralen Grenz- und Militärkommissionen oder über die Reisen von SS-Funktionären in das sowjetische Besatzungsgebiet, sind im Krieg verloren gegangen oder gegenwärtig in den russischen Staatsarchiven unter Verschluss. Und doch kann die «fehlende Geschichte» nicht mit dem Verweis auf unzugängliche oder vernichtete Akten begründet werden, denn überraschend viele Dokumente sind unproblematisch in deutschen Bibliotheken und Archiven einsehbar. Bestände im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes oder im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde enthalten aufschlussreiche und wichtige Informationen zur Zusammensetzung und zur Tätigkeit der deutsch-sowjetischen Flüchtlingskommission oder Einschätzungen zum Verlauf und zu den Schwierigkeiten der beiderseitigen Zusammenarbeit. Der Archivbestand «Volksdeutsche Mittelstelle» umfasst Erfahrungsberichte von SS-Personal, das während der Umsiedlung so genannter Volksdeutscher auf sowjetischem Territorium tätig war. Die nationalsozialistische Presse – der Völkische Beobachter oder Besatzungszeitungen wie die Krakauer und die Warschauer Zeitung – berichtete ausführlich über den Besuch einer sowjetischen Regierungsdelegation mit NKWD-Generälen im deutschen Generalgouvernement. Um der mörderischen Allianz, beispielsweise den Arbeitstreffen zwischen dem NKWD und der Sicherheitspolizei Heinrich Himmlers, auf die Spur zu kommen, muss kein Geheimarchiv entdeckt werden, auch wenn viele Fragen aufgrund der verschlossenen Archive unbeantwortet bleiben und etliche Details unbekannt sind. Eine vollumfassende Analyse der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit kann zweifelsohne erst erfolgen, wenn neben den deutschen Akten auch Akten aus dem Archiv des russischen Außenministeriums zur Verfügung stehen. Bis dahin allerdings kann sich die Geschichtswissenschaft immerhin auf die hierzulande wenig beachtete empirische Grundlagenforschung polnischer Historiker stützen, die die kurze Zeit der so genannten Archivrevolution nutzten, um erstaunliches Material zutage zu fördern.[17] Die Tätigkeit der deutsch-sowjetischen Flüchtlingskommission – ein tiefschwarzes Kapitel in der Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts – überrascht sie seit langem nicht mehr.

Der Gang in das Archiv und die Arbeit mit den Quellen, das detektivische Aufspüren und Zusammensetzen von Informationen, die ein Bild und eine Geschichte ergeben, die uns inspiriert und überrascht, weil wir sie so noch nicht gehört haben, ist eine der schönsten Seiten des historischen Berufs. Im Falle dieses Buches war diese Arbeit nicht nur herausfordernd, sondern tief erschreckend und im Angesicht unserer Gegenwart beklemmend. Die Auseinandersetzung mit den Berichten über Flüchtlinge – Juden, Polen, Ukrainer –, die im ersten Kriegswinter zwischen der deutschen und der sowjetischen Besatzungszone hin und her irrten, auf den Straßen der zerstörten Grenzstädte und in Wäldern vegetierten, von NKWD-Truppen beschossen wurden, nachdem sie von deutschen Wachposten in die eisigen Grenzflüsse getrieben worden waren, war eindringlich. Einige der Flüchtlinge zahlten Schleusern horrende Preise für die Hoffnung, die Flüsse in Booten nachts lebend überqueren zu können, wohl ahnend, dass der Tod auf beiden Seiten lauerte. Kaum weniger beschäftigte mich die Verzweiflung der französischen Kommunisten, denen Moskau im Juni 1940 befahl, Hitlers Besatzungstruppen in Paris willkommen zu heißen. Ihre Schicksale zeigten mir das ganze Ausmaß, in dem das Unbehagen an der Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts bis heute den historischen Erfahrungen der Zeitgenossen widerspricht. Das Leben im Krieg ist eine nervöse Gratwanderung. Es ist eine schwierige Unternehmung, diese Gratwanderung, die für das Überleben im Krieg notwendige Balance, historisch zu rekonstruieren und in der Erinnerung zu vergegenwärtigen. Beides ist umso schwerer, da die Nachgeborenen den Ausgang der Geschichte kennen. Nur darum verwundert uns das zufriedene Lächeln Churchills. Wir haben uns angewöhnt, die Lage der Zeitgenossen als tragisch zu bezeichnen, weil sie den Ausgang der Geschichte nicht kannten. Im Gegensatz dazu nennen wir den Blick der Historiker ob ihres Wissens um den Ausgang privilegiert.

Ich bin mir nicht sicher, ob das so ist und ob man das Ganze nicht auch umdrehen könnte. Ein reflektiertes Selbstverständnis der historischen Profession akzeptiert die Tragik des Wissenden und nützt so dem historischen Verstehen. Es schützt vor selbstgerechten Urteilen und politisierten Deutungen. Unser vermeintliches Privileg ist trügerisch, wenn wir die Möglichkeiten menschlichen Lebens zu schnell vom Ende her lesen. Das Leben in der Gewalt ist eine Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens. Es ist kein gutes Leben, aber es ist eine historische und immer gegenwärtige Möglichkeit. Es ist ein verstörendes Schauspiel, von dem wir wissen, wenn wir ehrlich sind, dass es unser Schauspiel ist.

 

Buchcover zu Claudia Weber: „Der Pakt Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941“ mit freundlicher Genehmigung des CH. Beck Verlages 

Eine Buchbesprechung zum Nachhören:

Otto Langels: „Der Pakt“. In: Andruck – Das Magazin für Politische Literatur, Deutschlandfunk vom 19. August 2019. 

 


[1] Roger Moorhouse, The Devils’ Alliance. Hitler’s Pact with Stalin, 1939–1941, London 2014, S. 257.
[2] Bernhard H. Bayerlein, «Der Verräter, Stalin, bist Du!». Vom Ende der linken Solidarität 1939–1941, Berlin 2008, S. 366.
[3] Joseph Goebbels, Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Russlands. Herausgegeben von Elke Fröhlich, 2 Teile, München 1993 ff., hier Teil I, Bd. 9, München 1998, S. 396.
[4] Zu den Ereignissen des Jahres 1941 im Überblick siehe: Ian Kershaw, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten  Weltkrieg,  München  2010, S. 235–416.
[5] Siehe dazu: François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996, S. 401 ff.
[6] Vor allem an Überlegungen zu den Massenerschießungen von Katyń, einem sowjetischen Kriegsverbrechen aus der Zeit des Hitler-Stalin-Pakts. Siehe: Claudia Weber, Krieg der Täter. Die Massenerschießungen von Katyń, Hamburg 2015.
[7] Die Literatur zur diplomatischen Vorgeschichte und den Ereignissen im August 1939 ist überwältigend. Stellvertretend seien hier nur genannt: Ingeborg Fleischhauer, Der Pakt. Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie, Berlin/Frankfurt am Main 1990; Bernd Wegner (Hg.), Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt zum «Unternehmen Barbarossa», München 2000, sowie die verschiedenen Beiträge im Sonderheft der Zeitschrift Osteuropa 7–8/2009: Der Hitler-Stalin-Pakt. Der Krieg und die europäische Erinnerung.
[8] In den meisten osteuropäischen Staaten wird der Nichtangriffsvertrag aus diesem Grund als «Molotow-Ribbentrop-Pakt» bezeichnet. Hier wird die Bezeichnung «deutsch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag» verwendet, während unter dem Begriff des «Hitler-Stalin-Pakts» alle Verträge, Vereinbarungen und ihre praktische Umsetzung, kurzum alle Facetten der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit von 1939–1941, zusammengefasst werden.
[9] Jan Lipinsky, Das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und seine Entstehungs-  und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999, Frankfurt am Main 2004.
[10] Zu den damaligen teils heftig geführten Erinnerungsdebatten siehe stellvertretend: Claus Leggewie/Anne Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011; Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007; Anna Kaminsky/Dietmar Müller/Stefan Troebst (Hg.), Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011.
[11] Zum vieldiskutierten und seit einigen Jahren in aller Munde geführten Ansatz der Verflechtungsgeschichte siehe grundlegend: Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28/2002, S. 607–636; Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Beyond Comparison. Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity. In: History and Theory 45/2006, S. 30–50.
[12] Zu dieser Kritik siehe: Stefan Troebst in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung  anlässlich des  75. Jahrestages (letzter Zugriff am 23.08.2019) und die Einleitung bei Moorhouse, The Devils’ Alliance, S. xxiii–xxvi. Moorhouse nennt das Fehlen des Hitler-Stalin-Pakts in den meisten westeuropäischen Kriegsdarstellungen einen Skandal. Zu den wenigen Ausnahmen der Beschäftigung mit der deutsch-sowjetischen Verflechtungsgeschichte zählen: Heinrich Schwendemanns Untersuchung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion von 1939 bis 1941. Alternative zu Hitlers Ostprogramm? Berlin 1993; Hans Schafranek, Zwischen NKWD und Gestapo. Die Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der  Sowjetunion  an Nazideutschland 1937–1941, Frankfurt am Main 1990; Moses Fendel, Przemyśl 1939/40. Von Menschen und Grenzen zur Zeit des Hitler-Stalin-Pakts, unveröffentlichte Masterarbeit an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder, November 2017.
[13] Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, New York 2010 (dt. Ausgabe München 2011).
[14] Valentin Falin, Konflikte im Kreml. Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und Auflösung der Sowjetunion, München 1997, S. 108.
[15] Siehe dazu den anregenden Briefwechsel zwischen François Furet und Ernst Nolte, Feindliche Nähe. Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert, München 1999, insbesondere S. 74 f.
[16] Sebastian Haffner, Der Teufelspakt. Fünfzig Jahre deutsch-russische Beziehungen, Zürich 2002, S. 5 (Erstausgabe Reinbek 1968).
[17] Stellvertretend sei verwiesen auf:  Sławomir Dębski, Między Berlinem a Moskwą. Stosunki niemiecko-sowieckie 1939–1941, Warszawa 2003; Tomasz Bereza/Piotr Chmielowiec/Janusz Grechuta, W cieniu «Linii Mołotowa». Ochrona granicy ZSRR z III Rzeszą między Wisznią a Sołokiją w latach 1939–1941, Instytut Pamięci Narodowej: Rzeszów 2002; Rafael Wnuk, Zwischen Scylla und Charybdis. Deutsche und sowjetische Besatzung Polens 1939–1941. In: Osteuropa 7–8/2009, S. 157–172; Witold Wasilewski, Sovětsko-německa spolupráce a katyňskȳ zloèin, in: Pamět a dějiny 4/2010, S. 22–41.