von Anna Kokenge, Laila Stieler

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7. November 2019

„Laila Stieler, die Autorin, die ist einfach ein absoluter Beobachtungsmensch“[1], schwärmt die Schauspielerin Gabriela Maria Schmeide und auch Kritiker attestieren der Drehbuchautorin, eine „gute Beobachterin [zu sein], die in Sprache und Stil genau weiß, welches Milieu sie gerade entwirft“[2]. Stieler erzählt in ihren Filmen von Menschen, die von der Liebe träumen oder von einem eigenen Friseursalon, die für eine bessere Welt kämpfen oder für einen Schulgarten, von Regisseuren, die es mit großen Träumen an kleine Theater verschlägt, oder von Polizistinnen, die für Ordnung sorgen sollen, wo kaum noch etwas zu befrieden ist. Ihre Figuren sind „Figuren, die hinfallen und wieder aufstehen“[3]. Stieler erzählt von der Schönheit und den Problemen des Alltags und auch davon, wie erstrebenswert es sein kann, sich diesen nach Zusammenbrüchen zurückzuerobern, nach einem Burnout etwa oder nach einem Amoklauf.

Menschen zu beobachten und ihre Geschichten zu erzählen, das scheint Stielers Lebensaufgabe zu sein und zugleich ihr Traumberuf. Das Interesse für Lebensläufe entwickelt sie früh. Schon als Kind habe sie mit den „Kindern von Golzow“ am Abendbrottisch gesessen, sagt sie, denn ihre Eltern, die Dokumentarfilmer Barbara und Winfried Junge, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschen eines Dorfes und ihren Alltag zu dokumentieren. Auch sie sind Beobachtende, über 40 Jahre lang werden sie eine Schulklasse aus dem brandenburgischen Golzow mit der Filmkamera begleiten. Die Eltern nehmen die kleine Laila mit auf Dokumentarfilmfestivals, wo sie sich eigenen Angaben nach zu Tode langweilt, sich aber doch etwas einbrennt: die Leute auf der Leinwand. Nach der Schule will sie Journalistin werden, über Menschen schreiben, berichtet für die Betriebszeitung, während sie im VEB Elektrokohle Lichtenberg ihren Facharbeiter macht. Nach einem Volontariat beim Rundfunk studiert sie Dramaturgie an der HFF „Konrad Wolf“ und lernt den Filmemacher Andreas Dresen kennen, mit dem sie ihr erstes Drehbuch schreibt. Immer wieder arbeitet sie mit ihm zusammen. Gemeinsam gehen sie manchmal auch ungewöhnliche Wege, z. B. wenn sie in „Wolke 9“ eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen im hohen Alter erzählen und dafür mit zehnminütigen Standing Ovations auf den Filmfestspielen von Cannes gefeiert werden. Während Dresen seit mehr als zwei Jahrzehnten eine feste Größe in der deutschen Filmlandschaft ist, stand Laila Stieler als Autorin lange im Schatten. Auf dem Plakat ihres jüngsten gemeinsamen Films steht ihr Name nun ganz oben, im Abspann steht er sogar vor der Regie.

Oft erzählen Stieler und Dresen in ihren Filmen von ihrer ostdeutschen Heimat, immer wieder auch von der DDR, in ihrem ersten längeren Film „So schnell geht es nach Istanbul“ etwa oder in „Stilles Land“. Als 2006 „Das Leben der Anderen“ in die Kinos kommt, schimpft Andreas Dresen, der Film habe mit der DDR in etwa „so viel zu tun wie Hollywood mit Hoyerswerda“[4]. Da haben Stieler und er schon die Idee, einen Film über Hoyerswerda, genauer gesagt, den dort beheimateten singenden Baggerfahrer Gerhard Gundermann zu machen. Stieler ist es schließlich, die sich dieser Geschichte vollends verschreibt, viele Fassungen ent- und verwirft und dabei vor allem immer wieder: Menschen beobachtet, mit Menschen spricht.

Gespräche scheinen ihr wichtig, fester Bestandteil ihres Arbeitsprozesses zu sein. In ihnen widmet sie sich ihren Gegenübern ganz, ohne Diktiergerät, ohne Notizblock. Dafür hat sie oft ein Skatblatt in der Tasche, zum Beispiel, wenn sie für „Willenbrock“ in Gebrauchtwagenhandlungen oder für „Die Polizistin“ auf Polizeiwachen recherchiert und versucht, die Menschen beiläufig zum Sprechen zu bringen. Erst nachträglich, mit Abstand, macht sie sich Notizen, erschafft Drehbuchszenen aus den vielen Anekdoten und Versionen, die sie von einer Geschichte hört. Die Beiläufigkeit, mit der man ihr Dinge mitteilt, scheint sich manchmal hinüberzuretten in die Filme. Dramatische Kindheiten werden ungerührt beim Abendessen erzählt, ein mutmaßlich rassistischer Übergriff auf einen Imbissmann wird nur in einem Nebensatz zur Sprache gebracht. Dramatische Situationen zu entdramatisieren, scheint ebenso ihr Markenzeichen zu sein, wie jeglichen Situationen, so ausweglos sie auch erscheinen mögen, immer auch eine humorvolle Seite zu verleihen. Sie ist davon überzeugt, dass das Leben immer tragisch und komisch zugleich ist. Beim nochmaligen Abhören des Tonbandes stelle ich fest: Wenn es um die Menschen geht, die sie in der Vorbereitung auf ihre Filmprojekte trifft, verändert sich ihr Tonfall hörbar und sie gerät ins Schwärmen.

Das gilt ganz besonders für Conny Gundermann. Mit der Frau des Sängers ist Stieler mittlerweile befreundet, ihre Tochter Linda hat sie in der langen Zeit, in der sie an dem Drehbuch arbeitete, aufwachsen sehen. Anders als Conny, die Stieler zahlreiche Begebenheiten schilderte, die zu Filmszenen wurden, hat Linda nur wenige Erinnerungen an ihren Vater, der starb, als sie gerade einmal sechs Jahre alt war. „Du bist in mein Herz gefallen, wie in ein verlassenes Haus“, so sang Gundermann über sie in dem Lied, das er ihr schrieb. Auch die vom Schauspieler Alexander Scheer gespielte Figur im Film singt dieses Lied. Im Publikum steht eine junge Frau, sichtlich gerührt: die echte Linda. Im Audiokommentar der DVD mutmaßt Dresen, dass die Dimension dieser Szene dem unwissenden Zuschauer vielleicht verborgen bleibt. Stieler widerspricht ihm. Sie sagt, man müsse nur genau hinsehen, sagt über Lindas Gastauftritt: „Sie bringt da eine ganze Geschichte in den Blick.“

 

Film still: Gundermann © Foto: Peter Hartwig / Pandora Film. An den Figuren von Conny Gundermann (Anna Unterberger) und Gerhard Gundermann (Alexander Scheer) hat Laila Stieler über zehn Jahre gearbeitet.

 

 

„Mir war es wichtig, die DDR so zu erzählen, wie ich sie erlebt habe.“

Kokenge: Frau Stieler, Sie sind in diesem Jahr mit dem deutschen Filmpreis für „Gundermann“ ausgezeichnet worden, ein Film, für den sie lange gekämpft und an dem Sie über 10 Jahre gearbeitet haben. Sie schreiben im Presseheft, der Film sei ein „Nachtrag zur Geschichte, der mir wichtig ist und den ich im Kino so noch nicht gesehen habe“[5]. Wollten Sie mit dem Film also ein bewusstes Gegennarrativ zu jenen sehr erfolgreichen DDR-Filmen schaffen, die die DDR wahlweise schwarz-weiß und mit einem starken Täter-Opfer-Gegensatz oder so lächerlich darstellen, dass sich ehemalige DDR-Bürger*innen in ihren Biografien entwertet sehen?

 

Stieler: Mir war es wichtig, die DDR so zu erzählen, wie ich sie erlebt habe. Wahrscheinlich habe ich einfach versucht, sie differenziert darzustellen. Das bewusst als Gegennarrativ zu erzählen, das war nicht unbedingt die Absicht. Beim Schreiben kannst du auch nicht ständig andere Filme vor Augen haben, sondern nur deine eigenen, deine eigenen Figuren, deine eigenen Geschichten. Da muss sich dann erst einmal erweisen, ob du wirklich anders erzählst oder ob du in dieselben Fallen tappst. Bisweilen passiert das natürlich und manchmal bemerkst du, dass manche Vereinfachung auch aus gutem Grund gefunden wurde. Ich will mich gar nicht so gegen die anderen Beispiele, die immer wieder angeführt werden, wenden, vielleicht hat alles seine Zeit gebraucht. Aber sicher ist schon lange ein gewisses Unwohlsein dagewesen mit dem, was erzählerisch vorhanden war oder was eben auch nicht vorhanden war.

 

Kokenge: Sie sagen, Sie haben sich um ein differenziertes Bild bemüht, und das macht sich natürlich auch im sehr komplexen Narrativ Ihres Films bemerkbar, der zwischen zwei Zeitebenen hin- und herspringt, den Auf- und Abstieg von Gundermann gegeneinanderstellt und der auch die Stasi sehr besonders betrachtet. Hat es Sie gewundert, dass der Film trotzdem fast einhellig positiv rezipiert worden ist und kaum Kontroversen ausgelöst hat?

 

Stieler: Ach, naja, er wurde schon auch kontrovers diskutiert.

 

Kokenge: Ich habe zumindest keinen Verriss gefunden.

 

Stieler: Ach ja, auch das gab es. Und dass der Film diskutiert, wenn auch vielleicht eher besprochen als heiß diskutiert, wurde, das finde ich nicht schlecht. Es ist ja so: Zum einen schreibt man einen Film zwar für die Zuschauer, man schreibt, damit Leute ihn sehen. Auf der anderen Seite ist es beim Schreiben aber auch nicht so, dass ich permanent Zuschauer vor Augen habe. Wie denn auch? Erst einmal bin ich mir selbst mein liebster Zuschauer. Ich spüre beim Schreiben auch, wenn mich irgendetwas langweilt. Bei Gundermann saßen wir am Ende im Rohschnitt, haben uns angeguckt und gesagt: „So, das ist es nun. Was auch immer jetzt kommt, diesen Film mussten wir machen.“ Weil es uns wichtig war, genau das jetzt zu sagen. Was das Publikum dazu meint und was an Kontroversen oder auch Nicht-Kontroversen, an Zustimmung oder Ablehnung oder auch Desinteresse kommen wird, das war uns ein stückweit egal. Das klingt blöd, weil solch eine Filmproduktion ja viel Geld kostet, aber auf der anderen Seite mussten wir diese Sache, von der wir so überzeugt waren, auch möglichst kompromisslos umsetzen. Dieses Hinschreiben auf ein Publikum bleibt ja ohnehin ein Schattenboxen. Sicherlich hatte ich beim Schreiben Angst, dass wir uns zwischen die Stühle setzen. Dass die Gundermann-Fans sagen: „Das ist nicht unser Gundermann, unser Gundi, den ihr da erzählt. Den hatten wir uns heldenhafter vorgestellt“, oder „viel politischer“, oder „ganz anders“ eben. Und dass die Leute, die Gundermann nicht kennen, also der ganze Westen wahrscheinlich, dass die sagen: „Also das interessiert uns nun gar nicht, was ist denn das für ein Idiot und dann hat der auch noch für die Stasi gearbeitet.“

 

Kokenge: Während Ihrer langen Suche nach einer geeigneten Erzählweise haben Sie acht verschiedene Drehbuchfassungen und zwischendrin natürlich auch einige andere Filme geschrieben. Würden Sie sagen, dass der „Gundermann“-Film, die anderen Projekte, die Sie in dieser Zeit bearbeitet haben, beeinflusst hat, oder dass diese Projekte andersherum Einfluss auf ihr „Gundermann“-Drehbuch genommen haben?

 

Stieler: Ja, na klar. Man recherchiert ja nicht immer nur für einen Film allein. Was für mich in dem Zusammenhang z. B. besonders interessant war, war die Arbeit an der Adaption von Miriam Meckels „Brief an mein Leben“, einer Geschichte über einen Burnout. Ich habe mich für das Projekt damit beschäftigt, wie Verdrängung funktioniert, wie die Psyche den Menschen schützt vor Dingen, die so schmerzhaft und unangenehm sind, dass man sie aus dem Bewusstsein rauskickt, um erfolgreich weiterleben zu können. Und in dem Zusammenhang eine starke Reise ins Innere einer Figur zu erzählen, und das als Antrieb eines Films zu nehmen, das war natürlich auch handwerklich sehr interessant für den Umgang mit „Gundermann“, da habe ich Verschiedenes ausprobiert.

 

Kokenge: Das stelle ich mir ohnehin als große Herausforderung vor, das Innere einer Figur für die Zuschauer*innen nachvollziehbar nach außen zu tragen. Bei „Gundermann“ gab es in dem Zusammenhang dann ja beispielsweise auch eine Obstschale, die plötzlich da war und die vielleicht eine Verdrängung symbolisieren sollte…

 

Stieler (lacht): Ja, also die Obstschale, die hat sogar tatsächlich existiert, die habe ich mir nicht ausgedacht, die hat Gerhard Gundermann tatsächlich von der Stasi geschenkt bekommen.

Und im Drehbuch benutze ich sie als szenisches Detail, als ein Motiv, das sich dann durch den Film zieht. Im realen Leben wird sie wahrscheinlich nicht im Wohnzimmer des Führungsoffiziers auf dem Tisch gestanden haben. Aber das ist ein Beispiel dafür, wie reale Motive ins Drehbuch eingeflossen sind und weiterverarbeitet werden. Gerade, wenn ich einen inneren Konflikt beschreibe, lechze ich nach solchen Momenten. Ich muss ja etwas sichtbar machen, was sich in der Seele abspielt und im Falle von Gundermann z. B. kaum dokumentiert ist. In einem Interview sagte er in einem Nebensatz, dass er ja auch viele Dinge von damals vergessen hätte. Darauf habe ich im Drehbuch einen ganzen Handlungsstrang begründet, den Sie jetzt „Verdrängung“ nennen. Ob er wirklich verdrängt hat, weiß ich gar nicht. Wir behaupten es einfach, weil es zu ihm passt und weil es menschlich ist, Dinge zu vergessen, für die man sich schämt. Und dieses Vergessen funktioniert dann eben wie ein dramaturgischer Katalysator. Weil er alles vergessen hat, muss er seine eigene Geschichte recherchieren, wie Ödipus im Drama.

Screenshot:Gundermann (2018). © Pandora Film. Gerhard Gundermann (Alexander Scheer) erhält im Film eine Obstschale als Präsent von seinem Stasi-Offizier (Axel Prahl). Stieler sagt, „das ist ein Beispiel dafür, wie reale Motive ins Drehbuch eingeflossen sind und weiterverarbeitet werden.“

 

„Ich tue an der Stelle etwas, an der ich was tun kann, beim Schreiben.“

Kokenge: Da Sie Ihren Film „Brief an mein Leben“ angesprochen haben, möchte ich dazu gern noch etwas anderes fragen, schließlich erzählt der Film nicht nur vom Burnout seiner Hauptfigur, sondern ganz unaufgeregt und beiläufig auch eine lesbische Liebesgeschichte. Im Zentrum Ihrer Filme findet man auffällig viele Frauen, die im deutschen Kino und Fernsehen eher im Abseits stehen. Außerdem hat man immer wieder auch das Gefühl, dass Sie bewusst auf die Ungleichbehandlung von Frauen aufmerksam machen wollen, z. B. wenn die Friseuse in Ihrem gleichnamigen Film einen Kredit beantragt und gefragt wird, was ihr Mann macht, und daraufhin trotzig fragt, ob sie als Mann wohl auch gefragt würde, was seine Frau arbeite. Rührt das nur daher, dass Sie den Alltag so detail- und lebensnah wie möglich schildern wollten, oder ist das als politisches Signal gemeint?

 

Stieler: Das ist schon auch als politisches Signal gemeint. Für mich als Ostfrau – ich bin 1965 geboren und habe 25 Jahre in der DDR gelebt – für mich war Gleichberechtigung eine Selbstverständlichkeit. Ich meine, klar war in der DDR auch noch Luft nach oben, aber das war gar kein Vergleich zu dem, was mich nach 1989 überrollt hat, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Das hat sich für mich angefühlt wie Mittelalter. Also da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass ich ein anderes Geschlecht habe. Ich erinnere mich noch an eine Situation, ich war frische Producerin und saß mit zwei Redakteuren, einem Produzenten und einem Autor beim Buchgespräch und jetzt ging es darum, dass irgendwie Kaffee gebraucht wurde und was zu Essen und plötzlich guckten die alle mich an. Ich meine, ich war Producerin, ich saß da als Dramaturgin, sowas hatte ich bis dahin noch nicht erlebt, das hat sich mir eingebrannt, auch meine Reaktion darauf. Ich habe tatsächlich versucht, die Bestellung aufzunehmen, war aber in meiner Wut und meiner Scham gar nicht dazu in der Lage und habe alles durcheinandergebracht, wer Kaffee oder Tee, wer Sandwiches mit oder ohne Wurst wünschte, weil ich zugleich so empört war und das nicht artikulieren konnte, ich war einfach überrumpelt.

 

Kokenge: Sind das dann Erfahrungen, die in Ihre Filme einfließen?

 

Stieler: Ne, das heißt eher vermittelt, ja. Natürlich musste man zur Kenntnis nehmen, dass nach der Wende Vieles, was vorher selbstverständlich schien, neu erkämpft werden musste, sei es nun das Abtreibungsrecht oder sonstwas. Ich tue an der Stelle etwas, an der ich was tun kann, beim Schreiben eben.

 

Kokenge: Nun haben Sie zwar schon gesagt, dass Sie „Gundermann“ eigentlich nicht bewusst als Gegennarrativ geplant hatten, doch trotzdem kann man in Ihren Filmen auch jenseits der Frauenfiguren den Eindruck gewinnen, dass Sie eine Art B-Seite erzählen. Gerade Polizistinnen gibt es im deutschen Film und Fernsehen ja nun beispielsweise wie Sand am Meer, aber den Beruf in den Vordergrund zu stellen und wirklich den Alltag zu zeigen, das ist etwas, was man dann doch sehr selten sieht, und was in Ihren Filmen bzw. in Ihrem Film „Die Polizistin“ ganz zentral vorkommt. Ist die Ursache für Ihre Form der Darstellung durch eine Wut auf die üblichen Genrekonventionen im deutschsprachigen Film begründet, oder eher dadurch, dass Sie Ihre eigenen Erfahrungen einbringen wollen?

 

Stieler: Ich glaube, ich schreibe selten gegen etwas, sondern eher für etwas und auch weniger aus einer Wut heraus, es hat mehr mit Liebe zu tun, denke ich. Und zum Alltag, klar, ich kenne den Alltag gut, den kennt jeder gut. Das ist zum einen etwas, was ich mir leicht vorstellen kann, und zum anderen natürlich schwer zu beschreiben, weil das ja auch jeder kennt, da muss man schon ackern, damit das spannend wird. Ich glaube, es gibt so eine Prägung durch meine Zeit an der HFF und auch durch meine Filmerfahrung in der DDR, hauptsächlich der osteuropäischen Filme, die ja andere Erzählweisen hatten, wo die 3-Akt-Struktur seltener vorkam als heute, wo man eher entdramatisierter, eher dem Alltag und der Realität zugewandter erzählte, sich am Neorealismus orientierte. Das sind meine Vorbilder gewesen, sowjetische Filme hauptsächlich, „Bahnhof für zwei“ oder „Moskau glaubt den Tränen nicht“. Unerreicht! Und in dieser Art gab es auch ein paar sehr schöne DEFA-Filme. Mir ist schon klar, dass das auch aus einem Mangel heraus entstand, dass es damals eine Strategie war, die Konflikte nicht allzu stark zuzuspitzen, weil man sich sonst auch der Zensur auslieferte. Aber auf der anderen Seite sind durch diese Erzählweisen der Allegorien, Parabeln, Andeutungen auch ein paar sehr poetische Werke entstanden.

 

Kokenge:  Das wäre tatsächlich auch eine meiner nächsten Fragen gewesen, inwieweit die Sozialisation in der DDR und das Studium an der dortigen Hochschule Sie in Ihrer Erzählweise beeinflusst haben,denn mir ist aufgefallen, dass Arbeit in Ihren Filmen wie bei der DEFA eine wichtige Rolle spielt. Mit „Die Polizistin“, „Die Lehrerin“ und „Die Friseuse“ haben Sie allein drei Filme gemacht, die nach Berufen benannt sind und tatsächlich auch eine Menge über diese Berufe erzählen. Wieso ist die Arbeit ein so zentrales Thema bei Ihnen?

 

Stieler: Alle drei Filme haben mit realen Figuren zu tun, also „Die Polizistin“ mit Annegret Held, deren Buch „Meine Nachtgestalten“ im weitesten Sinne Pate stand für dieses Projekt. Da habe ich lange bei der Polizei recherchiert, ebenso bei der „Friseuse“. Da habe ich eine Woche im Salon meiner Friseurin Kathleen Cieplik, na ja, gearbeitet ist jetzt zu viel gesagt, aber zumindest die Haare aufgefegt, und dabei die Mädels dort und natürlich auch sie selbst befragt. Und bei der „Lehrerin“: Ich habe mehrere Freundinnen, die Lehrerinnen sind, bei denen ich hospitieren durfte. Und ich habe es tatsächlich geschafft, eine Frau, die damals den Amoklauf in Winnenden überstanden hat, zu einem Gespräch zu bekommen. Wenn ich daran denke, kriege ich immer noch eine Gänsehaut, weil das so mutig war von der jungen Frau, die anonym bleiben wollte und das bisher auch geschafft hat, sich mir so auszuliefern und mir zu erzählen, wie es ihr ging während des Amoklaufs und danach. Wenn man solche Partner hat, das trägt. Deren Details und Erlebnisse bringe ich gerne ein, sie machen Geschichten lebensecht. Und natürlich denke ich auch so ganz sozialistisch-realistisch, dass die Arbeit den Menschen unendlich prägt, das ist ja bei mir auch so.

Screenshot: Die Polizistin (2001). © ARD/ Westdeutsche Universum Film
Stielers Film „Die Polizistin“ steht nicht nur dadurch in einer Tradition zum DEFA-Film, dass er den Arbeitsalltag seiner Titelheldin (Gabriela Maria Schmeide) in den Mittelpunkt stellt, sondern auch dadurch, dass das von der Polizistin Anne aufgesuchte, sich bis aufs Blut streitende Ehepaar von den Schauspielern Katrin Saß und Martin Seifert verkörpert wird. Die beiden Schauspieler sind in dieser Konstellation und einer sehr ähnlichen Rolle schließlich bereits in Heiner Carows DEFA-Film „Bis dass der Tod euch scheidet“ zu sehen.

 

„Ich traf so unfassbar – unfassbar – tolle, starke, gastfreundliche Menschen.“

Kokenge: Sie haben Ihre Recherche angesprochen, in der Sie sich oft reale Vorbilder für Ihre Figuren suchen. Wie gehen Sie mit der Verantwortung um, den echten Personen, die man kennengelernt hat, mit den Figuren, die man erschafft, gerecht werden zu wollen?

 

Stieler: Ja, das ist immer wieder neu, das hängt von den Menschen ab, um die es geht. Ich habe bei der Recherche zu meinen Filmen rundherum großartige Menschen kennengelernt. Mein Vater, Winfried Junge, sagte in meiner Kindheit immer wieder: „Jede Biografie kann erzählt werden. Jeder Lebenslauf ist es wert, erzählt zu werden. Jedes Leben ist interessant.“ Das ist ein schönes Motto, finde ich. Sobald du anfängst, in ein Leben hineinzugucken, fächert sich eine Welt vor dir auf. Es ist nicht immer leicht, auf Menschen zuzugehen, es ist nicht so, dass ich so „hoppla“ ankomme und die Leute dann ausfrage. Manchmal muss man ja auch an schmerzhafte Dinge kommen, sehr oft sogar. Ich bin da eher scheu, aber auf der anderen Seite auch neugierig. Und ich erinnere mich noch, dass ich bei dem Film über die NSU-Opfer Angst hatte, den Angehörigen der Mordopfer zu begegnen. Ich habe mich gefragt: Wie gehe ich mit den Menschen um, die so Schweres hinter sich haben? Ich traf so unfassbar – unfassbar – tolle, starke, gastfreundliche Menschen, Semiya Şimşek, ihre Mutter, auch ihren Onkel, großartige Leute. Dafür bin ich immer noch dankbar. Natürlich habe ich dann auch die Verpflichtung, ihnen gerecht zu werden, aber das ist ja auch ein Ansporn. Vielleicht brauche ich deshalb hin und wieder einen Tag länger beim Schreiben, denn schließlich musst du die realen Menschen dann doch hinter dir lassen und zu deiner eigenen Vision von Figuren und Geschichten finden.

 

Kokenge: Bei der NSU-Trilogie hat es mich damals nicht gewundert, dass Sie den Film über die Opfer schreiben, als ich las, dass die Teile „Die Täter“, „Die Opfer“ und „Die Ermittler“ heißen werden. Dennoch habe ich mich gefragt, wie Sie wohl die Täter*innen erzählt hätten. Die meisten Ihrer Figuren bieten schließlich ein hohes Identifikationspotenzial. Ist es Ihnen wichtig, dass Sie sich mit den Protagonist*innen, die Sie in Ihren Büchern erschaffen, identifizieren können?

 

Stieler (lacht): Klar, das ist mir natürlich wichtig. Also da hätte ich schon ein bisschen suchen müssen bei den Tätern, um für mich einen Anknüpfungspunkt zu finden. Wahrscheinlich hätte ich ihn an den Wendepunkten gesucht, Entscheidungsmöglichkeiten aufgezeigt, sodass man immer wieder hätte hoffen können: „Oh nee, mach's nicht, mach's nicht, geh nicht in diese Richtung.“ Und dann tun sie es doch.

 

Kokenge: Das heißt, Sie hätten auch bei den Tätern einen Identifikationspunkt gesucht?

 

Stieler: Vermutlich ja, ich weiß nicht, ob ich damit erfolgreich gewesen wäre. Wahrscheinlich nicht. Der Film über die Täter*innen ist ja ein schöner Film geworden, so wie er ist, sehr zurückhaltend in den Wertungen.

Aber nebenbei gesagt ist auch das Erzählen über Opfer keine dankbarere oder leichtere Aufgabe. Zum einen, weil Täter*innen allgemein beliebter sind im Drama und bei den Zuschauern, das kommt von der Tat her, die tun etwas. Wohingegen Opfer erstmal erdulden. Damit identifiziert man sich nicht so gern. Zum anderen gibt es auch bestimmte Erwartungshaltungen an Opfer und wie sie zu sein haben, nämlich duldsam. Umso wichtiger war und ist es für mich, über Opfer zu schreiben, dass sie nicht vergessen werden. Ihnen ein Gesicht zu geben und sie, wenn nötig, auch vom Sockel zu holen.

 

Kokenge: Eine Stasi-Mitarbeit ist ja auch etwas, was oft als Täterschaft inszeniert wird. Bei „Gundermann“ wird sie von Ihnen dagegen eher als verunglückter Idealismus ausgelegt, der überhaupt die meisten Ihrer Figuren auszuzeichnen scheint. Warum sind Ihre Figuren fast alle Idealisten?

 

Stieler: Bei Gundermann war es der pure Idealismus. Das hab ich mir nicht ausgedacht, das kam mir entgegen. Und war zudem ein Motiv, diesen Typ und dessen Biografie für eine Verfilmung auszuwählen. Er ist einer, der Gutes will und dafür Schlechtes in Kauf nimmt. Wie weit geht er dabei? Das ist eine spannende Frage. Schließlich muss es ihm ja auch irgendwann auffallen, in welchem Widerspruch er lebt. Und wie geht er damit um? Generell, was die Fehler der Protagonisten betrifft: Früher wurde ich oft dazu angehalten, Figuren sympathischer zu erzählen, ihnen immer noch ein paar nette Seiten zu geben, und ich habe mich immer dagegen gewehrt, weil ich der Meinung bin, dass die Figuren eigentlich durch ihre Fehler sympathisch werden und nicht dadurch, dass sie irgendwie nett zu Katzen sind.

Screenshot: „Mitten in Deutschland – Die Opfer“ Teil der Webdoku „NSU - rechter Terror damals und heute“ ist eine Koproduktion von BR, DasErste, SWR und WDR unter Federführung des BR. Im ARD-Webdokuteil „Mitten in Deutschland – Die Opfer“ erzählt Laila Stieler die Geschichte von Semiya Şimşek (Almila Bağrıaçık), deren Vater von NSU-Terroristen ermordet wurde. Mit den „Erwartungshaltungen“ an solche Opferfiguren umzugehen und ggf. auch mit ihnen zu brechen, beschreibt die Drehbuchautorin als große Herausforderung.

 

„Dieses Gefühl hatten wir dort, vergessen zu sein, zum einen, und zum anderen, noch so viele Träume zu haben.“

Kokenge: Viele Ihrer Figuren haben ja nicht nur Fehler, sondern zudem eine Ost-Biografie bzw. sind in der DDR sozialisiert worden. Warum sind es immer wieder diese Personen, von denen Sie erzählen?

 

Stieler: Natürlich kann ich über Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich, leichter schreiben als über Menschen, die das eben nicht haben.

 

Kokenge: In einer Doku über Andreas Dresen sagten Sie über Ihren 1992 entstandenen Film „Stilles Land“: „Die Zeit war vielleicht noch nicht reif, einen Film über die Wende zu machen, aber es drängte uns.“ In der Zwischenzeit haben Sie viele Gegenwartsfilme gemacht, in denen Menschen mit ostdeutschen Biografien im Vordergrund standen, in denen die DDR immer wieder am Rande auftauchte. Nun, mehr als ein Vierteljahrhundert später, kommt die Wende in „Gundermann“ noch einmal als zentrales Thema zurück. Hat der Drang, von der Wende und ihren Folgen zu erzählen, also noch immer nicht nachgelassen?

 

Stieler: So eine Erfahrung brennt sich ein in ein Leben. Ich habe den Eindruck, dass sie mich stärker gemacht hat, dass ich erlebt habe, wie es sich anfühlt, wenn die Welt von einem auf den anderen Tag umgekrempelt wird. Ich denke, dass es vielen Leuten, die im Osten sozialisiert sind, ähnlich geht.

 

Kokenge: In „Stilles Land“ inszeniert ein Regisseur 1989 an einem Provinztheater „Warten auf Godot“. Das Stück soll eine Parabel auf die DDR sein, in der sich die Verhältnisse allerdings permanent ändern, was Inszenierung und Proben stark beeinflusst. Wie kam es damals eigentlich zu dieser Idee?

 

Stieler: Das weiß ich nicht mehr ganz genau. Ich erinnere noch, dass wir einen Film schreiben wollten, der mit der Wende zu tun hat, mit unseren Erfahrungen. Und dass wir ein Motiv suchten, dass diese Erfahrungen in eine Kunstform bringen könnte. Wir suchten nach einer Art Mikrokosmos. Und dann kamen wir auf diese Provinztheateridee. So konnten wir unsere Wendeerlebnisse auf eine ganz spezifische Art und Weise spiegeln, aus einer gewissen Distanz, die artifiziell ist wie auch komisch. Wir haben dafür recherchiert in Anklam. Das war ein echtes Erlebnis. Als wir dort ankamen, hatten wir das Gefühl, die Zeit ist stillgestanden, da gab es noch einen Laden, über dem stand „Intershop“. 1992! Wie abgehängt dieses Städtchen wirkte! Später, in „Die Polizistin“, haben wir weiterverarbeitet, wie das ist, wenn man abgehängt wird, als letzter Wagen, ohne Antrieb. Dieses Gefühl hatten wir dort, zum einen, vergessen zu sein, und zum anderen, noch so viele Träume zu haben.

 

Kokenge: In „Die Polizistin“ scheint das Bild des wiedervereinigten Deutschlands deutlich negativer, das Abgehängtsein nicht mehr so humorvoll wie in „Stilles Land“, wo die Hauptdarstellerin des Stücks noch ein Lachen provoziert, wenn sie sich über die erneute Bearbeitung der Stückfassung beklagt und sagt: „[Das] war doch gut mit der Dings da, mit der Ausweglosigkeit“.

 

Stieler: Das ist auch so gemeint. Und man darf natürlich nicht vergessen, dass ein paar Jahre vergangen sind. Wir sind in unserem Film ganz bewusst nicht auf die rechtsextremen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen in den 90er Jahren eingegangen. Aber das schwingt nach und ist eine Facette des Abgehängtseins, was die Polizisten dort erlebt haben müssen. Während wir dort recherchierten, das war einfach nur erschütternd, wie eine Schicht von sechs Leuten mit zwei Autos und einem senilen Computer in einer schäbigen Holzbaracke für einen sozialen Brennpunkt von 200.000 Menschen zuständig war. Das hat natürlich einen traurigeren Grundton vorgegeben. Als wir „Stilles Land“ drehten, waren wir ja selber noch hoffnungsvoller, was unseren Platz in diesem neuen System betrifft und wie es weitergehen wird, bei der „Polizistin“ waren wir desillusionierter. Nichtsdestoweniger ist sie ja genauso wie der Regisseur Kai in „Stilles Land“ eine, die sich etwas bewahrt, er bewahrt sich seinen Traum vom Theater und sie bewahrt sich ihren Traum, an das Gute im Menschen zu glauben.

 

Kokenge: Hat sich ihr Blick auf die DDR und Ostdeutschland im Verlauf ihrer Filme verändert?

 

Stieler: Natürlich. Die DDR ist zwar 1990 Deutschland geworden, aber die Menschen sind ja die gleichen geblieben. Und die haben sich verändert im Laufe der Zeit und demzufolge hat sich auch das Umfeld verändert, die haben ihr Umfeld verändert. Natürlich hat sich auch der Westen verändert, ganz klar, und auch das Miteinanderumgehen. Schönerweise muss ich sagen. Klar werden jetzt vielleicht wieder Gräben sichtbar oder sichtbar gemacht. Aber okay, das finde ich nicht schlimm. Es ist besser, als alles zuzuschütten und darüber zu schweigen. Ich finde es richtig, dass man über Anpassungsprozesse redet. Dass man versucht, offener zu sein, und ich freue mich, wenn Gundermann dazu einen Beitrag geleistet hat.

Screenshot: Stilles Land (1992). © ISKREMAS Filmproduktion Der Regisseur Kai (Thorsten Merten) in „Stilles Land“ bewahre sich „seinen Traum vom Theater“. Die Komödie ist Stielers und Dresens erster Langspielfilm und eine frühe Auseinandersetzung mit der DDR.

 

„Dieses Dazwischen, das finde ich nach wie vor selten.“

Kokenge: In dem Interview, das Sie im Buch zum Gundermann-Film geben, sagen Sie: „Ich habe das Gefühl, dass sich unser Land in eine seltsame Richtung verändert. Da wird dir wieder stark vorgegeben, wie du Dinge zu sehen hast. Und oft sehr vereinfacht“.[6] Was meinen Sie damit und wie würden Sie darauf als Drehbuchautorin reagieren?

 

Stieler: Diese Aussage stand im Zusammenhang mit dem Nachdenken, wie das Thema Stasi im Film erzählt wird. Da wurde ja oft in Gut und Böse unterteilt, und es ist natürlich klar, wer die Bösen waren. Also, dieses Thema wurde meist mit moralischen Kategorien diskutiert. Mehr oder weniger unausgesprochen war dann das Fazit, dass jeder, der im Osten einigermaßen gelebt und nicht nur gelitten hatte, heute mit eingezogenem Kopf rumlaufen müsste. Das hat mich und viele andere geärgert, aber ich wollte auch nicht nur aus der Defensive heraus diskutieren. Mir war wichtig, eine andere Farbe zu setzen und etwas zu erzählen, das meiner Lebenserfahrung entsprach.

Generell fällt mir auf, dass über den Arabischen Frühling oder über Russland oder China immer so eine einhellige Meinung besteht in den Medien. Dass nicht mal versucht wird, die Lebensleistung z. B. eines Assad, Mubarak oder Putin anzuerkennen. Natürlich sind Massaker, Kriege, Bürokratie zu verurteilen, aber auf der anderen Seite muss man doch auch erfassen, mit welcher Problematik diese Männer zu tun hatten, was sie geschafft haben und warum noch so viele Leute hinter ihnen stehen. Aber nein, das können ja nur Verirrte sein! Ich habe schon den Eindruck, dass nachdenklichere Meinungen und ein bisschen Sensibilität im Umgang mit komplexen/schwierigen Themen im Moment nicht gefragt sind.

 

Kokenge: Ein guter Film sollte also differenzierter auf gesellschaftliche Kontroversen reagieren? Was macht ihn darüber hinaus aus?

 

Stieler: Sie sollten sich natürlich nicht langweilen, ich will mich ja auch selber nicht langweilen. Mit den Jahren werde ich da feinnerviger. Ich will mich nicht wiederholen oder Dinge schreiben, die eigentlich längst bekannt sind, da bin ich empfindlich. Ich bin nach wie vor erstaunt – und das ist auch verbunden mit meinem „Wendeschock“ –, dass es immer noch „U“ und „E“ gibt, dass man unterscheiden kann zwischen „unterhaltsam“ und „ernst“. Es zieht sich nach wie vor durch die nunmehr gesamtdeutsche Filmgeschichte, dass es die einen Filme gibt, wo man sich auf die Schenkel klopft, und die anderen, wo man sehr erschüttert sein muss. Dieses Dazwischen – ernste Filme mit ernsten Themen, die gleichzeitig unterhaltsam sind – ist nach wie vor selten, vielleicht auch schwer herzustellen. Aber das finde ich wichtiger als alles andere. 

 

Kokenge: Ist also die Tragikomödie eine Form, die Sie sich viel häufiger wünschen würden?

 

Stieler: Die Tragikomödie ist eine Form dafür, meine Form. Es gibt ja auch andere Formen z. B. den Western oder den Krimi, sofern er nicht nur den 123.000sten Toten erzählt, sondern auch etwas gesellschaftlich Relevantes. Davon wünsche ich mir mehr. Filme, die unterhaltsam sind, spannend, vielleicht auch komisch, die etwas zu sagen haben, oder Fragen aufwerfen und nicht auf alles eine Antwort haben.

 

Kokenge: Filme als Denkanstöße, vielleicht auch als Gesprächsanstöße?

 

Stieler: Naja, das ist ja immer schön. Ich meine, früher, als wir studiert haben, sind wir angetreten und wollten die Welt verändern. Da haben wir jetzt schon Abstriche gemacht, nicht? Man freut sich, wenn Leute über die Filme reden, die man gemacht hat.

 

Kokenge: Gibt es denn auch ein Projekt oder eine Figur, auf das bzw. auf die Sie besonders stolz sind?

 

Stieler: Naja, ich bin schon stolz auf Gundermann. Und nicht nur Gundermann. Eigentlich bin ich total stolz auf Conny. Ich habe die Conny-Figur so gern gehabt.

 

Kokenge: Was sicherlich auch wieder mit Ihrer Arbeitsweise, den vielen Gesprächen, die Sie mit der echten Conny geführt haben, zusammenhängt?

 

Stieler: Ja, ganz sicher. Die ist mir so ans Herz gewachsen.

 



Laila Stieler arbeitet momentan an einem neuen Projekt mit Andreas Dresen und schreibt zudem an ihrer ersten Serie. Ihr letzter Film „Gundermann“ gewann 6 deutsche Filmpreise und steht derzeit auf der Vorauswahl-Liste für den Europäischen Filmpreis. Zu sehen ist er außerdem auf dem Streamingdienst Netflix.

 

Anna Kokenge hat Laila Stielers Masterclass auf dem Moving History Festival besucht und sie am 2. Oktober telefonisch für uns interviewt.

 

 


[1] Gabriela Maria Schmeide (im Gespräch mit Knut Elstermann): Die Heimat Bautzen bleibt im Herzen, in: MDR Kultur Café, 14.07.2019, (zuletzt abgerufen am 7.11.2019).

[2] Abini Zöllner: Waschen, schneiden, leben: „Die Friseuse“ erzählt eine Geschichte der Selbstbehauptung, in: Berliner Zeitung, 18.02.2010, (zuletzt abgerufen am 7.11.2019).

[3] Maxi Leinkauf: „Ich frage mich: Was ist normal am Leben?“, in: Der Freitag, 21.08.2018, (zuletzt abgerufen am 7.11.2019).

[4] Andreas Dresen: Der falsche Kino-Osten, in: Die Zeit, 16.04.2009, (zuletzt abgerufen am 7.11.2019).

[5] O. V.: Gundermann. Presseheft, 2018, S. 27, (zuletzt abgerufen am 7.11.2019).

[6] Laila Stieler (im Gespräch mit Maxi Leinkauf): Meine Reue kriegt ihr nicht, in: Andreas Leusink (Hrsg.): Gundermann. Von jedem Tag will ich was haben, was ich nicht vergesse. Briefe, Dokumente, Interviews, Erinnerungen, Berlin 2018, S. 109-121, hier S. 121.