Die Geschichte des Päckchen- und Paketverkehrs zwischen Ost- und Westdeutschland ist eine Geschichte des Zusammengehörigkeitsgefühls der Menschen auf beiden Seiten. Denn Briefe, Päckchen und Pakete waren die wichtigste Möglichkeit, um den Kontakt mit Verwandten und Bekannten aufrechtzuhalten. Doch der Austausch von Geschenksendungen ist ebenfalls eng verbunden mit der Freude und der Enttäuschung über den jeweiligen Inhalt der Pakete. Denn durch den Versand entstanden nicht zuletzt Vorstellungen über das Leben im jeweils anderen Teil Deutschlands, die sich tief in den Köpfen der Menschen verankerten.[1]
Der folgende Beitrag fasst Erkenntnisse aus der 2018 im Campus-Verlag veröffentlichten Dissertation „Eine große Freude? Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949-1989)“ zusammen. Auf einen Zeitzeug*innenaufruf der Autorin zum Thema des Päckchen- und Paketverkehrs zwischen der DDR und der Bundesrepublik meldeten sich mehr als 500 Personen. Auf Basis der Rückmeldungen wurden drei Untersuchungskohorten gebildet: A) die Jahrgänge der um die 1930er-Jahre Geborenen, die Deutschland als Ganzes erlebten und sich diesem verpflichtet fühlten. Diese Menschen waren unmittelbar nach dem Krieg die ersten Päckchenversender. B) Die um 1949 sowie Anfang bis Mitte der 1950er-Jahre Geborenen, sie waren die ersten Jahrgänge, die ausschließlich in der Bundesrepublik oder DDR sozialisiert wurden. C) Auf beiden Seiten gehörten für die in den 1960er-Jahren geborenen Menschen die Teilung Deutschlands und „die Mauer“ zum Alltag. Mit dem Transitabkommen Anfang der 1970er-Jahre und der Möglichkeit, das „andere Deutschland“ kennenzulernen, erfolgte, wenn auch nur im Rahmen strenger Vorschriften, eine erste Annäherung. Diesen Sozialisationserfahrungen wurden die Jahrgänge 1959 bis 1971 zugeordnet.
In das Sample wurden pro Kohorte zwölf Personen aufgenommen. Da es dem Anspruch dieses Projekts entsprach, Ost- und Westdeutschland gleichbedeutend in die Analyse einzubeziehen, wurde insgesamt eine Balance zwischen Ost- und Westpaketversender*innen angestrebt. Bei den Interviews handelte es sich um thematische Interviews mit einem Fokus auf den Paketversand, welche die Zeitzeug*innen je nach Erinnerung mit ihren biografischen Beschreibungen ergänzten. Für die Untersuchung wurden neben archivarischen Quellen aus Bundes- und Stasi-Unterlagen-Archiv ebenfalls umfangreiche Briefwechsel zwischen Ost- und Westdeutschland des Museums für Post und Telekommunikation ausgewertet.
Mit der deutschen Wiedervereinigung und der nicht mehr vorhandenen Notwendigkeit des Geschenkpaketversands wurden die Rollen, der Ostdeutschen als „Nehmende“[2] und der Westdeutschen als „Gebende“[3] neu verhandelt. Die Situation im Verlauf der Teilung mit ihren stereotypen Zuschreibungen[4], hatte die zwischenmenschlichen Beziehungen – anders als von vielen erwartet – vereinfacht und sogar dazu beigetragen, dass diese im Vergleich zu der Zeit vor der Teilung herzlicher und intensiver waren. Doch die Wiedervereinigung wurde in vieler Hinsicht zur Belastungsprobe für die zwischenmenschlichen Ost-West-Beziehungen[5], denn für die Versender*innen dies- und jenseits der Grenze hatte der Versand jeweils unterschiedliche Bedeutungen.[6] Auf dem Prüfstand war dabei nicht nur der versandte Inhalt, der nach der Wende zum Diskussionsgegenstand wurde. Vor allem die unterschiedlichen Meinungen, ob die Pakete eine milde Gabe seien, die keiner Erwiderung bedurften – weil die Menschen im Osten als arm galten – oder ob die Päckchen als beiderseitiges Interesse am gegenseitigen Kontakt verstanden wurden, führte zu Missverständnissen.[7]
Viele Zeitzeug*innen berichten, dass es eine ganz praktische Konsequenz der Wiedervereinigung war, sich mithilfe ihrer Ersparnisse und ohne lange Wartezeit die Produkte ihrer Wahl kaufen zu können.[8] Doch die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland irritierte dies.[9] Es ließ sie an der über die Jahre hinweg immer wieder postulierten Bedürftigkeit zweifeln und die erbrachte Unterstützung grundsätzlich in Frage stellen.[10] Dass die Sparguthaben der Verwandten und Bekannten während der letzten Jahre der DDR erheblich angewachsen waren, weil die gewünschten Produkte nicht oder nur mit langen Wartezeiten zu erwerben waren, schien im Westen nicht bekannt zu sein. Nicht selten kam es vor, dass die Westpaketversender*innen den Menschen im Osten vorwarfen, nicht dankbar genug gewesen zu sein, und die Kosten und Mühen, die der Versand über die Jahre der Teilung hinweg bedeutet hatte, nicht adäquat zu würdigen.[11]
Ein Teil der Paketempfänger*innen im Osten dagegen war überrascht, wie preisgünstig die Produkte waren, über die sie sich all die Jahre gefreut hatten.[12] Die Tatsache, dass nicht wenige Produkte von Discountern stammten, empfanden sie als eine Herabwürdigung ihrer Person.[13] Das Bild des „reichen Westdeutschen“[14] war so präsent, dass die Interviewpartner*innen ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass auch der Inhalt der Pakete entsprechend hochpreisig war. Überraschend erscheint, dass sich die Freude der Empfänger*innen über den Inhalt der Päckchen – die damals, wie viele bestätigten, ganz ohne Frage vorhanden war – durch das Wissen über die Preise schmälerte.
Es lassen sich verschiedene Aspekte herauskristallisieren, die auf die Beziehungen der Paketversender*innen über das Jahr 1990 hinaus Einfluss hatten. Ein wichtiger Punkt ist das generationelle Verhältnis der Versender*innen und Empfänger*innen zueinander. So erwiesen sich jene Beziehungen als tragfähiger, bei denen sich Menschen ähnlichen Alters mit Geschenksendungen bedachten.[15] Diese konnten sich trotz ihres Lebens im jeweils anderen Teil Deutschlands, da sie ähnlichen Lebenssituationen hatten, eher über die für sie relevanten Themen austauschen.[16] Bereits generationelle Unterschiede erschwerten den Austausch und der neu erlebte Alltag erschien – verstärkt durch die ungleichen Erfahrungen nach der Wiedervereinigung – nicht mehr überbrückbar.[17] Beeinflusst wird dieser Aspekt des generationellen Verhältnisses durch das Geburtsjahr und die damit einhergehende Sozialisation der Menschen in beiden Teilen Deutschlands. Je später die Sozialisation erfolgte, desto stärker schienen sich die jeweiligen Selbst- und Fremdbilder verfestigt zu haben und desto mehr Schwierigkeiten brachte die Auflösung eben dieser Vorstellungen bzw. deren Neuaushandlung.[18] Auch die räumliche Entfernung zwischen Versender*innen und Empfänger*innen spielte eine Rolle dabei, wie sich der Versand nach der Wende gestaltete, das heißt, ob noch während der Zeit der Teilung die Chance für gegenseitige Besuche und somit auf einen lebendigen Eindruck vom Alltag des Gegenübers bestand.[19]
Einerseits half der Versand, den Kontakt zwischen Verwandten und Bekannten aufrechtzuerhalten. Andererseits trug er dazu bei, die Vorstellungen vom jeweils anderen Deutschland zu bestätigen. Jedes Westpaket, dass gefüllt war mit teilweise exotisch anmutenden Lebensmitteln[20] und Produkten, deren bunte Verpackung[21] die Empfänger*innen schon „entzückten und auf kostbaren Inhalt“[22] schließen ließ, verstärkte den Eindruck, dass das Leben in der Bundesrepublik dem im „Schlaraffenland“[23] gleichen müsse. Dort schien kein Mangel zu herrschen, alles stand allen jederzeit zur Verfügung. Dass in diesem „Schlaraffenland“ die Lebenshaltungskosten[24] um einiges höher waren und so zwar die Produkte grundsätzlich erworben werden konnten[25], aber eben nur, wenn die finanziellen Mittel hierfür auch zu Verfügung standen, war den meisten ostdeutschen Empfänger*innen nicht bewusst.[26] Es wurde auch von westdeutscher Seite nur selten kommuniziert, entweder der Prämisse folgend, dass über Geld nicht gesprochen werde, oder weil davon ausgegangen wurde, dass dies den Empfänger*innen bewusst sei.[27]
Doch auch die Ostpakete bestätigten den Westdeutschen ihre jeweiligen Vorstellungen vom Leben der „armen“ DDR-Verwandten und Bekannten. Denn den Gegenständen wohnte kein „Zauber“ inne und sie erfüllten auch keine lang gehegten Wünsche[28] – konnte der Inhalt doch grundsätzlich auch in der Bundesrepublik erworben werden.[29] Dennoch wurde die Absicht der ostdeutschen Versender*innen, sich mit den Paketen revanchieren zu wollen, anerkannt und geschätzt. Gleichzeitig verwiesen Empfänger*innen darauf, dass es dieses Dankes nicht bedürfe, zumeist versehen mit der Begründung, dass sie sich die Gegenstände ohnehin selbst kaufen könnten und sich die Verwandten und Bekannten die finanzielle Belastung nicht weiter zumuten sollten – ein oft gut gemeinter Hinweis, der den „armen Brüdern und Schwestern“[30] das Leben erleichtern sollte. Dass dies die Rolle der Westdeutschen als „Gebende“ und die der Ostdeutschen als „Nehmende“ zementierte und die Schieflage in den persönlichen Beziehungen weiter ausbaute, war den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland nicht bewusst, den Menschen im Osten hingegen sehr wohl.
Der immer wieder sowohl von den Bundesregierungen als auch von der DDR-Führung aufgestellten Behauptung, dass der innerdeutsche Austausch von Geschenksendungen den Kontakt zwischen den Menschen aufrechterhalten würde, lässt sich nur bedingt zustimmen. Der Austausch von Paketen trug zwar dazu bei, Beziehungen zu pflegen, jedoch vor allem bei jenen, die ohnehin Kontakte in den jeweils anderen Teil Deutschlands hatten. Die Dauer der Teilung trug zur Entfremdung bei, da durch den Generationenwechselauf beiden Seiten Versender*innen und Empfänger*innen keine engen Beziehungen mehr zueinander hatten.[31] Registrierte Versandzahlen[32] und die bloße Aufrechterhaltung der Kontakte sagen zudem wenig über die Intensität der Kommunikation aus.[33] Oft wurde aus Gewohnheit am Versand festgehalten, vertieft haben sich die persönlichen Beziehungen dennoch nicht. Bei den interviewten Zeitzeug*innen im vereinten Deutschland erhielten Versand und Empfang sowohl im Osten als auch im Westen, trotz der Dankbarkeit und der Mühen, die er hervorgerufen hatte, eine negative Bedeutung. Dennoch – dies muss mit allem Nachdruck festhalten werden – blieben die Versender*innen und Empfänger*innen durch den Kommunikationsraum des Paketversands aufeinander bezogen und der Kontakt zwischen den Menschen in Ost- und Westdeutschland blieb bestehen.[34]
[1]Kabus, Petra: Liebesgaben für die Zone: Paketkampagnen und Kalter Krieg, in: Härtel, Christian/Kabus, Petra (Hg.): Das Westpaket: Geschenksendung, keine Handelsware, Berlin 2000, S.121.
[2]Interview Frau Bleck (Jg. 1923) am 8. Dezember 2014, 01:07:35.
[3]Interview Frau Winterfeld (Jg. 1934) am 04. Februar 2015; 01:02:41.
[4] Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR (= alltag&kultur, Bd. 6), Köln 1999, S. 289.
[5]Interview Frau Kirchheim (Jg.1971) am 13. März 2015, 00:34:51.
[6]Interview Frau Lindner (Jg. 1863) am 26. Februar 2015, 00:13:30.
[7]Interview Frau Kirchheim am 13. März 2015, 00:38:01.
[8]Interview Herr Fleming (Jg. 1954) am 11. Dezember 2014, 00:53:17.
[9]Interview Frau Plate (Jg. 1929) am 27. November 2014, 00:33:30.
[10]Interview Herr Behrendt (Jg. 1955) am 18. März 2015, 00:00:19.
[11]Interview Herr Knechtel (Jg. 1958) am 4. Dezember 2014, 00:56:01.
[12]Interview Herr Behrendt am 18. März 2015, 01:23:50.
[13]Interview Herr Baumgärtner am 11. März 2015, 00:48:30.
[14]Interview Frau Feldkamp (Jg. 1929) am 3. Dezember 2014, 00:25:16.
[15] Interview Frau Nolte (Jg. 1959) am 15. April 2015, 00:48:46.
[16]Interview Frau Gößler (Jg. 1927) am 18. Dezember 2014, 00:03:11.
[17]Interview Frau Bleck am 8. Dezember 2014, 00:44:35.
[18]Interview Herr Seifert (Jg. 1935) am 7. Mai 2015, 00:40:27.
[19]Interview Frau Bleck am 8. Dezember 2014, 00:57:18.
[20]Ilgen, CARE-Paket & Co. Von der Liebesgabe zum Westpaket, S. 91.
[21]Interview Frau Lilienfeld (Jg.1929) am 26. Februar 2015, 00:27:42.
[22]Interview Frau Lindner (Jg. 1963) am 26. Februar 2015, 00:53:02.
[23]Interview Herr Behrendt am 18. März 2015, 00:07:01.
[24]Interview Frau Förster (Jg.1934) am 5. Februar 2015, 01:11:50.
[25]Familie M. an Familie K. am 19.04.1980; Museumsstiftung für Post und Telekommunikation, 3.2011.410.
[26]Interview Frau Plate am 27. November 2014, 00:42:40.
[27]Interview Frau Walter (Jg. 1955) am 28. November 2014, 00:35:20.
[28]Interview Frau Dilling (Jg. 1947) am 17. Februar 2015, 00:25:20.
[29]Interview Frau Förster am 5. Februar 2015, 00:04:33.
[30]Interview Frau Feldkamp (Jg.1929) am 3. Dezember 2014, 02:17:28.
[31]BArch Koblenz, B 141/37379, unpag.
[32] Insgesamt wurden ca. 40 Millionen Päckchen und Pakete zwischen Ost- und Westdeutschland während der Zeit der Teilung ausgetauscht.
[33]BArch Koblenz, B 141/37379, unpag.
[34] Gries, Rainer: Perspektiven einer Historiographie deutsch-deutscher Kommunikationsräume, in: Ahbe, Thomas; Gries, Rainer; Schmale, Wolfgang: Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipzig 2009, S. 31.